HOME

<< Zurück
|
Vorwärts >>

[Das Gericht vertagt sich bis

11. Juni 1946, 10.00 Uhr.]

Einhundertzweiundfünfzigster Tag.

Dienstag, 11. Juni 1946.

Vormittagssitzung.

[Der Angeklagte Dr. Seyß-Inquart im Zeugenstand.]

MR. THOMAS J. DODD, ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Herr Vorsitzender! Ich möchte die Angelegenheit aufklären, die ich gestern im Zusammenhang mit den Aufzeichnungen über die Besprechung zwischen diesem Angeklagten und Hitler zur Sprache gebracht habe. Ich habe eine Untersuchung anstellen lassen und glaube, folgende Tatsachen feststellen zu können: Der Angeklagte hatte anscheinend Oberst Williams, von dem er Ende Oktober verhört wurde, diese Aufzeichnungen übergeben. Sie sind jedoch niemals in unsere Akten gelangt, sondern wurden verlegt. Der Angeklagte hatte also ganz recht, wenn er sagte, daß er sie übergeben habe, er irrt sich jedoch, wenn er behauptete, daß er sie mir ausgehändigt habe.

DR. GUSTAV STEINBAUER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN SEYSS-INQUART: Wir sind gestern bei einem der wichtigsten Anklagepunkte stehengeblieben, bei der Frage der Evakuierung der Juden aus den Niederlanden.

Herr Zeuge! Was haben Sie getan, als Sie von diesen Entfernungen der Juden aus den Niederlanden erfuhren? Haben Sie irgendwelche Briefe geschrieben?

ARTHUR SEYSS-INQUART: Ich habe gestern dargelegt, daß ich veranlaßt habe, Leute aus den Niederlanden in das mir angegebene Lager Auschwitz zu senden, um festzustellen, ob und welche Unterbringungsmöglichkeiten gegeben sind. Ich habe das Ergebnis dieser Besuche mitgeteilt.

Ich habe bei der Sicherheitspolizei beziehungsweise Heydrich gefragt, ob es nicht möglich wäre, daß die evakuierten Juden in einem Briefverkehr mit den Niederlanden bleiben. Es wurde mir konzediert; etwa ein Dreivierteljahr oder ein Jahr lang ist so ein Briefverkehr gewesen, und zwar nicht nur kurze Karten, sondern ausführliche Briefe. Wie die Lagerverwaltung das gemacht hat, weiß ich nicht; aber die Briefe wurden von den Adressaten identifiziert als echt. Als später der Briefverkehr schwächer wurde – er hat nie ganz aufgehört – sagte mir die Sicherheitspolizei, daß die Juden in Auschwitz nunmehr wenig Bekannte in den Niederlanden haben, worunter andere Juden zu verstehen waren, weil die Mehrzahl bereits in Auschwitz sei.

DR. STEINBAUER: Sagen Sie, Herr Zeuge, haben Sie sich auch an Bormann gewandt?

SEYSS-INQUART: Ich habe gestern dargelegt, daß ich mich nach Kenntnisnahme des Befehls Heydrichs an Bormann gewandt habe, um beim Führer zu fragen, ob Heydrich tatsächlich solche Vollmachten habe. Bormann hat dies bestätigt. Ich gebe offen zu, daß ich Bedenken gegen die Evakuierung hatte.

DR. STEINBAUER: Haben Sie, um diese Bedenken zu zerstreuen, irgend etwas unternommen?

SEYSS-INQUART: Meine Bedenken gingen dahin, und sie steigerten sich im Laufe der Kriegsentwicklung, daß wahrscheinlich die Schwere des Krieges vor allem auf den Juden lasten werde. Wenn im Reich zu wenig Lebensmittel sind, so werden vor allem die Judenlager wenig bekommen, und wahrscheinlich wird deren Behandlung auch streng sein und verhältnismäßig geringfügige Anlässe benützt werden zur Verhängung schwerer Strafen.

Selbstverständlich dachte ich auch an ein unvermeidliches Auseinanderreißen der Familien, wenigstens zum Teil, im Falle des Arbeitseinsatzes. Das war auch der Grund, warum wir drei bis vier Monate Widerstand geleistet haben.

Das durchschlagende Argument war die Erklärung der zuständigen Behörde, der Sicherheitspolizei, im Falle eines zu erwartenden Landungsversuchs die Juden nicht im unmittelbaren Kampfgebiet zu haben.

Ich bitte, bei allem zu berücksichtigen, daß für mich der wichtigste und entscheidende Beweggrund immer war, daß sich das deutsche Volk in einem Kampf auf Leben und Tod befindet. Heute sehen die Dinge anders aus in ihrer tatsächlichen Auswirkung.

Wenn man sich damals gesagt hat, die Juden werden in irgendeinem Lager beisammengehalten, wenn auch vielleicht unter schwierigen Bedingungen, sie werden aber nach Kriegsende wieder irgendwo eine Siedlung finden, so traten diese Bedenken zurück gegenüber der Vorstellung, daß ihre Anwesenheit im Kampfgebiet die deutsche Widerstandskraft schwächen könnte.

Ich habe im Laufe des Jahres 1943 mit Hitler gesprochen und ihn auf dieses Problem in den Niederlanden aufmerksam gemacht. Er hat mir damals in der ihm eigenen überzeugenden Weise versichert, – allerdings gleichzeitig zugegeben, daß er an eine dauernde Evakuierung der Juden denke, wenn er könne, im ganzen europäischen Bereich, mit dem Deutschland in freundschaftlicher Beziehung stehen wolle – er wolle dafür sorgen, daß die Juden an der Ostgrenze des deutschen Interessengebietes angesiedelt werden, sofern sie nicht überhaupt in andere Erdteile auswandern können.

Ich habe Anfang 1944 mit Himmler gesprochen, den ich gelegentlich in Südbayern getroffen habe. Ich fragte ihn dezidiert, was mit den niederländischen Juden sei; dadurch daß unsere Ostfront zurückgehe, werden die Lager ja in das Kampfgebiet fallen mit der Zeit oder wenigstens in die Etappe, und ich war besorgt, daß dann das Schicksal der Juden ein noch schwereres werde. Himmler sagte mir ungefähr, »machen Sie sich keine Sorgen, es sind ja meine besten Arbeiter«. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß auf der einen Seite die arbeitsfähigen Juden arbeiten, wenn auf der anderen Seite ihre Angehörigen vernichtet sind. Ich glaubte, daß man in eitlem solchen Falle nur damit rechnen könnte, daß jeder Jude einem Deutschen an die Gurgel springt und ihn erwürgt.

DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! Sie haben also von diesen Evakuierungen erfahren? Haben Sie bei denselben in Ihrer Eigenschaft als Reichskommissar durch Ihre Verwaltung mitgewirkt?

SEYSS-INQUART: Da die Evakuierung eine Tatsache war, habe ich es für richtig gehalten, mich um dieselbe soweit zu kümmern, als mir dies als Reichskommissar möglich war. Ich habe meinem Beauftragten von Amsterdam, Dr. Böhmke, die Vollmacht gegeben, die Durchführung der Evakuierung zu überwachen, einzuschreiten, wenn Exzesse über unvermeidliche Schwierigkeiten hinaus vorkommen, beziehungsweise mir zu berichten. Dr. Böhmke hat in einem ständigen Kampf mit der sogenannten Zentralstelle für jüdische Auswanderung gestanden. Wir mußten immer wieder eingreifen, aber ich bin überzeugt, daß wir alle Härten nicht abgestellt haben. Die Juden wurden im Lager Westerborg gesammelt. Als die ersten Transporte abgingen, bekam ich die Meldung, daß die Züge überfüllt seien. Ich habe dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei energisch vorgehalten, für einen ordentlichen Abtransport zu sorgen, und der niederländische Bericht stellt auch fest, daß im Antang der Abtransport unter tragbaren Verhältnissen erfolgte. Später wurden die Verhältnisse im allgemeinen schwieriger. Daß aber derartige Überfüllungen der Züge vorkamen, wie in dem Bericht gemeldet ist, ist mir nicht bekanntgeworden. Allerdings hat die Sicherheitspolizei große Schwierigkeiten gemacht, die Durchführung dieser Maßnahmen kontrollieren zu lassen. Auf Ersuchen einiger niederländischer Generalsekretäre, besonders Generalsekretär van Damm und Fröhlich, habe ich für eine Anzahl von Juden eine Ausnahme erwirkt. Ausnahmen im einzelnen konnte man erwirken, an der grundsätzlichen Maßnahme war nichts zu ändern. Ich glaube, die Zahl der Ausnahmen ist größer, als in den niederländischen Berichten angegeben, wenigstens nach meinen Meldungen. Diese Juden waren zuletzt im Lager Westerborg. Als die Invasion begann, wollte Himmler sie abtransportieren. Dies unterblieb über meinen Einspruch. Nach der Schlacht von Arnhem hat er sie aber weggeführt, wie er sagte nach Theresienstadt, und ich hoffe, daß sie dort am Leben geblieben sind.

DR. STEINBAUER: Haben Sie auch Vermögen freigegeben aus diesem Anlaß?

SEYSS-INQUART: Diese mit einer Ausnahme bedachten Juden haben ihre Vermögensverwaltung behalten.

DR. STEINBAUER: Ich möchte zum Abschluß dieses Kapitels noch einmal die Aufmerksamkeit des Hohen Gerichts auf die Urkunde 1726-PS, US-195 im Dokumentenbuch der Staatsanwaltschaft, verweisen. Diese Urkunde bringt eine Zusammenfassung des gesamten Judenproblems in den Niederlanden und auf Seite 6 eine Zusammenstellung aller jener Stellen, die sich mit dem Judenproblem beschäftigt haben. Sie werden unter Ziffer 3 finden den Generalkommissar für das Sicherheitswesen, Höherer SS- und Polizeiführer H. Rauter, General der Polizei; und unter Ziffer 4 die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, Leiter Aus der Funte, unter dem Generalkommissar, wie unter 3.

Der Bericht sagt dazu:

»Scheinbar eine Organisation für jüdische Auswande rung, in Wirklichkeit eine Stelle, um die Juden ihrer Rechte zu berauben, sie abzusondern oder zu deportieren.«

Dies war die wichtigste Stelle, die direkt dem Höheren Polizeiführer Himmler unterstand und nicht dem Angeklagten.

SEYSS-INQUART: Ich möchte bemerken, daß Rauter in diesem Falle als Höherer SS- und Polizeiführer funktionierte und nicht als Generalkommissar für das Sicherheitswesen, denn die Maßnahmen wurden durch die deutsche Polizei und nicht durch die niederländische Polizei durchgeführt.

DR. STEINBAUER: Der Zeuge hat auch einmal in einer Rede zum Judenproblem Stellung genommen, die Staatsanwaltschaft hat einen Teil dieser Rede gebracht.

DER VORSITZENDE LORD JUSTICE SIR GEOFFREY LAWRENCE: Dr. Steinbauer! Sie halten dem Zeugen das Dokument 1726-PS vor, welches scheinbar eine historische Feststellung der Tatsachen enthält.

Angeklagter, geben Sie zu, daß diese historische Feststellung richtig ist?

SEYSS-INQUART: Darf ich das Dokument sehen?