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[Pause von 10 Minuten.]

DR. STEINBAUER: In dem Regierungsbericht wird behauptet, daß damals 50000 Holländer durch Hunger gestorben sind. Ich möchte daher fragen, welche Gründe haben Sie für dieses Verkehrs-Embargo damals gehabt?

SEYSS-INQUART: Ich glaube, daß ich das Wesentliche auseinandergesetzt habe. Die Verkehrslage war so, daß die Wehrmacht sich ihren Schiffsraum sichern mußte. Solange sie das macht, ist ein Schiffsverkehr an sich unmöglich. Ich wollte es auf eine möglichst kurze Zeit beschränken, damit dann nachher ein gesicherter Schiffsverkehr möglich würde und daher auch eine Versorgung Hollands mit Lebensmitteln gesichert vor sich gehen konnte. Praktisch war der Schiffsverkehr nicht erst durch mein Embargo unterbrochen, sondern, die Zeugen bestätigen es, durch die Tatsache der Beschlagnahme aller irgendwo erreichbaren Schiffe. Ich habe mir natürlich die Frage vorgelegt, ob die holländische Ernährung gefährdet wird, wobei ich mir allerdings gesagt habe, daß die Holländer sich selbst in den Notstand gebracht haben, die militärischen Interessen des Reiches jedoch ebenso wichtig sind. Ich habe mir gesagt, wenn ich in der zweiten Hälfte des Oktober einen geordneten Schiffsverkehr einführen kann, habe ich nach meinen Erfahrungen zwei Monate Zeit zur Versorgung Hollands. Da kann ich 200000 bis 250000 Tonnen Lebensmittel hinüberbringen. Das genügt, um Rationen von 1400 bis 1800 Kalorien zu erhalten. Ich glaube, mich erinnern zu können, zwischen dem 15. und 20. Oktober den Befehl gegeben zu haben, wieder die Schiffahrt in Gang zu bringen.

DR. STEINBAUER: Was haben Sie nun veranlaßt?

SEYSS-INQUART: Die Schiffahrt kam nicht in Gang, weil die niederländischen Verkehrsbehörden zum größten Teil untergetaucht sind, vielleicht aus Angst, daß man sie für den Generalstreik der Eisenbahner verantwortlich machen kann. Das hat wochenlange vergebliche Bemühungen gekostet. Zum Schluß habe ich mit Generalsekretär Hirschfeld gesprochen und diesem alle Vollmachten gegeben, insbesondere...

VORSITZENDER: Dr. Steinbauer! Der Gerichtshof ist nicht der Meinung, daß diese Sache so eingehend behandelt werden muß.

DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! Vielleicht fassen Sie ganz kurz dann Ihre Abhilfemaßnahmen zusammen.

SEYSS-INQUART: Ich bin eigentlich hier auch schon fertig. Ich habe Generalsekretär Hirschfeld alle Vollmachten auf dem Verkehrsgebiet gegeben. Dieser hat dann allerdings auch sehr zögernd einen Verkehr in die Wege geleitet. Er wird bestätigen, daß ich ihn in jeder Weise unterstützt habe. Es kamen Lebensmittel nach Holland, aber es waren viele Wochen umsonst verstrichen. Ich habe dann in meinem Bereich eine Reihe von zusätzlichen Hilfen gegeben, über die der Zeuge van der Vense, Fragebogen, wahrscheinlich auch der Zeuge Schwebel Auskunft geben können.

DR. STEINBAUER: Ich möchte als nächste Urkunde ein Affidavit vorlegen, das der Zeuge van der Vense abgegeben hat. Es ist erst eingelangt, die Übersetzungen sind aber schon fertig und werden wahrscheinlich heute nachmittag oder morgen früh dem Hohen Gerichtshof zugehen. Ich lege dem Gericht das Original vor und glaube, daß es nicht notwendig ist, diese Urkunde, die in vier Sprachen übersetzt ist, vorzulesen. Es schildert ausschließlich die Ernährungslage in dieser kritischen Zeit.

SEYSS-INQUART: Darf ich noch darauf aufmerksam machen, daß die Niederländische Regierung...

VORSITZENDER: Welche Nummer ist das?

DR. STEINBAUER: 105.

SEYSS-INQUART:... daß die Niederländische Regierung die Ziffer von 50000 auf 23000 Todesopfer richtiggestellt hat.

DR. STEINBAUER: Ich komme zu der letzten Zeit Ihrer Tätigkeit als Reichskommissar und möchte Sie fragen, wann haben Sie erkannt, daß der militärische Widerstand in den Niederlanden zwecklos ist?

SEYSS-INQUART: Daß mit der Möglichkeit gerechnet werden mußte, daß Deutschland den Krieg nicht gewinnt, ergibt sich ja schon aus meinem Brief an den Führer im Jahre 1939. Eine Besorgnis, daß es so kommt, trat mit Stalingrad ein. Mit der Möglichkeit hat man daher rechnen müssen, mit der Zeit hatte ich es befürchtet, bestimmt verantwortlich gewußt durch eine Erklärung, die mir Reichsminister Speer am 1. April gegeben hat.

DR. STEINBAUER: 1945?

SEYSS-INQUART: April 1945. Bis dahin wollte ich es nicht glauben, denn gegenüber der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und vollkommener Besetzung glaubte ich mich in jeder Beziehung auf das äußerste wahren zu müssen, weil die Folgen unabsehbar wären. Speer hat mir damals gesagt, daß der Krieg für Deutschland in einer relativ kurzen Zeit aus sein muß, weil die Rüstung einfach nicht mehr produzieren kann. Er sagte in zwei bis drei Monaten.

DR. STEINBAUER: Als Sie diese Erkenntnis gehabt haben, was haben Sie nun praktisch getan?

SEYSS-INQUART: Ich habe den Entschluß gefaßt, der Besetzung Hollands durch Verteidigung faktisch ein Ende zu machen, ohne meine Pflicht gegen das Reich und den Führer zu verletzen. Ich bin nach dem Haag gefahren und habe Generalsekretär Hirschfeld geholt und mit ihm die Vorgänge besprochen. Wir sind zu dem Beschluß gekommen, uns unmittelbar an die Vertrauensmänner der Regierung im Haag selbst zu wenden, die für mich illegal waren, und sie zu ersuchen, Verhandlungen einzuleiten auf der Basis, daß die alliierten Truppen gegen Holland nicht vorgehen, dann werde jede weitere Zerstörung unterbleiben, dann können die Alliierten die Verpflegung der holländischen Bevölkerung, und zwar durch direkte Verbindung mit dem holländischen Ernährungsapparat übernehmen. Dann werden wir das Kriegsende abwarten.

DR. STEINBAUER: War das nicht eine Eigenmächtigkeit der Deutschen Regierung gegenüber?

VORSITZENDER: Welches Datum?

DR. STEINBAUER: Welches Datum?

SEYSS-INQUART: Die Unterredung mit dem Generalsekretär Hirschfeld war am 2. April 1945. Dann zogen sich die Verhandlungen etwas hin, und am 30. April war die Besprechung mit Generalleutnant Bedell-Smith. Ich habe mir für diesen Schritt bewußt keine Ermächtigung von Berlin geholt, um eine Absage oder ein Verbot zu vermeiden. Ich habe das auf meine Kappe genommen. Der Oberbefehlshaber der Niederlande, General Blaskowitz, war sehr besorgt. Er hat mich noch in der Nacht zu sich gerufen, weil er von seiner vorgesetzten Stelle befragt wurde, was los sei. Ich war trotzdem entschlossen, diese Angelegenheit durchzuführen, weil sie die einzig vernünftige Maßnahme in dieser Situation erschien. Ich habe erklärt, daß ich alle Verantwortung auf mich nehme. Am 30. April kam es zu der Besprechung und praktisch zu dem von mir gewünschten Ergebnis und damit praktisch zu der Aufgabe der militärischen Verteidigung Hollands.

DR. STEINBAUER: Was haben Sie dann persönlich getan?

SEYSS-INQUART: Admiral Dönitz als Staatsführer hat mich nach Flensburg gerufen. Ich bin mit einem Schnellboot über die Nordsee hinaus, habe ihm dann berichtet, was der Großadmiral als Zeuge mir bestätigen wird, habe die Aufhebung des Sprengbefehls erreicht und dann alles versucht, um wieder in die Niederlande zurückzukommen. Ich bin schließlich darauf losgefahren und wurde in Hamburg verhaftet.

DR. STEINBAUER: Warum wollten Sie eigentlich nach den Niederlanden zurück?

SEYSS-INQUART: Erstens wollte ich mich um meine Mitarbeiter kümmern, zweitens habe ich immer gedacht, daß ich für meine Verwaltung Rede und Antwort stehen werde, und schließlich meinte ich, wir sind in Zeiten des Triumphs in der ersten Reihe gestanden, wir haben nun Anspruch darauf, in den Zeiten des Unglücks auch in der vordersten Reihe zu stehen.

DR. STEINBAUER: Herr Präsident! Ich bin mit der Einvernahme des Zeugen fertig.

DR. KARL HAENSEL, STELLVERTRETENDER VERTEIDIGER FÜR DIE SS: Gehörten Sie der SS an?

SEYSS-INQUART: Ich habe einen Ehrenrang in der Allgemeinen SS gehabt. Als solcher war ich nicht ordentliches Mitglied der Allgemeinen SS. Ich habe mich aber für die SS als weltanschauliche beziehungsweise politische Formation sehr interessiert.

DR. HAENSEL: Hatten Sie irgendwelche Funktionen ausgeübt, oder hatten Sie nur einen Titel?

SEYSS-INQUART: De jure hatte ich nur einen Titel, in politischer Beziehung habe ich auf die SS in den Niederlanden, soweit sie nicht Sicherheitspolizei, Waffen-SS und so weiter war, einen gewissen Einfluß zu nehmen versucht und im April 1945, glaube ich, daß ich de facto sagen konnte, daß ich der erste SS-Führer in den Niederlanden war.

DR. HAENSEL: Hatten Sie den Eindruck, daß Sie bei der SS einer einheitlichen geschlossenen Organisation gegenüberstehen, oder waren da innerhalb größere Gegensätze?

SEYSS-INQUART: Nach außen war eine außerordentlich geschlossene Disziplin, nach innen hat es eine Differenz zwischen zwei Richtungen gegeben. Die eine wollte die SS nur als politischen Erziehungskörper sehen, zum Beispiel Obergruppenführer Heißmeier, die anderen wollten ein staatliches Exekutivorgan daraus machen, Heydrich. Himmler schwankte anfangs, hat sich dann aber voll auf die Seite Heydrichs gestellt. Der SS-Gedanke ist untergegangen, weil Himmler ihn für die Exekutive mißbraucht hat.

DR. HAENSEL: Wollen Sie das zeitlich etwas umreißen. Sie sagten »untergegangen«. Wann war ungefähr diese Periode, in welchem Jahr?

SEYSS-INQUART: Ich glaube, die Anfänge waren schon im Jahre 1938, und mit Riesenschritten ist es dann losgegangen, als der Ostfeldzug begonnen hat.

DR. HAENSEL: War nicht vom Jahre 1939 ab überhaupt die Allgemeine SS wenig in Erscheinung getreten, sondern nur noch die exekutiven Amtsgruppen oder die Waffen-SS?

SEYSS-INQUART: Jedenfalls hat von diesem Jahre an Himmler Leute aus der Allgemeinen SS in seine verschiedenen Exekutivorganisationen hineingesteckt. Als Allgemeine SS ist sie nie mehr, für mich wenigstens, in Erscheinung getreten.

DR. HAENSEL: Meinen Sie, daß der SS-Mann über diese Machtkämpfe in der Führung etwas wissen konnte, daß er Einblick in diese Dinge hatte, oder war er ahnungslos?

SEYSS-INQUART: Ich glaube nicht, daß er das gewußt hat, aber es hat sehr viele SS-Männer gegeben, die sich sehr unwohl gefühlt haben und nur aus ihrem Pflichtgefühl heraus bei ihrer Organisation geblieben sind.

DR. HAENSEL: Sie sagten in Ihrer Vernehmung, daß ein Befehl Heydrichs Sie veranlaßt habe, Juden aus Holland abtransportieren zu lassen. Haben Sie den Befehl Hitlers an Heydrich gesehen?

SEYSS-INQUART: Ich meine, ja; einen Befehl Hitlers an Heydrich, denn Heydrich allein hätte ja nicht genügt.

DR. HAENSEL: Sie stellen es so dar, als ob Heydrich Ihnen gesagt habe, er habe diesen Befehl?

SEYSS-INQUART: Er hat mir das gesagt, und er hat mir ein paar Wochen später den Befehl geschickt.

DR. HAENSEL: War das schriftlich?

SEYSS-INQUART: Jawohl, das war schriftlich.

DR. HAENSEL: Und was stand darin?

SEYSS-INQUART: Daß er mit der vollkommenen Lösung, der Endlösung, oder sonst mit der Judenfrage ausschließlich betraut sei auf allen Gebieten.

DR. HAENSEL: Und wann war das, 1941? 1940?

SEYSS-INQUART: Das war ziemlich zu der Zeit, als die Evakuierungen begonnen haben, das war im Jahre 1942.

DR. HAENSEL: Das täuscht sicher, das war 1941, später war es nicht.

SEYSS-INQUART: Er kann mir ja den Befehl später gezeigt haben, das Datum des Befehls weiß ich nicht.

DR. HAENSEL: Das meine ich. Dieser Befehl war aber, wie Sie sagten, nur allgemein gehalten?

SEYSS-INQUART: Allgemein.

DR. HAENSEL: Man konnte ihn so oder so auslegen? Ich meine, Sie wissen doch...

SEYSS-INQUART: Ja, ich habe den Eindruck gehabt, daß Heydrich in den besetzten Gebieten die Evakuierung durchzuführen hatte, und zwar war es für mich damals noch nicht ganz sicher, ob das eine endgültige ist, aber möglich. Der extremste Fall war der, daß die Juden in Lagern zusammengefaßt werden und nach Beendigung des Krieges irgendwo angesiedelt werden.

DR. HAENSEL: Verzeihung, Herr Zeuge, der extremste Fall ist doch der, daß die Juden vernichtet werden sollten?

SEYSS-INQUART: Der extremste Fall, den ich mir damals gedacht habe.

DR. HAENSEL: Und den Sie sich nach Wortlaut des Befehls denken konnten?

SEYSS-INQUART: Ja.

DR. HAENSEL: Nun ist die Frage: Besteht die Möglichkeit, daß Heydrich über den Befehl Hitlers hinausgegangen ist, daß Hitler diese Taten, die Heydrich getan hat, nicht selber gewollt hat?

SEYSS-INQUART: Darüber kann ich nichts aussagen.

DR. HAENSEL: Haben Sie mit Hitler vor 1943 gesprochen?

VORSITZENDER: Ich glaube nicht, daß der Zeuge beurteilen kann, was Heydrich möglicherweise getan hätte; genau so wenig wie wir. Eine derartige Frage kann er nicht beantworten.

DR. HAENSEL: Ja.