[Pause von 10 Minuten.]
M. DEBENEST: Angeklagter! Behaupten Sie noch immer, daß Sie niemanden gezwungen haben, in Deutschland zu arbeiten?
SEYSS-INQUART: Im Gegenteil, ich glaube, ich habe etwa 250000 Niederländer verpflichtet, in Deutschland zu arbeiten. Ich habe das gestern ausgeführt.
M. DEBENEST: Sehr gut. Ich gehe darauf nicht weiter ein. Haben Sie nicht auch gewisse Gesetzesbestimmungen über die Staatsbürgerschaft eingeführt?
SEYSS-INQUART: Die Staatsbürgerschaft der Niederländer?
M. DEBENEST: Gewiß, natürlich.
SEYSS-INQUART: Jawohl.
M. DEBENEST: Haben Sie an der Verhaftung, Internierung und Deportierung holländischer Staatsbürger in deutsche Konzentrationslager teilgenommen und wie?
SEYSS-INQUART: Bitte, darf ich ganz kurz zu dieser Frage der Staatsbürgerschaft eine Erläuterung geben?
M. DEBENEST: Gewiß.
SEYSS-INQUART: Es haben sich ziemlich viele Niederländer zur Waffen-SS gemeldet, und der Führer beabsichtigte, ihnen die deutsche Reichsbürgerschaft zu geben: Damit wären sie der niederländischen Staatsbürgerschaft verlustig gegangen, was sie bestimmt nicht wollten. Infolgedessen habe ich eine Verordnung erlassen, daß bei Erwerbung der deutschen Reichsbürgerschaft die niederländische Staatsbürgerschaft nicht verloren geht innerhalb eines Jahres, in der sich der Betreffende dann entscheiden kann. Dies zur Erklärung des Motivs und des Zweckes dieser Verordnung.
M. DEBENEST: Ich stelle daher nochmals die Frage, die ich Ihnen vorher schon gestellt habe: Haben Sie an der Verhaftung, Internierung und Deportierung von holländischen Staatsbürgern in deutsche Konzentrationslager teilgenommen und unter welchen Umständen?
SEYSS-INQUART: Die Verbringung und überhaupt die Anhaltung irgendeiner Person in Konzentrationslagern ist ausschließlich Sache der Polizei gewesen. Ich erinnere mich nicht an einen Fall, in dem ich bei der Polizei den Antrag gestellt hätte, einen Niederländer in ein deutsches Konzentrationslager zu bringen. Es kann vorgekommen sein, daß ich bei der deutschen Polizei den Auftrag gegeben habe, Niederländer nach Herzogenbusch oder Amersfort zu bringen. Besonders in der Zeit, in der die niederländischen Gerichte die Schwarzhändler und Schwarzschlächter sehr gering bestraft haben, habe ich deren Abgabe in ein Konzentrationslager auf zwei oder drei Monate verlangt. Aber wenn Sie bestimmte Fälle haben, so sagen Sie es mir nur bitte. Sie können sicher sein, ich werde alles genau so sagen, wie ich es in Erinnerung habe.
M. DEBENEST: Nein, nein, Ihre Antwort genügt mir.
Haben Sie an der Festnahme von Geiseln und an ihrer Hinrichtung teilgenommen?
SEYSS-INQUART: Ich habe gestern gesagt, daß ich nur einen einzigen wirklichen Geiselfall in Erinnerung habe aus dem Jahre 1942. Und da habe ich ja meine Beteiligung geschildert. Die sogenannten Geiselerschießungen ab Juli 1944 waren keine Geiselerschießungen, sondern Vollstreckungen, die der Polizei übertragen wurden auf Grund eines Führerbefehls. Ich selbst habe niemals den Befehl zu einer individuellen Erschießung gegeben. Aber ich wiederhole, wenn ich zum Beispiel die Polizei aufmerksam gemacht habe, in irgendeinem bestimmten Ort in den Niederlanden macht sich die illegale Widerstandsbewegung stark bemerkbar, und sie beauftragt habe, den Fall zu überprüfen, so war es mir klar, daß sie führende Widerstandskreise und Leute verhaften konnte, die sie dann auf Grund des Führerbefehls erschießen wird. Aber ich wiederhole: Ich mußte meiner Verantwortung nachkommen, selbst in der schwierigen Situation, daß die Schuldtragenden – rein rechtlich, nicht moralisch, moralisch hätte ich wahrscheinlich ebenso gehandelt wie sie –, daß die Schuldtragenden nicht vor ein Gericht gestellt werden.
M. DEBENEST: Was die von Ihnen gestern erwähnten Tatsachen betreffen, handelt es sich wohl um Geiseln, die anläßlich eines Attentats auf die Eisenbahn in Rotterdam erschossen wurden?
SEYSS-INQUART: Jawohl.
M. DEBENEST: Wer hat denn diese Geiseln ausgewählt?
SEYSS-INQUART: Die Geiseln wurden von der Sicherheitspolizei ausgewählt und der Höhere SS- und Polizeiführer hat mir die Liste vorgelegt. Ich habe, wie gestern bekundet, gefragt, warum er gerade solche Persönlichkeiten nimmt. Er hat mir die Erklärung gegeben, und ich habe dann bei der Durchsicht die Familienväter mit mehreren Kindern weggestrichen, habe sie dem Höheren SS- und Polizeiführer zurückgegeben und ihn ersucht, diese meine Stellungnahme bei der Durchführung zu berücksichtigen. Durch diese meine mittelbare Handlung habe ich dazu beigetragen in dem Sinne, daß nicht Väter mehrerer Kinder erschossen werden.
M. DEBENEST: Wie viele Geiseln wurden dann auf diese Art ausgewählt?
SEYSS-INQUART: Das habe ich heute nicht mehr in Erinnerung, vielleicht waren es zwölf bis fünfzehn, davon sind fünf übriggeblieben; das war die Zahl, die man schließlich herabmindern konnte von der ursprünglichen Ziffer von 50 oder 25.
M. DEBENEST: Gut. Ich werde Ihnen jetzt ein Dokument über die Festnahme dieser Geiseln überreichen. Es ist, Dokument F-886, das RF-1527 wird. Es ist eine Erklärung des Generals Christiansen, vielmehr es ist eine Abschrift einer Erklärung des Generals Christiansen. Sie kommt von einem Affidavit des Leiters der holländischen Abordnung.
Wollen Sie bitte den vierten Absatz vor dem Schluß der ersten Aussage zur Hand nehmen?
VORSITZENDER: Haben Sie das Original?
M. DEBENEST: Herr Vorsitzender! Ich habe eben angegeben, daß es nur eine Abschrift einer Erklärung ist, die von einem Affidavit des Leiters der holländischen Abordnung stammt, aber wenn der Gerichtshof es wünscht, können wir das Original vorlegen, sobald wir es zur Hand haben.
VORSITZENDER: Herr Debenest! Die Abschrift ist in keiner Weise beglaubigt, nicht wahr?
M. DEBENEST: Ich glaubte, Herr Vorsitzender, daß ein Affidavit von dem Vertreter der Holländischen Regierung in Nürnberg vorliegt. Auf dem Original... Ich muß mich entschuldigen. Es wurde tatsächlich nicht vervielfältigt. Aber das Original enthält dieses Affidavit.
VORSITZENDER: Was wollen Sie mit diesem Affidavit beweisen? Etwas über die Geiseln?
M. DEBENEST: Jawohl, Herr Vorsitzender. Es wird darin erklärt, daß der Angeklagte selbst die Geiseln ausgewählt hat.
VORSITZENDER: In welchem Verfahren wurde diese eidesstattliche Erklärung abgegeben?
M. DEBENEST: Herr Vorsitzender! Im Verlaufe des Verfahrens, das in den Niederlanden gegen General Christiansen stattfand.
VORSITZENDER: Wie glauben Sie, daß es nach dem Statut zugelassen werden kann?
M. DEBENEST: Herr Vorsitzender! Ich glaube, wir haben dem Gerichtshof schon solche Dokumente vorgelegt, das heißt beglaubigte Abschriften, die von einem Original stammen, das sich in dem Ursprungslande befindet.
VORSITZENDER: Wenn das Original, von dem die Abschrift hergestellt wurde, als Dokument nach dem Statut zugelassen werden dürfte, dann könnte es wahrscheinlich so gemacht werden, daß eine Beglaubigung vorgelegt wird, welche die Echtheit der Abschrift eines nach dem Statut zulässigen Dokuments bestätigt. Ist jedoch dieses Dokument nach dem Statut zulässig?
M. DEBENEST: Herr Vorsitzender! Ich glaube, es ist zulässig, es handelt sich doch um nichts weniger als um eine eidesstattliche Erklärung, die unter ganz normalen Verhältnissen in den Niederlanden abgegeben wurde.
VORSITZENDER: Haben Sie keine deutsche Ausfertigung davon?
M. DEBENEST: Doch, Herr Vorsitzender. Dieses Dokument ist ins Deutsche übersetzt worden, ich habe es ins Deutsche übersetzen lassen.
VORSITZENDER: Herr Debenest! Dies scheint ein Dokument in holländischer Sprache zu sein, und General Christiansen, der die Aussage machte, war doch Deutscher, nicht wahr?
M. DEBENEST: Nein, Herr Vorsitzender; das Original ist in holländischer Sprache.
VORSITZENDER: Das Original ist in holländischer Sprache?
M. DEBENEST: Das Original ist holländisch, wenigstens nach meinen Auskünften. Ja, das Original ist in holländischer Sprache.
VORSITZENDER: Und wie ist die eidesstattliche Erklärung abgegeben worden, in welchem Verfahren?
M. DEBENEST: In holländischer Sprache, mit Dolmetschern.
VORSITZENDER: Ich meine, in welchem Verfahren, vor welchem Gerichtshof?
M. DEBENEST: Ich glaube, es war vor einem holländischen Militärgericht, ja, vor einem Militärgericht in Holland.
M. CHARLES DUBOST, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Hoher Gerichtshof...
VORSITZENDER: Ja, Herr Dubost.
M. DUBOST: Dieses Dokument ist ein Auszug aus einem Strafe verfahren, das gegen General Christiansen auf Veranlassung der Regierung der Niederlande eingeleitet wurde. Der Justizminister der Niederlande hat uns einen Auszug des Protokolls zukommen lassen, das den Vorschriften gemäß im Verlauf dieses Verfahrens gegen General Christiansen in den Niederlanden aufgenommen wurde. Der Text wurde deshalb in holländischer Sprache abgefaßt.
VORSITZENDER: Die Erklärung, dieses Affidavit, ist doch in holländischer Sprache. General Christiansen ist doch kein Holländer?
M. DUBOST: General Christiansen ist Deutscher.
VORSITZENDER: Wenn er Deutscher ist, warum gibt er seine Erklärungen in holländischer Sprache ab? Wenn er sie nicht auf holländisch abgab, warum ist die deutsche Abschrift nicht hier? Sehen Sie, wir haben hier eine Beglaubigung von einem Oberst, der die Regierung der Niederlande vertreten soll; nach dieser Beglaubigung ist dieses Dokument eine korrekte Abschrift von General Christiansens Aussage. Nun, das Dokument, das wir hier haben, ist in holländischer Sprache, und wenn General Christiansen seine Aussage in deutscher Sprache gemacht hat, dann kann das keine echte Abschrift sein; diese ist vielmehr von der Übersetzung ins Holländische abhängig. Was sagen Sie dazu?
M. DUBOST: Die Aussage des Generals Christiansen wurde über einen Dolmetscher angehört entsprechend dem holländischen Verfahren und auf holländisch niedergeschrieben. Es ist nicht möglich, von einem holländischen Gericht die Protokolle in fremder Sprache zu bekommen, sie werden in holländisch gemacht.
VORSITZENDER: Ich verstehe.
DR. STEINBAUER: Herr Vorsitzender! Darf ich einige Worte sagen. Mir ist bekannt, weil ich in Verbindung stehe mit dem Verteidiger des Generals Christiansen, daß gegen ihn ein kriegsgerichtliches Verfahren vor einem englischen Militärgericht vorlag. Ich habe Bedenken gegen das Dokument, weil es nicht beglaubigt ist, und weil nicht ersichtlich ist, ob der Dolmetscher, der aus dem Deutschen ins Holländische übertragen hat, auch ein geeigneter war. Mir wird dadurch auch die Möglichkeit genommen, als Verteidiger General Christiansen ins Kreuzverhör zu nehmen. Mir scheint, daß durch die bloße Vorläge des Affidavits die Rechte der Verteidigung wesentlich beeinträchtigt sind.
M. DEBENEST: Herr Vorsitzender! Man sagt mir eben, daß General Christiansen gegenwärtig in Arnhem von den holländischen Behörden festgehalten wird.
VORSITZENDER: Gut, Herr Debenest, der Gerichtshof wird das Dokument zulassen, wenn Sie eine Beglaubigung von dem Gerichtshof erhalten, das General Christiansen verurteilt hat. Das einzige Zeugnis, das Sie jetzt haben, daß dies eine echte Abschrift ist, kommt von einem Oberst van... ich kann den Namen nicht aussprechen. Nichts außer seiner eigenen Erklärung zeigt, daß er ein Beamter der Holländischen Regierung ist. Wir wissen nicht, wer er ist.
M. DEBENEST: Gewiß, Herr Vorsitzender, wir werden später das Original von dem Gerichtshof anfordern.
VORSITZENDER: Gut, legen Sie uns das Original später vor.
M. DEBENEST: Van... ist der beglaubigte Vertreter der Holländischen Regierung bei der Französischen Delegation.
DR. STEINBAUER: Herr Vorsitzender! Ich habe nur eine französische Übersetzung vor mir, und ich lese davon folgendes:
»Christiansen ist hier nicht als Zeuge, sondern als Angeklagter vernommen worden. Er ist gar nicht verpflichtet zur Wahrheit, er kann erzählen, was er will. Er ist dafür nicht haftbar.«
Ich glaube schon, daß aus diesem Grunde das Dokument zurückzuweisen ist.
VORSITZENDER: Dr. Steinbauer! Der Grund, aus dem der Gerichtshof bereit ist, das Dokument zuzulassen, wenn es vorliegt, ist der, daß Artikel 21 vorsieht, daß Berichte einschließlich Akten und Dokumente der Ausschüsse, die in den verschiedenen alliierten Ländern zur Untersuchung der Kriegsverbrechen bestehen, sowie die Protokolle von Militär- und anderen Gerichten irgendeiner der vereinten Nationen amtlich zur Kenntnis genommen werden sollen. Aus diesem Grunde ist das Dokument nach der Meinung des Gerichtshofs zulässig, wenn das echte Dokument vorliegt.