[Zum Zeugen gewandt:]
Sie sagten gestern auch, daß im Geisellager Michelgestell keine Geisel erschossen wurde.
SEYSS-INQUART: Es ist mir nicht bekannt.
M. DEBENEST: Dennoch haben Sie es gestern erklärt.
[Keine Antwort.]
M. DEBENEST: Wollen Sie immer noch behaupten, daß niemand erschossen wurde?
VORSITZENDER: Der Angeklagte möge bitte antworten. Nicken Sie nicht nur mit dem Kopf. Das kann man übers Mikrophon nicht hören.
SEYSS-INQUART: Ich will nur sagen, daß mir kein Fall bekannt ist. Vielleicht ist auch einmal so ein Fall vorgekommen. Aber ich erinnere mich nicht.
M. DEBENEST: Aber Sie leugnen nicht ab, daß vielleicht einige erschossen wurden?
SEYSS-INQUART: Es könnten bestimmt Gründe gewesen sein, die einmal eine solche Erschießung verlangt haben. Aber ich habe keinen Fall in Erinnerung.
M. DEBENEST: Die Geiseln, die auf diese Art hingerichtet wurden, waren das alles Leute, die zum Tode verurteilt worden waren?
SEYSS-INQUART: Ich weiß es nicht, weil ich ja nicht weiß, ob jemand erschossen wurde.
M. DEBENEST: Wurde im Falle der Hinrichtung der Geiseln von Rotterdam nicht ein Geisel am Tag vor der Hinrichtung festgenommen und am nächsten Tag erschossen?
SEYSS-INQUART: Darüber bin ich nicht orientiert. Ich sehe in diesem Dokument, daß von Geiseln aus Michelgestell die Rede ist. Ich erinnere mich nicht, daß aus diesem Lager Geiseln genommen wurden. Aber in diesem Fall wäre es möglich, denn das war ja ein wirklicher Geiselfall.
M. DEBENEST: Nein, ich frage Sie ja nicht, ob Geiseln aus dem Lager Michelgestell genommen wurden. Ich frage Sie, ob man im Fall der Hinrichtung der Geiseln von Rotterdam nicht am Abend vor der Hinrichtung einen Geisel festgenommen und am nächsten Tag erschossen hat?
SEYSS-INQUART: Das weiß ich nicht.
M. DEBENEST: Ich werde Ihnen den Namen nennen, vielleicht hilft das Ihrem Gedächtnis nach: Baron Schimmelpfennig.
SEYSS-INQUART: Soviel ich weiß, war Baron Schimmelpfennig von Seeland; aber mehr weiß ich nicht.
M. DEBENEST: Können Sie uns nicht sagen, unter welchen Umständen er verhaftet wurde und weshalb?
SEYSS-INQUART: Nein, ich weiß nur, daß ein Baron Schimmelpfennig unter den fünf Geiseln war, die erschossen worden sind.
M. DEBENEST: Sie geben also zu, daß viele Hinrichtungen stattgefunden haben im Verfolg der von Ihnen durchgeführten Errichtungen der Standgerichte in den Niederlanden?
SEYSS-INQUART: Nein, das ist bestimmt nicht der Fall; denn diese Erschießungen von Mitte 1944 an gingen nicht zurück auf die Anordnung und auf meine Standgerichte, sondern auf einen direkten Befehl des Führers.
M. DEBENEST: Sie wollen also behaupten, daß keine einzige Hinrichtung auf Grund Ihrer Verfügung vom 1. Mai 1943 erfolgte?
SEYSS-INQUART: Die Hinrichtungen erfolgten nicht auf Grund der Standgerichte, die ich in dieser Verordnung vorgesehen hatte, wegen Verstößen gegen diese Verordnung. Es ist möglich, daß der Höhere SS- und Polizeiführer die Tatbestände dieser Verordnung auch seinen Entschlüssen zugrunde gelegt hat.
M. DEBENEST: Aber Sie behaupten noch immer, daß Sie keine Macht über diesen Polizeichef hatten?
SEYSS-INQUART: Ich hatte keine Befehlsgewalt. Aber es ist sicher, daß wir in einem engen Einvernehmen miteinander gearbeitet haben.
M. DEBENEST: Er hat sich daher mit Ihnen über alle zu ergreifenden Vergeltungsmaßnahmen beraten?
SEYSS-INQUART: Nein, wieso?
M. DEBENEST: Wurden denn nicht alle Vergeltungsmaßnahmen, die beschlossen oder veröffentlicht wurden, mit Ihrem vollen Einverständnis ergriffen?
SEYSS-INQUART: Die Repressalienmaßnahmen und seine Verlautbarungen erfolgten alle in seinem Wirkungskreis. Ich habe diese Verlautbarungen selber gar nicht, meistens nachher erfahren. Von mir ist gar keine Anordnung zu diesen Maßnahmen gegeben worden. Ich kann nur immer wieder darauf verweisen, daß das eine Ausführung des Führerbefehls über Himmler an die Polizei war.
M. DEBENEST: Gut. Waren Sie für diese Vergeltungsmaßnahmen?
SEYSS-INQUART: Es war selbstverständlich für mich, daß man gegen Mitglieder der Widerstandsbewegung, Sabotage- und sonstige Handlungen einschreiten muß. Es war kein anderes Einschreiten möglich, als das Verhaften durch die Polizei, das Aburteilen durch den Höheren SS- und Polizeiführer und das Erschießen durch die Polizei. Ich konnte diesen Maßnahmen nicht entgegentreten. Sie können das meinetwegen auch als Einverständnis erklären. Mir wäre es lieber gewesen, wenn Gerichte geurteilt hätten.
M. DEBENEST: Gut. Ich werde Ihnen nun das Dokument F-860 zeigen lassen. Es ist ein Brief, den ach als RF-1529 dem Gerichtshof vorlege. Es handelt sich um einen am 30. November 1942 von Ihnen an Dr. Lammers gerichteten Brief. Ich werde den ersten Teil überspringen.
Ich bitte um Entschuldigung, ich habe vergessen, dem Gerichtshof mitzuteilen, daß die Originale nicht hier sind, sondern nur die Photokopien. Ich besitze jedoch eine eidesstattliche Erklärung, die ich dem Gerichtshof vorlegen werde.
VORSITZENDER: Gut, Herr Debenest. Sie brauchen uns keine eidesstattliche Erklärung zu geben. Wir besitzen die Photokopien.
M. DEBENEST: Ich überspringe die beiden ersten Seiten im französischen Text und gehe auf den zweiten Abschnitt über. Sie schreiben hier:
»Die Ausarbeitung des Polizeistandrechtes erfolgte im Sinne eines Schreibens des Reichsführer-SS. Ich glaube, daß ich allen darin enthaltenen Wünschen entsprochen habe. Nur möchte ich nicht den Höheren SS- und Polizeiführer ausdrücklich als Gerichtsherrn bestellen, denn diese Bezeichnung bedeutet den Niederländern gegenüber eine Autoritätseinschränkung des Reichskommissars, die deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil ja der Reichskommissar im Führererlaß als der Wahrer der Reichsinteressen bestellt wurde. Ich habe aber alle praktischen Vollmachten, die ein Gerichtsherr braucht, in der Verordnung selbst dem Höheren SS- und Polizeiführer übertragen. Ich glaube, daß dieses Polizeistandrecht ein brauchbares Instrument sein kann und gewissermaßen auch ein Vorbild für weitere Regelungen.«
Sie hatten also Befehlsgewalt über den Chef der Polizei?
SEYSS-INQUART: Ich habe hier Autorität gehabt über das Polizeistandgericht, nicht über den Höheren SS- und Polizeiführer. Der oberste Gerichtsherr, auch im Polizeistandgericht, im Ausnahmezustand, bin ich geblieben. Damit konnte ich der Polizei als Exekutive noch gar keine Befehle geben. Diese Polizeistandrechte in den Niederlanden sind höchstens 14 Tage in Kraft gewesen.
M. DEBENEST: Es ist doch aber sicher, daß es sich hier um Sondergerichte handelt, mit deren Führung Sie den Chef der Polizei betraut hatten?
SEYSS-INQUART: Ja, das ist richtig, aber nur im Maße der Polizeistandgerichte im Falle des Ausnahmezustandes. Denn was die Polizeistandgerichte damals gemacht haben, das verantworte ich. Das war anläßlich des Generalstreiks im Mai 1943.
M. DEBENEST: Einverstanden. Sie haben diese Standgerichte der Polizei übertragen.
Ich möchte Ihnen nun das Dokument 3430-PS zeigen. Dieses Dokument ist eine Sammlung der Reden, die Sie während der Besetzung der Niederlande gehalten haben. Wollen Sie bitte...
VORSITZENDER: Herr Debenest! Weisen Sie nur auf die eine Stelle im Dokument 860 hin?
M. DEBENEST: Jawohl, Herr Vorsitzender. Ich beziehe mich nur auf den zweiten Teil. Der erste Teil betrifft die Polizei.
VORSITZENDER: Glauben Sie nicht, daß der Übersetzungsabteilung damit eine große Arbeit verursacht wird? Es handelt sich um 18 Seiten.
M. DEBENEST: Herr Vorsitzender! Ich stimme Ihnen bei. Ich wollte dieses Dokument ursprünglich im Zusammenhang mit der Polizeiorganisation verwenden, die sich im ersten Teil befindet. Ich habe aber darauf verrichtet, um die Verhandlungen abzukürzen.
VORSITZENDER: Ich bin lediglich der Ansicht, daß, falls Sie nur einen kleinen Teil des Dokuments verwenden wollen, es nicht notwendig scheint, der Übersetzungsabteilung, die ohnehin viel Arbeit hat, 18 Seiten übersetzen zu lassen. Hier ist ein weiteres Dokument, F-803, das weit mehr als 18 Seiten enthält. Von diesem Dokument ist sehr wenig Gebrauch gemacht worden. Aber fahren Sie fort.
M. DEBENEST: Ich weiß das, Herr Vorsitzender. Wenn ich das Dokument nicht weiter benutzt habe, so geschah das nur, weil der Gerichtshof diese Einzelheiten nicht für erforderlich hielt. Das ist der einzige Grund.
VORSITZENDER: Beziehen Sie sich auf Stellen auf allen 18 Seiten? Ich bin darüber sehr überrascht.
M. DEBENEST: Gewiß nicht, Herr Vorsitzender.
VORSITZENDER: Fahren Sie fort, bitte.
M. DEBENEST: Gut. Wir wollen nun auf einen anderen Gegenstand übergehen. Besaß Holland nicht bei Ihrer Ankunft bedeutende Vorräte an Nahrungsmitteln und Rohmaterialien?
SEYSS-INQUART: Es waren viele Vorräte vorhanden, außerordentlich viele.
M. DEBENEST: Wurden nicht während der ersten Besatzungsjahre bedeutende Requirierungen durchgeführt?
SEYSS-INQUART: Jawohl, es wurden nach einer Anordnung des Vierjahresplans sämtliche Vorräte requiriert und eine Lagerhaltung auf sechs Monate in den Niederlanden gelassen, mit der Verpflichtung des Reiches, den weiteren Bedarf jeweils nachzuschieben.
M. DEBENEST: Wollen Sie behaupten, daß diese Vorräte für die holländische Bevölkerung bestimmt waren?
SEYSS-INQUART: Sicherlich.
M. DEBENEST: Sicherlich? Gut. Wollen Sie das Dokument 997-PS zur Hand nehmen, das ich Ihnen heute vormittag gezeigt habe? Seite 9 und 10.
SEYSS-INQUART: Darf ich um die Nummer des Dokuments bitten?
M. DEBENEST: 997-PS.
SEYSS-INQUART: Habe ich das Dokument?
M. DEBENEST: Seite 12 des französischen Textes und Seite 11 des deutschen Textes. Sie schreiben:
»Die Rohstoffvorräte wurden erfaßt und unter Zustimmung des Generalfeldmarschalls nach dem Plan verteilt, daß den Niederländern für die Aufrechterhaltung ihrer Wirtschaft Rohstoffe für ein halbes Jahr verbleiben, wobei sie die gleichen Zuteilungsquoten erhalten, wie dies im Reich der Fall ist. Derselbe Grundsatz der gleichen Behandlung wird bei der Versorgung mit Lebensmitteln usw. angewendet. Es konnten namhafte Rohstoffvorräte dem Reich sichergestellt werden, so z.B. 70000 Tonnen Industriefette, das soll ungefähr die Hälfte der dem Reich fehlenden Menge sein.«
SEYSS-INQUART: Das deckt sich mit meiner Darstellung, die ich eben gegeben habe.
M. DEBENEST: Aber ich glaubte, Sie sagten, daß die Vorräte zur Verfügung des holländischen Volkes, nicht der des Reiches, gestellt wurden.
SEYSS-INQUART: Nein, das ist dann eine irrtümliche Übertragung. Ich habe gesagt, daß die Vorräte beschlagnahmt wurden, nur für ein halbes Jahr die Vorräte zurückgelassen wurden und nur in Hinkunft der weitere Bedarf vom Reich nachgeschoben werden sollte in der gleichen Versorgungshöhe, wie das Reich versorgt wird. Aber primär waren die Vorräte beschlagnahmt für das Reich
M. DEBENEST: Gut, dann muß es an den Übersetzungen liegen. Erhielten Sie nicht zahlreiche Beschwerden wegen dieser Forderungen?
SEYSS-INQUART: Jawohl.
M. DEBENEST: Und welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?
SEYSS-INQUART: Ich habe die Herren, die bei mir waren – es war bestimmt Generalsekretär Hirschfeld und die übrigen Generalsekretäre –, darauf aufmerksam gemacht, daß hier ein strikter Befehl des Vierjahresplans vorliegt. Ich kann vielleicht in einem oder anderen Falle die Beschwerde an den Vierjahresplan weitergegeben haben, wenn mir der Abzug der Vorräte allzu drückend erschienen ist.
M. DEBENEST: Wurden denn nicht über diese Anforderungen hinaus noch Massenaufkäufe auf Rechnung des Reiches durchgeführt?
SEYSS-INQUART: Jawohl, jawohl.
VORSITZENDER: Herr Debenest! Sollen wir uns jetzt vertagen? Wie lange brauchen Sie noch?
M. DEBENEST: Herr Vorsitzender! Das hängt von der Länge der Antworten ab, die der Angeklagte geben wird. Aber ich glaube, daß ich in einer halben bis dreiviertel Stunde zu Ende kommen kann.
VORSITZENDER: Gut, dann vertagen wir uns jetzt.