[Zum Zeugen gewandt:]
Worauf sollte eigentlich Ihre Stellung als Vizekanzler beruhen?
VON PAPEN: Meine Stellung als Vizekanzler war gedacht als der Stellvertreter des Reichskanzlers, aber ohne ein Ressort. Es ergab sich sehr bald, daß an eine Stellvertretung nicht zu denken war, denn Hitler bearbeitete alle Fragen selbst. Die Tatsache, daß ich kein Ressort besaß, schwächte meine Position, denn diese Position beruhte nun eigentlich nur noch auf dem Vertrauen Hindenburgs, ein Vertrauen, das in dem Maße abnahm, als die Position Hitlers an Gewicht zunahm.
DR. KUBUSCHOK: Worauf stützte sich die Stellung Hitlers im Kabinett verfassungsrechtlich?
VON PAPEN: Die verfassungsrechtliche Stellung des Reichskanzlers im Kabinett war festgestellt durch den Artikel 56 der Reichsverfassung. In diesem heißt es: »Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung vor dem Reichstag.« Wenn die Politik eines Ressortministers nicht im Einklang mit diesen Richtlinien des Reichskanzlers steht, entscheidet darüber nicht etwa das Kabinett mit einem Mehrheitsbeschluß, sondern der Reichskanzler allein entscheidet darüber. Und der Artikel 58 der Verfassung bestimmt: »Der Reichskanzler kann vom Kabinett nicht überstimmt werden in Fragen des Widerspruchs gegen die von ihm bestimmte Politik.«
DR. KUBUSCHOK: Ich verweise zu dieser Frage, die bisher auch in der Beweisaufnahme rechtlich unrichtig vorgetragen worden ist, auf den führenden Kommentar zur Weimarer Verfassung von Gerhard Anschütz, Dokument 22, Seite 80 und 81 des Dokumentenbuches. Ich verweise auf Seite 81 auf die Anmerkung 4 zu Artikel 56. In dieser Anmerkung ist klar ausgeführt, daß bei Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung der Grundsätze der Politik allein der Reichskanzler entscheidet und daß es in diesen grundsätzlichen Fragen keine Abstimmung und keinen Mehrheitsbeschluß gibt.
[Zum Zeugen gewandt:]
Was glaubten Sie, aus dieser Entwicklung der Dinge für Folgerungen ziehen zu müssen?
VON PAPEN: Mitte des Jahres 1934 verschärften sich die inneren Spannungen Deutschlands in zunehmendem Maße. Es ergibt sich der Zustand, daß Konzessionen, die wir als Koalitionspartner gemacht hatten, nicht zu einer endgültigen inneren Befriedung führen, sondern daß sie von der Partei nur als der Anfang einer neuen revolutionären Bewegung betrachtet werden. Das war ganz offensichtlich eine Abwendung von dem Koalitionspakt, der am 30. Januar geschlossen war. Meine vielfachen Einsprüche im Kabinett blieben ohne Erfolg. Wenn es also keine Möglichkeit gab, den Reichskanzler im Kabinett zu Änderungen seiner Politik zu zwingen, das haben wir verfassungsrechtlich eben dargelegt, dann blieb nur der Weg einer Demission oder der Weg in die Öffentlichkeit. Wenn ich meine Demission nahm, dann konnte ich nicht mehr sprechen. So entschloß ich mich, jetzt zu sprechen, öffentlich zu sprechen, und ich beschloß, mich in einer grundsätzlichen Weise in dieser Frage an das deutsche Volk zu wenden. Wenn ich, wie die Anklage es behauptet, ein Opportunist gewesen wäre, dann hätte ich geschwiegen, wäre auf meinem Posten geblieben oder hätte einen anderen Posten angenommen. Aber jetzt habe ich mich entschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen mit allen Konsequenzen, die daraus entstehen.
DR. KUBUSCHOK: Sie hielten am 17. Juni 1934 in Marburg diese Rede. Was glaubten Sie, mit dieser Rede erreichen zu können?
VON PAPEN: In dieser Rede stelle ich alle die Fragen zur Erörterung und zur Entscheidung Hitlers, die wesentlich für die Aufrechterhaltung einer vernünftigen Politik in Deutschland waren. Ich wende mich in dieser Rede gegen den Anspruch einer bestimmten Gruppe oder Partei auf ein revolutionäres oder nationales Monopol. Ich wende mich gegen den Zwang und gegen die Unterdrückung anderer. Ich wende mich gegen die antichristlichen Bestrebungen und den Totalitätsanspruch auf religiösem Gebiet. Ich wende mich gegen die Unterdrückung jeder Kritik. Ich wende mich gegen die Unterdrückung und Uniformierung des Geistes. Ich wende mich gegen die Verletzung fundamentaler Rechtsgrundsätze und gegen die Ungleichheit vor dem Richter, und ich wende mich gegen den Byzantinismus, der in der Partei getrieben wird. Es war für mich klar, daß, wenn es gelang, auch nur an einem Punkt den Ring dieses Systems, das die Basis des Nazi-Systems war, zu durchbrechen, dann würden wir das System zur Ordnung gezwungen haben, beispielsweise die Wiederherstellung der Kritik und die Wiederherstellung der Freiheit des Geistes.
DR. KUBUSCHOK: Die Rede, deren Bedeutung die Anklage auch bereits hervorgehoben hat, ist im Dokument Nummer 11, Seite 40, enthalten. Ich möchte zuerst darauf hinweisen, daß im englischen Text ein Schreibfehler enthalten ist. Sie ist nicht vom 7. Juli datiert, wie in der Übersetzung angegeben, sondern vom 17. Juni. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Rede, die in ihrer Kritik einmalig in der deutschen Geschichte seit 1933 ist, werde ich einige besondere Stellen aus dieser Rede zur Verlesung bringen.
Ich verweise auf Seite 41 und beginne etwa in der Mitte dieser Seite:
»Wir wissen, daß die Gerüchte und das Geraune aus dem Dunkeln, in das sie sich flüchten, hervorgezogen werden müssen. Eine offene und männliche Aussprache frommt dem deutschen Volke mehr als beispielsweise der ventillose Zustand einer Presse, von welcher der Herr Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda festgestellt hat, daß sie ›kein Gesicht mehr‹ habe. Dieser Mangel besteht ohne Zweifel. Die Presse wäre ja eigentlich dazu da, die Regierung darüber zu unterrichten, wo sich Mängel eingeschlichen haben, wo sich Korruption eingenistet hat, wo schwere Fehler gemacht werden, wo ungeeignete Männer am falschen Platze stehen, wo gegen den Geist der deutschen Revolution gesündigt wird. Ein anonymer oder geheimer Nachrichtendienst, mag er noch so trefflich organisiert sein, vermag nie diese Aufgabe der Presse zu ersetzen. Denn der Schriftleiter steht unter gesetzlicher und gewissensmäßiger Verantwortung; die anonymen Lieferanten von Nachrichten dagegen sind unkontrollierbar und der Gefahr des Byzantinismus ausgesetzt. Wenn aber die berufenen Organe der öffentlichen Meinung das geheimnisvolle Dunkel, welches zur Zeit über die deutsche Volksstimmung gebreitet scheint, nicht genügend lichten, so muß der Staatsmann selber eingreifen und die Dinge beim Namen nennen.«
Auf Seite 42, etwa über der Mitte der Seite:
»Die geschichtliche Wahrheit ist, daß die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Kurswechsels auch von solchen Menschen anerkannt und betrieben wurde, die den Weg des Umschwungs über eine Massenpartei scheuten. Ein Anspruch auf ein revolutionäres oder nationales Monopol für bestimmte Gruppen erscheint mir deshalb als übersteigert, ganz abgesehen davon, daß er die Volksgemeinschaft stört.«
Seite 43, ein Satz, etwa in der Mitte dieser Seite:
»Nicht alles Leben kann organisiert werden, weil man es sonst mechanisiert. Der Staat ist Organisation, das Leben ist Wachstum.«
Auf Seite 45, etwa nach der Mitte dieser Seite:
»Die Vorherrschaft einer einzigen Partei an Stelle des mit Recht verschwundenen Mehrparteiensystems erscheint mir geschichtlich als ein Übergangszustand, der nur solange Berechtigung hat, als es die Sicherung des Umbruchs verlangt und bis die neue personelle Auslese in Funktion tritt.«
Über die religiöse Frage läßt sich der Zeuge in seiner Rede auf Seite 46, etwa in der Mitte, aus:
»Man soll aber den religiösen Staat, der sich auf ein lebendiges Gottesbekenntnis stützt, nicht etwa verwechseln mit einem verweltlichten Staat, in dem diesseitige Werte an Stelle des Jenseitsglaubens gesetzt und mit religiösen Ehren verbrämt werden.«
Etwa fünf Zeilen danach:
»Gewiß ist die äußere Achtung vor dem religiösen Bekenntnis ein Fortschritt gegenüber jener ehrfurchtslosen Haltung, wie sie ein entarteter Rationalismus zeitigte. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wirkliche Religion die Bindung an Gott und nicht an jene Ersatzmittel ist, die gerade durch die materialistische Geschichtsauffassung eines Karl Marx in das Bewußtsein der Völker eingeführt worden ist. Wenn nun weite Kreise, gerade aus dem Gesichtspunkt des totalen Staates und der restlosen Einschmelzung des Volkes heraus, eine einheitliche Glaubensgrundlage fordern, so sollten sie nicht vergessen, daß wir glücklich sein müssen, eine solche Grundlage im Christentum zu besitzen«
Die drittletzte Zeile dieser Seite:
»Ich bin der Überzeugung, daß die christliche Lehre schlechthin die religiöse Form alles abendländischen Denkens darstellt und daß mit dem Wiedererwachen der religiösen Kräfte eine neue Durchdringung auch des deutschen Volkes mit christlichem Gute stattfindet, dessen letzte Tiefe eine durch das 19. Jahrhundert gegangene Menschheit kaum mehr erahnt. Um diese Entscheidung, ob das neue Reich der Deutschen christlich sein wird oder sich in Sektierertum und halbreligiösem Materialismus verliert, wird gerungen werden.«
Auf Seite 48, etwas über der Hälfte der Seite:
»Ist aber eine Revolution vollzogen, so repräsentiert die Regierung nur die Volksgesamtheit, niemals aber ist sie der Exponent einzelner Gruppen.«
Weiter unten, etwa die zehntletzte Zeile:
»Es geht deshalb nicht an, den Geist mit dem Schlagwort Intellektualismus abzutun. Mangelnder oder primitiver Intellekt berechtigen noch nicht zum Kampfe gegen Intellektualismus. Und wenn wir uns heute manchmal über 150-prozentige Nationalsozialisten beklagen, dann sind es solche Intellektuellen ohne Boden, solche, die Wissenschaftlern von Weltruf ihre Existenz bestreiten möchten, weil sie kein Parteibuch besitzen.«
Auf der nächsten Seite 49 oben, die erste Zeile:
»Man wende auch nicht ein, die geistigen Menschen entbehrten der Vitalität, ohne die ein Volk nicht geführt werden könne. Der wahre Geist ist so lebenskräftig, daß er sich für seine Überzeugung opfert. Die Verwechslung von Vitalität und Brutalität würde eine Anbetung der Gewalt verraten, die für ein Volk gefährlich wäre.«
Über die Gleichheit vor dem Richter spricht er im nächsten Absatz, von dem ich die letzte Zeile verlese:
»Sie gehen an gegen die Gleichheit vor dem Richter, die als liberale Entartung angeprangert wird, wo sie doch in Wirklichkeit die Voraussetzung jedes gerechten Spruches ist. Diese Leute unterdrücken jenes Fundament des Staates, das noch alle Zeit, nicht nur in liberalen Zeiten, Gerechtigkeit hieß. Ihre Angriffe richten sich gegen die Sicherheit und Freiheit der privaten Lebenssphäre, die sich der deutsche Mensch in Jahrhunderten schwerster Kämpfe errungen hat.«
Gegen den Byzantinismus spricht er im nächsten Absatz, zweiter Satz:
»Große Männer werden nicht durch Propaganda gemacht, sondern wachsen durch ihre Taten und werden anerkannt von der Geschichte. Auch Byzantinismus kann über diese Gesetze nicht hinwegtäuschen.«
Über die Erziehung ergeht sich der nächste Absatz, von dem ich mit dem zweiten Satz zu verlesen beginne:
»Aber man soll sich über die biologischen und psychologischen Grenzen der Erziehung nichts vormachen. Auch der Zwang endet an dem Selbstbehauptungswillen der echten Persönlichkeit. Gefährlich sind die Reaktionen auf den Zwang. Als alter Soldat weiß ich, daß straffste Disziplin durch gewisse Freiheiten ergänzt werden muß. Auch der gute Soldat, der sich mit Freude bedingungslosem Gehorsam unterwarf, zählte die Tage seiner Dienstzeit, weil das Freiheitsbedürfnis der menschlichen Natur eingewurzelt ist. Die Anwendung militärischer Disziplin auf das Gesamtleben eines Volkes muß sich deshalb in Grenzen halten, die der menschlichen Anlage nicht zuwiderlaufen.«
Von der nächsten Seite 50 verlese ich aus dem letzten Absatz den zweiten Satz:
»Einmal muß die Bewegung zu Ende kommen, einmal ein festes soziales Gefüge, zusammengehalten durch eine unbeeinflußbare Rechtspflege und durch eine unbestrittene Staatsgewalt, entstehen. Mit ewiger Dynamik kann nicht gestaltet werden. Deutschland darf nicht ein Zug ins Blaue werden, von dem niemand weiß, wann er zum Halten kommt.«
Von der nächsten Seite bringe ich als letztes Zitat den ersten Absatz:
»Die Regierung ist wohlunterrichtet über all das, was an Eigennutz, Charakterlosigkeit, Unwahrhaftigkeit, Unritterlichkeit und Anmaßung sich unter dem Deckmantel der deutschen Revolution ausbreiten möchte. Sie täuscht sich auch nicht darüber hinweg, daß der reiche Schatz an Vertrauen, den ihr das deutsche Volk schenkte, bedroht ist. Wenn man Volksnähe und Volksverbundenheit will, so darf man die Klugheit des Volkes nicht unterschätzen, muß sein Vertrauen erwidern und es nicht unausgesetzt bevormunden wollen. Das deutsche Volk weiß, daß seine Lage eine ernste ist, es spürt die Wirtschaftsnot, es erkennt genau die Mängel mancher aus der Not geborenen Gesetze, es hat ein feines Gefühl für Gewalt und Unrecht, es lächelt über plumpe Versuche, es durch eine falsche Schönfärberei zu täuschen. Keine Organisation und keine noch so gute Propaganda wird auf die Dauer allein imstande sein, das Vertrauen zu erhalten. Ich habe deshalb die Propagandawelle gegen die sogenannten ›Kritikaster‹ anders aufgefaßt, als dieses von manchem geschah. Nicht durch Aufreizung insbesondere der Jugend, nicht durch Drohungen gegenüber hilflosen Volksteilen, sondern nur durch eine vertrauensvolle Aussprache mit dem Volke kann die Zuversicht und die Einsatzfreude gehoben werden. Das Volk weiß, daß ihm schwere Opfer zugemutet werden. Es wird sie ertragen und dem Führer an unerschütterlicher Treue folgen, wenn man es mitraten und -taten läßt, wenn nicht gleich jedes Wort der Kritik als Böswilligkeit ausgelegt wird, und wenn verzweifelnde Patrioten nicht zu Staatsfeinden gestempelt werden.«