[Das Gericht vertagt sich bis
19. Juni 1946, 10.00 Uhr.]
Einhundertachtundfünfzigster Tag.
Mittwoch, 19. Juni 1946.
Vormittagssitzung.
[Der Angeklagte von Papen im Zeugenstand.]
GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Es wird gemeldet, daß der Angeklagte von Neurath der Verhandlung heute fernbleibt.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Bevor wir von Herrn Messersmith auf etwas anderes übergehen, Angeklagter, möchte ich an Sie drei Fragen stellen über die anderen Länder in Südosteuropa, die Herr Messersmith erwähnt hat.
Wußten Sie, daß das Deutsche Auswärtige Amt die Henlein-Bewegung der Sudetendeutschen finanziert und geleitet hat?
VON PAPEN: Ich glaube nicht, daß mir das zu dieser Zeit bekanntgeworden ist, denn im Jahre 1935, als dieser Bericht geschrieben wurde, war die sudetendeutsche Frage gar nicht aktuell.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wann haben Sie davon gehört?
VON PAPEN: Im wesentlichen hier in diesem Saal.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gut. Wußten Sie, daß das Reich Herrn Codreanu und die Eiserne Garde in Rumänien unterstützt hat?
VON PAPEN: Ich glaube, daß das auch in einem sehr viel späteren Zeitpunkt war.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Davon erfuhren Sie auch nach dem Jahre 1935. Wann haben Sie davon erfahren?
VON PAPEN: Ich kann es nicht sagen, aber ich glaube, daß diese Ereignisse mit der Eisernen Garde in Rumänien etwa in das Jahr 1937 gefallen sind. Ich kann mich irren, aber ich glaube es nicht.
VORSITZENDER: Sir David! Ich glaube, Sie stehen zu nahe am Mikrophon.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich bitte um Entschuldigung, Euer Lordschaft.
Wußten Sie, daß im Jahre 1944 in einer amtlichen Veröffentlichung des Reiches, die von dem Angeklagten Kaltenbrunner redigiert wurde, davon gesprochen wurde, daß Sie möglicherweise der Mann wären, um dasselbe in Ungarn zu tun, nämlich Ungarns Anschluß an das Reich vorzubereiten, die innenpolitische Arbeit in Ungarn vorzunehmen, daß Ungarn angeschlossen werden könne?
VON PAPEN: Nein. Ich habe es erstens nicht gewußt, und zweitensmal darf ich da sagen, ist es eine unmögliche Idee, denn ich war mit dem Reichsverweser Ungarns, Admiral Horthy, sehr befreundet, und ich habe in meinem Fragebogen an den Admiral Horthy eine Frage an ihn gestellt, die er leider nicht beantwortet hat, weil er sich nicht mehr erinnert. Dort ist festgestellt, daß im Jahre 1943, im Herbst 1943, der ungarische Innenminister Keresctes-Fischer mir ein Dokument übergab, aus dem sich zeigte, daß deutsche oder deutsch-ungarische Kräfte einen Anschluß von Ungarn nach Deutschland durch eine Revolte herbeiführen wollten. Dieses Dokument habe ich auf Wunsch des Reichsverwesers Horthy sofort dem Herrn von Ribbentrop übergeben und ihn gebeten, die geeigneten Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Das steht alles aktenmäßig fest, und der ungarische Innenminister wird das bestätigen können.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Es interessiert mich nicht, ob Sie das angenommen hätten oder nicht. Was ich sagen will ist, daß Sie dazu ausersehen waren. Wissen Sie das nicht? Sie kennen doch das Dokument, von dem ich spreche, D-679, mit vielen Bemerkungen von Kaltenbrunner, in welchem über Sie gesprochen wird als die Person, die für die innerpolitische Arbeit in Ungarn in Frage käme.
Euer Lordschaft! Es ist Seite 78 des Dokumentenbuches 11a, GB-503, und steht auf Seite 46 des deutschen Dokumentenbuches 11a.
VON PAPEN: Ja, Sir David, ich habe diese Notiz durchgesehen vorgestern, nachdem Sie sie hier vorgelegt haben.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich werde Sie dann nicht weiter damit bemühen, wenn Sie erst hier davon erfahren haben. Ich möchte nur wissen: Wußten Sie im Jahre 1944, daß Sie in einem deutschen Staatsdokument vorgeschlagen wurden als die Person, die die innerpolitische Arbeit in Ungarn vornehmen könne, damit Ungarn ans Reich angeschlossen werden könne? Wenn Sie sagen, daß Sie davon nichts wußten, werde ich Sie damit nicht weiter bemühen. Sie sagen, daß Sie das erst seit vorgestern wissen?
VON PAPEN: Einmal das und zweitensmal ist das historisch bekannt, daß ich mich oft und oft gegen diese Bestrebungen von Ungarn gewandt habe, die versuchten, Ungarn auf irgendeine Weise später durch Besetzung zu einem Teil des Deutschen Reiches zu machen. Ich habe das für die unrichtigste und unmöglichste Politik gehalten, die man machen konnte.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich werde Sie mit diesem Dokument nicht wieder bemühen, da Sie es ja nicht kannten. Wir werden zu einer anderen Sache übergehen.
Sie erinnern sich doch an Gauleiter Rainer, den Herrn, mit dem Sie zufällig eine sicher sehr interessante Besprechung am Vorabend des Anschlusses hatten, Dr. Rainer, den Zeugen? Bitte, betrachten Sie Dr. Rainers Beurteilung der Lage Österreichs zur Zeit, als Sie Ihr Amt übernahmen, und sagen Sie dem Gerichtshof, ob Sie ihm zustimmen.
Euer Lordschaft! Es ist auf Seite 6 des Dokumentenbuches 11. Das ist Dokument 812-PS. Es fängt auf Seite 6 an, und die Stelle, die ich zitieren werde, ist Seite 8.
Haben Sie die Stelle gefunden? Sie beginnt mit den Worten:
»Damit begann der erste Kampfabschnitt, der mit der Juli-Erhebung 1934 endete. Der Entschluß zur Juli-Erhebung war richtig; in der Durchführung steckten viele Fehler. Das Ergebnis war eine völlige Zerschlagung der Organisation, Verlust ganzer Schichten von Kämpfern durch Gefangennahme oder Flucht ins Altreich und im politischen Verhältnis des Deutschen Reiches zu Österreich eine formelle Anerkennung des Bestehens des Österreichischen Staates durch die Deutsche Reichsregierung. Mit der Depesche an Papen, in der die Weisung enthalten war, wieder normale Beziehungen zwischen den beiden Staaten herzustellen, war der erste Kampfabschnitt durch den Führer liquidiert und eine neue Methode der politischen Durchdringung begonnen.«
Stimmen Sie mit ihm darin überein, daß das eine richtige Beschreibung Ihrer Tätigkeit ist – »eine neue Methode der politischen Durchdringung«.
VON PAPEN: Nein, Sir David, das ist eine sehr falsche Beschreibung meiner Tätigkeit.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wenn Sie nicht mit Dr. Rainer übereinstimmen, dann sagen Sie mir doch bitte, kennen Sie den Zeugen? Sie müssen doch den Zeugen Dr. Paul Schmidt ziemlich gut kennen. Kennen Sie ihn?
VON PAPEN: Ja.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gut. Ich glaube, daß Sie mir zustimmen werden, daß er eine Persönlichkeit ist, gegen die niemand während des ganzen Prozesses etwas gesagt hat. Ich habe kein Wort der Kritik gegen Paul Schmidt gehört. Stimmen Sie mit mir darin überein?
VON PAPEN: Sprechen Sie von dem Zeugen, dem Dolmetscher Schmidt oder dem Außenminister Schmidt?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Dem Dolmetscher Paul Schmidt.
VON PAPEN: Dem Dolmetscher Paul Schmidt; darüber werde ich Ihnen meine Ansicht gleich sagen.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Stimmen Sie mit mir dahin überein, daß er eine vertrauenswürdige Person ist, oder sagen Sie, daß er nicht vertrauenswürdig ist?
VON PAPEN: Ich habe gegen die menschlichen Qualitäten des Herrn Schmidt gar nichts einzuwenden, aber ich habe sehr viel einzuwenden, daß Herr Schmidt sich ein Urteil erlaubt über meine politische Tätigkeit in Österreich.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Bevor Sie das erklären, sehen Sie es sich an. Sie finden das Affidavit von Dr. Paul Schmidt auf Seite 41 des Dokumentenbuches 11a, das ist Seite 37 des deutschen Dokumentenbuches. Es ist Dokument 3308-PS. Es ist der 8. Absatz. Hören Sie sich jetzt bitte die Ansicht des Dr. Paul Schmidt an:
»Pläne für den Anschluß Österreichs waren von Anfang an ein Teil des Nazi-Programms. Nach dem Mord von Dollfuß zwang italienischer Widerstand zeitweilig ein vorsichtigeres Annähern an dieses Problem, aber die Anwendung von Sanktionen gegen Italien durch den Völkerbund und dazu die rasche Verstärkung deutscher militärischer Macht machten die Wiederaufnahme des österreichischen Programms sicherer. Als Göring im Anfang 1937 Rom besuchte, erklärte er, daß der An schluß Österreichs an Deutschland unvermeidlich und früher oder später zu erwarten wäre. Als Mussolini diese Worte in der deutschen Sprache hörte, schwieg er still, und als ich sie ins Französische übersetzte, sprach er nur sehr schwach dagegen. Die Vollziehung des Anschlusses war im wesentlichen eine Parteiangelegenheit, in der es die Rolle von Papens war, nach außen glatte diplomatische Beziehungen aufrechtzuerhalten, während die Partei mehr abweichende Wege benutzte, um die Vorbedingungen für den zu erwartenden Schritt zu treffen.«
Und dann, Angeklagter, um es richtigzustellen, begeht er einen Irrtum. Es ist eine Rede Hitlers vom 18. Februar, unter die der Übersetzer irrtümlicherweise Ihren Namen gesetzt hat. Ich insistiere darauf nicht, möchte aber wissen, ob Sie zugeben, daß es Ihre Rolle war, »glatte diplomatische Beziehungen nach außenhin aufrechtzuerhalten, während die Partei mehr abweichende Wege benutzte«. Stimmen Sie mit ihm darin überein, daß das eine genaue Beschreibung Ihres Programms ist, Ihrer Mission in Österreich?
VON PAPEN: Ganz im Gegenteil, Sir David. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Ich habe meine Aufgabe in Österreich dem Hohen Gericht sehr klar und deutlich auseinandergesetzt.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich verstehe.
VON PAPEN: Es war eine Aufgabe der Befriedung und Normalisierung und eine Weiterführung der Politik eines Ineinanderwachsens der beiden Staaten auf einem evolutionären Wege.
Und nun lassen Sie mich noch ein Wort sagen zu diesem Affidavit des Herrn Schmidt. Wir haben damals festgestellt, als der Zeuge hier in diesem Stuhle saß, daß dieses Affidavit ihm vorgelegt wurde, als er im Krankenhaus nach schwerer Krankheit noch zu Bette lag und man ihm dieses Schriftstück zur Unterschrift gegeben hat...
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Der Gerichtshof wird das zu würdigen wissen. Wir haben das alles schon gehört, und Dr. Schmidt ist auch im Kreuzverhör vernommen worden, und Sie dürfen mir glauben, daß der Gerichtshof über die Umstände des Zustandekommens des Affidavits genau Bescheid weiß. Wenn Sie noch irgendwelche Erklärungen zum Inhalt hinzufügen wollen, dann bin ich sicher, daß der Gerichtshof Ihnen das gern gestattet. Aber über die Umstände brauchen Sie nicht mehr zu sprechen. Der Gerichtshof kennt das alles.
VON PAPEN: Ich werde über den Inhalt kommentieren, und zwar werde ich ausführen, daß der Gesandte Schmidt, der später eine höchst einflußreiche Rolle bei Außenminister von Ribbentrop gehabt hat, in den Jahren, die hier zur Debatte stehen, eine völlig untergeordnete Stellung im Auswärtigen Amt bekleidet hat, die es ihm nicht erlaubte, einen Einblick oder einen genauen Einblick in die Zustände in Österreich über meine Politik, über meine Berichterstattung zu gewinnen.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gut, wenn das so ist...
VON PAPEN: Sir David! Das wird Ihnen morgen oder übermorgen auch der Herr von Neurath noch bestätigen können.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Darüber wollen wir nicht weiter streiten. Der Gerichtshof hat den ganzen Lebenslauf Dr. Schmidts vor sich und die eidesstattliche Erklärung. Sie sagen, Sie hätten dem Gerichtshof Ihre Auffassung über Ihre Mission in Österreich erklärt. Wenn Ihre Auffassung eine solche war, wie Sie sie darstellen, warum war es für Sie notwendig, die Lage der Explosivkammern auf Österreichs strategischen Straßen ausfindig zu machen? Stellte dies nicht wieder einen Rückfall auf die Entwicklung der »Zylinder«-Idee dar, die Sie so stark abgelehnt haben?
Wenn Sie sich dessen nicht mehr entsinnen, dann darf ich Sie vielleicht daran erinnern.
Es ist Dokument D-689.
Der Gerichtshof wird es auf Seite 101 finden. Die Stelle ist auf Seite 102, es ist auf Seite 90 und 91 in der deutschen Fassung des Dokumentenbuches 11a. Es wird GB-504.
Es handelt von der Eröffnung der Großglocknerstraße, die, wie Sie wissen, eine Straße von strategischer Bedeutung ist. Sie führt von Salzburg nach Kärnten. Erinnern Sie sich, daß nach Ihrer Darstellung die Leute in Salzburg alles gesungen haben bis auf das Horst-Wessel-Lied. Dann sprechen Sie über die Teilnahme der deutschen Rennfahrer und sagen dann im dritten und nächsten Absatz:
»Der Straßenbau ist ohne Zweifel ein erstrangiges Kulturwerk, an dem reichsdeutsche Baufirmen in erster Linie und maßgeblich beteiligt waren. Der Chefingenieur der reichsdeutschen Firma, die den Durchgangstunnel am höchsten Punkt gebaut hatte, erbot sich, mir die Lage der Sprengkammern in diesem Tunnel anzugeben. Ich habe ihn an den Militär-Attaché verwiesen.«
Das war die Art, wie Sie Kultur und Ihr Lob der Vorzüge deutscher Straßenkonstruktion mit der Ausforschung der Lage der Explosivkammern des Tunnels an dem wichtigsten strategischen Teil der Straße verbunden haben. Warum haben Sie das für so wichtig gehalten, daß Sie es an Hitler sandten mit drei Durchschlägen für das Auswärtige Amt?
VON PAPEN: Sir David! Ich gebe einen genauen Bericht von den Vorgängen bei der Einweihung dieser Straße.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Das will ich gar nicht haben, der Gerichtshof kann sich das beschaffen. Ich frage Sie, warum Sie an Hitler einen Bericht darüber sandten, daß der reichsdeutsche Ingenieur Ihnen die Sprengkammern in dem wichtigen Teil dieser Straße gezeigt hat. Warum haben Sie diesen Bericht an Hitler gesandt? Ich will, daß Sie das dem Gerichtshof sagen.
VON PAPEN: Weil es mir interessant schien, daß dieser Mann unaufgefordert an mich herangetreten ist und mir etwa gesagt hatte: »Da und da kann man diesen Tunnel sprengen.« Sie wissen doch, daß wir damals in sehr gespannten Beziehungen zu Italien waren, daß Italien an der Brennergrenze mobilisiert hatte, und deswegen schien es mir von Interesse, daß diese neue große Verbindung zwischen Italien und Deutschland zu einem geeigneten Zeitpunkt wieder unterbrochen werden konnte. Im übrigen habe ich die Sache an meinen Militär-Attaché verwiesen, weil sie mich persönlich nicht interessierte.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, Sie hatten sich damals schon außerhalb der Art von Leuten gestellt, die so etwas selbst taten. Sie waren der Chef der Gesandtschaft, und das war Sache des Militär-Attachés.
War das Ihr Plan, Angeklagter, daß Sie bei Einführung der deutschen Kultur wie bei der Vorführung des Straßenbaues sich zu gleicher Zeit die strategischen Informationen beschafften, die Sie an Ihre Regierung weiterleiten konnten, wobei Sie die strategischen Pläne der Österreichischen Regierung zur Benützung der Straße untergruben?
VORSITZENDER: Der Angeklagte hat doch gesagt, daß es eine Straße war, die Deutschland mit Italien verband, nicht wahr?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, Euer Lordschaft! Die Straße führt in der Tat von Salzburg, das praktisch an der deutschen Grenze liegt, nach Kärnten in Südösterreich. Es war daher eine neue Chaussee für den Verkehr zwischen Nord- und Südösterreich.
VORSITZENDER: Hat sie in Wirklichkeit Deutschland mit Italien verbunden oder Österreich mit Italien?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Österreich.