[Zum Zeugen gewandt:]
Haben Sie selbst in dem Parteiprogramm der Nationalsozialisten irgendeine Absicht oder den Willen zu einer Auseinandersetzung mit anderen Mächten erblickt?
VON NEURATH: Nein. Entgegen den Behauptungen der Anklage, die durch Wiederholung der Behauptung nicht mehr die Wahrheit erreicht, kann ich mit dem besten Willen keine Absicht der kriegerischen Auseinandersetzung im Falle der Nichterreichung der Ziele sehen, und ich weiß auch aus Hitlers verschiedenen Äußerungen, daß er selbst damals, das heißt am Beginn seiner Regierungszeit, nicht daran dachte. Er wollte ein möglichst enges Zusammengehen mit England und mit Frankreich, ein stabiles, die alte Feindschaft der beiden Völker beseitigendes Friedensverhältnis. Letzteres gab er mir als besonderen Grund dafür an, daß er nach der Saarabstimmung öffentlich erklärt hat, er verzichte ein für allemal auf die Rückgewinnung des Elsaß.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Die Anklage macht Ihnen nun insbesondere den Vorwurf, Sie hätten aus folgenden Sätzen des Parteiprogramms entnehmen müssen, daß die Nazis aggressive außenpolitische Ziele verfolgten und damit einen Krieg anstrebten, und zwar von Anfang an. Es heißt dort:
»Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu einem Großdeutschland. Wir fordern die Gleichberechtigung des deutschen Volkes gegenüber den anderen Nationen, Aufhebung der Friedensverträge von Versailles und St. Germain.«
Wollen Sie sich mal dazu äußern?
VON NEURATH: Ich kann mit dem besten Willen auch heute keinen aggressiven Geist in diesen hier zitierten Sätzen finden. Das Selbstbestimmungsrecht ist eine völkerrechtlich anerkannte Grundvoraussetzung im modernen Staat. Sie lag, wenigstens theoretisch, auch dem Versailler Vertrag zugrunde, und auf seiner Basis erfolgten seinerzeit die Abstimmungen in den Grenzgebieten. Der Zusammenschluß aller Deutschen auf der Grundlage des anerkannten Prinzips war daher außenpolitisch und völkerrechtlich ein durchaus zulässiges, politisches Postulat.
Die Beseitigung der diskriminierenden Bestimmungen des Versailler Vertrages auf dem Wege einer vertraglichen Abänderung war in der Tat das wesentliche Ziel der deutschen Außenpolitik, wie schon hervorgehoben, auch aller den Nationalsozialisten vorausgegangenen bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen. Ich kann nicht einsehen, wieso man zur Annahme einer Angriffsabsicht kommen kann, wenn ein Volk anstrebt, sich von den Lasten eines unrecht empfundenen Vertrags zu befreien, vorausgesetzt, daß dies auf friedlichem Wege geschieht.
Und das, möchte ich noch hinzufügen, ist die Außenpolitik, die ich vertreten habe bis zum Moment, als ich Ende 1937 erkennen mußte, daß Hitler den Krieg als Mittel in seine Politik einbezog. Vorher war, wie oben ausgeführt, niemals davon die Rede gewesen.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Wie war nun die Wirkung der Machtübernahme in Deutschland durch Hitler auf das Ausland?
VON NEURATH: Es trat sofort eine fühlbare Versteifung der Stimmung, ein Mißtrauen gegenüber der neuen Regierung zutage. Die Ablehnung war unverkennbar. Das trat für mich besonders deutlich auf der Weltwirtschaftskonferenz des Jahres 1933 in London zutage, wo ich Gelegenheit hatte, mit vielen alten Freunden und Mitgliedern anderer Delegationen zu sprechen und mich über diesen Stimmungsumschwung genau zu orientieren. Die praktische Auswirkung dieser Stimmung war größere Zurückhaltung bei allen anschließenden Verhandlungen, als auch bei der wiederbeginnenden Tagung der Abrüstungskonferenz.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Ich darf hierzu auf ein Schreiben verweisen, das sich als Nummer 11 in meinem Dokumentenbuch befindet. Es ist ein Bericht Herrn von Neuraths an den Reichspräsidenten von Hindenburg aus dar Londoner Konferenz und datiert vom 19. Juni 1933. Ich darf nur einen ganz kurzen Abschnitt zitieren, Seite 47.
»Leider muß ich sagen, daß die Eindrücke, die ich hier empfangen habe, auf das höchste besorgniserregend sind.
Auf Grund der Berichte unserer Missionschefs war ich auf manche schlimme Erscheinung, viele betrübende Vorgänge und störende Urteile des Auslandes gefaßt. Dennoch hatte ich bei allen Befürchtungen gehofft, daß manches vielleicht nur vorübergehend wirkt, daß vieles sich ausgleichen konnte. Meine Befürchtungen haben sich aber berechtigter als meine Hoffnungen erwiesen. Ich habe London kaum wiedererkannt. Ich fand eine Stimmung vor – zunächst in der englischen Welt, dann in den internationalen Kreisen –, die einen Rückschritt der politischen und seelischen Einstellung Deutschland gegenüber aufzeigt, der nicht ernst genug zu nehmen ist.«