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[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]

1 Der von RA. Dr. von Lüdinghausen zitierte Text der Rede Neuraths vom 30. Oktober 1937 ist eine Rückübersetzung aus dem Englischen.

Nachmittagssitzung.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr von Neurath! Es ist in der Anklage erwähnt eine Besprechung vom 28. Mai 1938, in der Hitler, von Ribbentrop, Göring und die Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile anwesend waren und von der behauptet worden ist in dem Affidavit des Herrn Wiedemann, daß auch Sie dabei gewesen sind.

VON NEURATH: Ich kann mich überhaupt an keine solche Besprechung erinnern, auch nicht an die von Wiedemann erwähnte Äußerung von Hitler. Im übrigen haben auch Keitel, Ribbentrop, Göring, Raeder von dieser ganzen Besprechung nichts gewußt. Vielleicht ist ein Irrtum oder eine Verwechslung mit der von Schmundt in seinen Aufzeichnungen angeführten Besprechung vom 22. April oder 28. April 1938 eingetreten. Aber auch bei dieser war ich nicht zugegen, ich war überhaupt nicht in Berlin.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Sie hatten sich ja nun nach Ihrer Demission wieder völlig ins Privatleben zurückgezogen. Haben Sie sich nun bei der Sudetenkrise im Herbst 1938 erst wieder aktiv betätigt und sich für eine friedliche Politik eingesetzt?

VON NEURATH: Ja. Nach meinem Abschied im Februar 1938 lebte ich auf meinem Gut. Etwa am 26. September erhielt ich einen telephonischen Anruf von einem meiner früheren Ministerkollegen, Hitler habe die Wehrmacht angewiesen, bis zum 28. September marschbereit zu sein. Anscheinend wolle er die Sudetenlandfrage mit Gewalt lösen. Ich möchte doch sofort nach Berlin kommen und versuchen, Hitler von seiner Absicht abzubringen.

Ich fuhr noch in der Nacht nach Berlin, orientierte mich nach meiner Ankunft zunächst im Auswärtigen Amt über die Lage und meldete mich bei Hitler. Ich wurde abgewiesen. Trotzdem ging ich aber am 28. in die Reichskanzlei. Ich traf dort die ganze Umgebung Hitlers marschbereit. Auf meine Frage nach Hitler wurde mir erwidert, er sei in seinem Zimmer, wo er aber niemand mehr empfange. Ich ging trotzdem zur Tür und trat zu Hitler ein. Als er mich sah, fragte er mich in rauhem Ton: »Was wollen Sie eigentlich hier?« Ich erwiderte ihm, ich wolle ihn auf die Folgen seines beabsichtigten Schrittes aufmerksam machen. Ich setzte ihm auseinander, daß er den europäischen, wahrscheinlich den Weltkrieg heraufbeschwöre, wenn er mitten in den noch schwebenden Verhandlungen über das Sudetenproblem in die Tschechoslowakei einmarschieren wird. Diese würde sich bestimmt wehren, und es würde kein leichter Kampf sein und jedenfalls Frankreich, England und Polen auf den Plan rufen. Es wäre von ihm ein nicht zu verantwortendes Verbrechen, soviel Blut zu vergießen, solange nicht alle Möglichkeiten einer friedlichen Regelung ausgeschöpft seien. Ich wüßte, daß Mr. Chamberlain bereit sei, noch einmal nach Deutschland zu kommen und daß er außerdem bereit sei, die Tschechei zur Abtretung des Sudetenlandes zu veranlassen, wenn dadurch der Krieg verhindert werden könnte.

VORSITZENDER: Woher wußten Sie, daß Mr. Chamberlain bereit sein würde zu kommen?

VON NEURATH: Dadurch, daß ich den Englischen Botschafter auf der Straße getroffen habe.

VORSITZENDER: Fahren Sie fort!

VON NEURATH: Hitler wollte von dieser Konferenz nichts wissen. Während unserer Unterhaltung war aber auch Göring erschienen und unterstützte mich in meinen Bemühungen, Hitler doch zur Konferenz zu bewegen. Schließlich willigte Hitler ein, wenn ich es erreichen könnte, daß Chamberlain, Daladier und Mussolini bis zum nächsten Tage in Berlin seien. Da dies für Mussolini unmöglich war, schlug ich München als Verhandlungsort vor. Ich setzte mich dann sofort mit dem Englischen und Französischen Botschafter, die beide auf dem Weg zu Hitler waren, in Verbindung. Hitler selbst telephonierte noch mit Mussolini direkt, und bis 6.00 Uhr waren die Zusagen und Antworten da.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ich darf das Gericht bitten, hierzu von meinem Dokument Nummer 20 in meinem Dokumentenbuch Nummer I, Seite 72 b, einen Auszug aus dem oft zitierten Buch des Botschafters Henderson »Failure of a Mission«, amtlich Kenntnis zu nehmen.

Haben Sie dann an der Münchener Konferenz, die im Anschluß hieran stattfand, persönlich teilgenommen?

VON NEURATH: Ja, da ich bei der gereizten Stimmung Hitlers über den Verlauf der Konferenz in Sorge war, sagte ich ihm, ich würde es für zweckmäßig halten, wenn ich auch nach München käme, da ich die auswärtigen Vertreter persönlich kenne und deshalb auch als Vermittler dienen könnte. Als er zustimmte, lud mich Göring ein, mit seinem Extrazug mitzufahren. Ich habe dann im Verlauf der langen Sitzung öfters mit den drei Personen und mit Hitler gesprochen und aufgetretene Differenzen zu vermitteln versucht.

Mr. Chamberlain bat mich am Schlusse dieser Besprechung, ich möchte ihm für den nächsten Tag eine Besprechung mit dem Führer allein, ohne Ribbentrop, vermitteln, da er noch einen Vorschlag machen möchte. Der Führer wollte dies zunächst nicht. Ich überredete ihn aber schließlich doch dazu. In dieser Besprechung kam dann ein Konsultativabkommen England- Deutschland zum Abschluß, dem sich Frankreich später anschloß. Chamberlain, mit dem ich im gleichen Hotel wohnte, zeigte mir dieses Abkommen nach der Besprechung mit großer Freude, und auch ich war sehr erfreut darüber, hoffte ich doch, dadurch die englisch-deutschen Beziehungen, die durch die Zusammenkünfte in Godesberg und Berchtesgaden sehr gelitten hatten, wieder in normale Bahnen gebracht und den Weg zu weiteren Besprechungen freigemacht zu haben. Chamberlain lud mich, wie schon im Sommer 1937, zu einem Besuch nach England ein. Ich sagte ihm sofort, daß ich nicht glaubte, daß Hitler, der mir im Sommer 1937 die Reise nach England verboten hatte, jetzt die Genehmigung dazu geben würde, zumal da ich ja doch gar nicht mehr Außenminister sei. Der Englische Botschafter wiederholte dann im Januar 1938 nochmals die Einladung. Ich mußte ihm aber mitteilen, daß ich keine Gelegenheit gehabt hätte, die Zustimmung Hitlers zu erhalten.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Herr Präsident! Ich darf hierzu vorlegen das Dokument Nummer 21 meines Dokumentenbuches. Es ist ein Brief des damaligen Französischen Botschafters François-Poncet vom 18. Oktober 1938, also wenige Wochen nach der Münchener Konferenz.

Ich darf aus demselben hier nur zwei Sätze zitieren:

»Aber von uns beiden bin ich es, der die größere Schuld der Dankbarkeit eingegangen ist. Ich habe bei Ihnen stets, auch in den heikelsten Situationen, die liebenswürdigste, nachsichtigste und vertrauensvollste Aufnahme gefunden. Sie haben mir eine schwierige Aufgabe leicht gemacht. Ich werde niemals vergessen, was ich Ihnen schuldig bin.«

Herr Präsident! Ich darf dann weiter an dieser Stelle einen vor wenigen Tagen eingegangenen Brief des Französischen Botschafters François-Poncet vorlegen, den ich schon im Anfang meiner Beweisführung mit der gleichen Bitte erwähnt hatte. Ich hatte gebeten, den Französischen Botschafter als Zeugen zu laden, und als Antwort hierauf ging ein Schreiben des Herrn Botschafters vom 7. Juni an die Französische Anklagevertretung ein, deren Abschrift mir durch das Generalsekretariat in der vorigen Woche, ich glaube diesen Donnerstag oder Freitag, übermittelt wurde.

Ich möchte an das Gericht die Bitte richten, dieses Schreiben des Französischen Botschafters, trotzdem es nicht in der an sich vorgeschriebenen Form eines Affidavits abgefaßt ist, sondern als Privatbrief – allerdings an die Anklagebehörde hier – doch in gleicher Weise zu würdigen, als wenn es in Form eines Affidavits abgefaßt wäre. Das Original dieses Schreibens befindet sich im Besitz der Französischen Anklagevertretung. Die Französische Anklagevertretung hat mir zugesagt, auf Anordnung des Gerichts das Original vorzulegen. Ich selbst erlaube mir, die zugegangene Abschrift des Generalsekretariats in beglaubigter Abschrift zu überreichen.

VORSITZENDER: Das Originaldokument sollte dem Gerichtshof jetzt vorgelegt werden oder sobald es möglich ist.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Die Französische Anklagevertretung hat mir vorgestern gesagt, da ich mit dem Anklagevertreter gesprochen habe, sie hätte es im Moment auch nicht hier. Ich weiß nicht, wo sie es haben. Deshalb bat ich darum, daß es vorgelegt werde, sonst hätte ich es schon vorgelegt.

VORSITZENDER: Gut. Es müßte aber sobald wie möglich vorgelegt werden. Sie wollen es doch als Beweis anbieten, nicht wahr?

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Jawohl.

VORSITZENDER: Welche Nummer hat es?

DR. VON LÜDINGHAUSEN: 162.

VORSITZENDER: Ich nehme an, daß kein Einwand erhoben wird?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, Euer Lordschaft.

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Es heißt in diesem Brief – wenn ich kurz eine Stelle wenigstens zitieren darf...

VORSITZENDER: Sie haben ihm eine Nummer gegeben, nicht wahr?

DR. VON LÜDINGHAUSEN: Nummer 162.

VORSITZENDER: Gut, fahren Sie fort!

DR. VON LÜDINGHAUSEN:

»Er« – das heißt Herr von Neurath – »verschärfte nie die Zwischenfälle, sondern suchte im Gegenteil nach versöhnlichen und friedlichen Lösungen. Er bemühte sich, den auswärtigen diplomatischen Vertretern ihre Aufgabe in der deutschen Hauptstadt zu erleichtern und diese, darunter ich selbst, wußten ihm Dank dafür. Ich bezweifle nicht, daß er häufig den Reichskanzler Hitler auf die Gefahren aufmerksam machte, denen Deutschland durch die Exzesse seines Regimes ausgesetzt war und daß er ihn die Stimme der Vorsicht und der Mäßigung hören ließ.«

Ich komme nun zu einem anderen Gebiet und möchte folgendes vortragen: