[Das Gericht vertagt sich bis
29. Juni 1946, 10.00 Uhr]
Einhundertsiebenundsechzigster Tag.
Samstag, 29. Juni 1946.
Vormittagssitzung.
[Der Zeuge von Schirmeister im Zeugenstand.]
VORSITZENDER: Ich werde die zusätzlichen Anträge auf Dokumente durchgehen.
Der erste Antrag auf dieser Liste war für den Angeklagten von Neurath und ist schon erledigt.
Der zweite Antrag war für den Angeklagten Streicher; der ist zurückgezogen worden.
Der dritte Antrag ist für den Angeklagten Dönitz auf eine eidesstattliche Erklärung des ehemaligen Marinerichters Jäckel; diesem Antrag wird stattgegeben.
Die nächsten beiden, 4 und 5, waren für den Angeklagten von Neurath; diese sind zurückgezogen worden.
Die nächsten drei, 6, 7 und 8, für den Angeklagten Rosenberg werden abgelehnt.
Die nächsten für den Angeklagten von Papen sind alle schon während seiner Verteidigung erledigt worden.
Den nächsten zwei für den Angeklagten Bormann wird stattgegeben.
Die letzten drei, 12, 13 und 14 für den Angeklagten Göring sind abhängig von der Möglichkeit, eine Einigung über die Frage zu erzielen, ob eidesstattliche Versicherungen vorgelegt werden oder Zeugen gerufen werden sollen. Deshalb wird dieser Antrag vorläufig zurückgestellt.
Das wäre alles.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Bevor der Gerichtshof zur Tagesordnung übergeht, möchte ich ihm vom Ergebnis meiner Nachfragen Mitteilung machen, die ich über die noch ausstehenden Zeugen angestellt habe. Vielleicht können diese noch von einem Verteidiger ergänzt werden.
Soweit ich sehen kann, sind es die von Eurer Lordschaft eben erwähnten Zeugen für den Angeklagten Göring über die Frage von Katyn.
Euer Lordschaft! Die nächsten Zeugen, die noch zu rufen wären, sind drei Personen, die der Gerichtshof im Fall des Angeklagten Kaltenbrunner zum Kreuzverhör, wenn es gewünscht wird, zugelassen hat. Ich habe eben mit Dr. Kauffmann gesprochen; er sagt, daß er die Zeugen Tiefenbacher, Steinbauer und Strupp nicht zum Kreuzverhör benötigen wird.
Soviel ich weiß, kommt dann Admiral Boehm im Falle des Angeklagten Raeder.
VORSITZENDER: Bevor Sie dazu kommen, Sir David... auf der Liste, die mir vorliegt, war ein Zeuge namens Strupp für den Angeklagten Kaltenbrunner.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, Euer Lordschaft, Es waren drei: Tiefenbacher, Steinbauer und Strupp. Dr. Kauffmann sagte mir, daß er sie nicht benötige.
VORSITZENDER: Gut. Dann haben Sie über den Angeklagten Raeder gesprochen.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, Euer Lordschaft, es ist noch die Frage des Admirals Boehm zu behandeln. Dr. Siemers wollte der Anklagebehörde eine eidesstattliche Versicherung zukommen lassen, aber ich habe sie bis jetzt noch nicht gesehen. Ich nehme jedoch nicht an, daß die Anklagevertretung diesen Zeugen benötigen wird, es sei denn, daß die eidesstattliche Versicherung ganz anders ausfällt, als ich erwarte.
Euer Lordschaft! Die einzigen anderen Zeugen, von denen ich weiß, sind die drei, die Dr. Fritz gestern im vorliegenden Falle beantragt hat. Das liegt dem Gerichtshof zur Entscheidung vor.
VORSITZENDER: Ja.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Soweit ich sehen kann, sind das alle noch anstehenden Zeugen, es sei denn, ich hätte welche ausgelassen.
VORSITZENDER: Ist am 26. Juni ein Antrag auf Zeugen für den Angeklagten Bormann gestellt worden?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich habe Dr. Bergold heute morgen gefragt. Er hat nur einen Zeugen zu rufen, sagte er mir, aber der ist unglücklicherweise heute nicht da.
VORSITZENDER: Man sagte mir eben, daß er gerade angekommen ist.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft Information ist neuer als meine.
VORSITZENDER: Sie kam erst diesen Augenblick.
Was die anderen Zeugen betrifft, so ist nur einer hier, den Dr. Bergold jetzt rufen will.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Das hat mir Dr. Bergold heute morgen mitgeteilt.
DR. BERGOLD: Hohes Gericht! Es ist nur ein Zeuge eingetroffen. Ich habe aber noch Anträge gestellt, die noch nicht vorentschieden sind und von denen ich auch nicht weiß, ob die Zeugen jemals eintreffen werden oder ausfindig zu machen sind. Der Fall Bormann ist dadurch gekennzeichnet, daß weder der Angeklagte noch fast die gesamten Zeugen auffindbar sind. Ich werde im Zuge der heutigen Verhandlung des Falles Bormann einen besonderen Antrag noch stellen, den ich jetzt nicht noch stellen will.
VORSITZENDER: Einen Augenblick. Können Sie uns genau sagen, welche Zeugen Sie meinen? In Ihrem Brief vom 29. Juni ziehen Sie doch Ihren Antrag für Fräulein Christians zurück.
DR. BERGOLD: Ja, Herr Vorsitzender.
VORSITZENDER: Dr. Klöpfer ist der Zeuge, der eben in Nürnberg eingetroffen ist.
DR. BERGOLD: Jawohl. Es steht dann noch aus der Zeuge Kupfer und der Zeuge Rattenhuber; ebenso steht noch aus die Zeugin Christians.
VORSITZENDER: Helmuth Friedrich ist noch nicht gefunden?
DR. BERGOLD: Nein, er ist noch nicht gefunden.
VORSITZENDER: Wollen Sie Fräulein Christians rufen?
DR. BERGOLD: Sie ist auch noch nicht eingetroffen. Sie war im Lager Oberursel, ist beurlaubt worden und ist im Urlaub unsichtbar geworden... offenbar geflohen.
VORSITZENDER: Haben Sie Ihren Antrag vom 26. Juni... oder stellten Sie am 26. Juni einen Antrag?
DR. BERGOLD: Ich habe Anträge gestellt.
VORSITZENDER: Für wen haben Sie einen Antrag gestellt?
DR. BERGOLD: Einen Augenblick, ich will es mir geben lassen von meiner Sekretärin.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Fräulein Christians und Dr. Helmuth Friedrich.
VORSITZENDER: Gut. Dr. Klöpfer und Friedrich.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, und Fräulein Christians, Euer Lordschaft.
DR. BERGOLD: Am 26. Juni habe ich beantragt die Zeugen Falkenhorst, Rattenhuber und Kempka. Auf Falkenhorst werde ich vermutlich verzichten können, wenn ich dafür den Zeugen Dr. Klöpfer habe.
VORSITZENDER: Gut, Dr. Klöpfer ist der einzige, der gekommen ist, wie ich höre.
DR. BERGOLD: Der einzige, der angekommen ist, jawohl, Herr Präsident.
VORSITZENDER: Der Gerichtshof möchte gern wissen, wie viele Sie jetzt rufen wollen; in Bezug auf die anderen werden Sie besser tun, sie zurückzuziehen, wenn Sie sie nicht finden können.
DR. BERGOLD: Ja, Euer Lordschaft, ich wollte einen Vertagungsantrag stellen. Der Zeuge Klöpfer ist eben erst eingetroffen. Ich habe ihn bisher noch nicht sprechen können. Ich halte es für unrichtig, ihn nun hier zum erstenmal zu hören. Er ist auch zur Vernehmung nicht vorbereitet, kennt die Urkunden nicht, welche von der Staatsanwaltschaft vorgelegt worden sind. Ich selbst weiß auch nicht, ob er über alles das, was ich ihn zu befragen habe, ein Wissen hat. Ich stelle daher den Antrag, die Verhandlung Bormann bis Montag früh um 10.00 Uhr zu vertagen, um mir Gelegenheit zu geben, diesen, meinen einzigen und Hauptzeugen vorher zu hören und mit ihm den Fall zu besprechen; denn ich kann doch nicht... ich weiß ja auch gar nicht, ob ich den Zeugen vernehmen lassen will, er kann ja eventuell Aussagen machen, die ganz unerheblich sind. Es ist ja nicht meine Schuld, daß ich ihn bisher noch nicht gehört habe, ich habe seit vielen Monaten beantragt, daß er herbeigeschafft würde, und wenn ich nicht in letzter Minute die liebenswürdige Hilfe der Amerikanischen Anklagebehörde gefunden hätte, dann hätte ich ihn heute noch nicht gefunden. Ich glaube auch, ich habe schon mit Sir Maxwell-Fyfe gesprochen, eine Vertagung bis Montag früh um 10.00 Uhr wäre meinem Fall wohl angemessen und billig, um mir wenigstens eine Vorbereitung zu gönnen, wenn nicht... Mein Angeklagter war nicht da, meine Zeugen waren nicht da, und ich konnte ja nichts vorbereiten.
VORSITZENDER: Sie haben viele Monate für die Vorbereitung des Falles zur Verfügung gehabt, Dr. Bergold. Der Gerichtshof hat den Fall sehr lange Zeit für Sie zurückstellen müssen, und jetzt ist dieser Zeuge hier. Sie können sofort mit ihm in Verbindung treten, und der Gerichtshof ist der Meinung, daß Sie fortfahren sollten. Sie mußten wissen, daß Ihr Fall, ebenso wie alle anderen Fälle, zur rechten Zeit an die Reihe kommen wird; es wurde Ihnen auch die Vergünstigung eingeräumt, daß man Ihren Fall als letzten ansetzte, und alle Ihre Anträge auf Zeugen und Dokumente wurden auf den letztmöglichen Augenblick hinausgeschoben. Nun ist der Zeuge hier, und wir sind noch kurze Zeit mit den Zeugen und Dokumenten des Angeklagten Fritzsche beschäftigt.
In Anbetracht dieser Umstände ist der Gerichtshof der Meinung, daß Sie fortfahren sollten.
DR. BERGOLD: Herr Vorsitzender! Es ist richtig, ich habe Monate Zeit gehabt, aber wenn ich keinen Zeugen bekommen und keine Informationen erlangen kann, bitte ich das Gericht, sich in meine Lage zu versetzen. Was nützen mir viele Monate des leeren Wartens, Monate, in denen ich nichts tun konnte. Die Zeugen waren nicht da, niemand konnte mir sagen, wo der Zeuge Klöpfer aufzufinden wäre. Erst in der letzten Minute ist er aufgefunden worden. Ich kann nicht in einer Viertelstunde den ganzen Fall mit ihm besprechen. Ich will ja nur eine ganz kurze Vertagung bis Montag früh. Es würde dadurch das Gericht nur einige Stunden verlieren. Ich kann nichts dafür, daß ich einen solch ungewöhnlichen Angeklagten bekommen habe, der nicht anwesend ist.
VORSITZENDER: Dr. Bergold! Das einzige, das Sie laut Ihrem Antrag mit der Aussage des Zeugen beweisen wollen, ist die angenommene Tatsache, daß Bormann tot ist, und er soll im Zusammenhang damit aussagen. Dies wird in Ihrem Antrag vorgebracht.
DR. BERGOLD: Nein, Hohes Gericht! Das ist ein Irrtum. Der Zeuge Klöpfer kann darüber nichts aussagen. Er kann nur zu der gesamtüblichen Anklage, nämlich darüber, ob Bormann schuldig ist, Stellung nehmen. Darüber, ob der Angeklagte Bormann tot ist, können nur die Zeugen Christians, Lueger und Rattenhuber aussagen. Der Zeuge Klöpfer kann lediglich zur Anklage selbst Aussagen machen.
VORSITZENDER: Wo ist der Antrag auf Klöpfer? Wo sind Ihre Anträge?
DR. BERGOLD: Es ist mein Antrag vom 26. Mai.
VORSITZENDER: Kann ich ihn sehen? Haben Sie ihn bei sich? Dr. Bergold! Haben Sie sonst nichts, keine Dokumente oder kein Beweismaterial, um Ihren Fall ohne die Vernehmung des Zeugen Klöpfer heute fortsetzen zu können?
DR. BERGOLD: Mylord! Was ich habe, ist so wenig und mager, und ich weiß selbst nicht, ob das Stich hält, bis ich den Zeugen vernommen habe. Ich war ja bisher auf reine Vermutung angewiesen. Effektive Unterlagen habe ich nicht erhalten können. Es sind das alles juristische Konstruktionen, die mit einem Wort des Zeugen hinfällig werden können.
MR. THOMAS J. DODD, ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Hoher Gerichtshof! Ich erhebe Einspruch gegen jegliche Aufschiebung dieses Falles. Wie der Gerichtshof betont hat, standen dem Verteidiger Monate zur Verfügung, und von unserem Büro aus wurde ihm jede mögliche Hilfe zuteil, sowohl im Hinblick auf Dokumente als auch auf die Auffindung seiner Zeugen. Wenn er jetzt mit seinem Vortrage aufhören und hinausgehen würde, um mit seinem Zeugen, der ja jetzt hier ist, zu sprechen, wäre er meiner Meinung nach genügend vorbereitet, um mit dem Fall weiterzukommen.
VORSITZENDER: Dr. Bergold! Der Gerichtshof wird nun den Fall des Angeklagten Fritzsche fortsetzen, und inzwischen werden Sie Gelegenheit zur Aussprache mit dem Zeugen Klöpfer haben. Wenn Sie, nachdem Sie ihn gesprochen haben, noch einen weiteren Antrag zu stellen wünschen, können Sie das tun. Der Gerichtshof hofft aber, daß Sie nach Feststellung der Art seiner Zeugenaussage in der Lage sein werden, Ihren Fall fortzusetzen.
Jetzt habe ich... ich hatte ihn vorhin nur in deutscher Sprache, aber jetzt habe ich Ihren Antrag auf den Zeugen Klöpfer auch in englischer Sprache vor mir; zusammenfassend geht daraus hervor, daß der Zeuge Leiter der Abteilung III der Parteikanzlei war und daß er über Fragen der Vorbereitung und der Ausarbeitung von Gesetzen sprechen kann und daß er aussagen soll, die Tätigkeit des Angeklagten Bormann bei der Erlassung dieser Gesetze und Verordnungen sei absolut untergeordnet gewesen. Das ist der einzige in Ihrem Antrage als Zweck der Vorladung angeführte Grund.
DR. BERGOLD: Das ist meine Vermutung. Es besteht aber die Möglichkeit, daß der Zeuge natürlich noch viel mehr weiß, weil er einer der Hauptmitarbeiter gewesen ist. Ich habe meinen Antrag nur sehr vorsichtig formuliert, weil ich als Anwalt ja keine Phantasie dem Gericht vortragen kann.
VORSITZENDER: Nun, ich habe bereits erklärt, was Sie in Bezug auf den Zeugen Klöpfer tun können. Wollen Sie noch einen Zeugen namens Falkenhorst vorladen?
DR. BERGOLD: Darüber kann ich mich erst entscheiden, wenn ich den Zeugen Klöpfer gesprochen habe. Wahrscheinlich werde ich auf diesen Zeugen Falkenhorst verzichten.
VORSITZENDER: Dr. Bergold! Sie haben gehört, was ich sagte. Sie können jetzt den Zeugen Klöpfer sprechen.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Ich möchte nur dem Gerichtshof bekanntgeben, wie es mit den Zeugen steht. Auf die Frage von Euer Lordschaft antwortete ich, daß es zwei Tage in Anspruch nehmen dürfte, um mit den Zeugen fertig zu werden. Hoher Gerichtshof, unter Vorbehalt der Zeugen im Falle Katyn dürfte es wahrscheinlich viel kürzere Zeit dauern, wie man mir jetzt sagt.
VORSITZENDER: Gut. Und wann bekommen wir Bescheid, wie es um die Katyn-Zeugen steht und ob eine Vereinbarung über eidesstattliche Erklärungen oder Zeugenvorladungen getroffen worden ist?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Ich werde Erkundigungen einziehen und versuchen, Euer Lordschaft am Ende der Sitzung Bescheid zu sagen.
VORSITZENDER: Dann nehme ich an, daß wir das heute morgen nicht verhandeln können.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich glaube nicht. Abgesehen davon stehen noch gewisse Fragebogen aus, auf welche sich die Verteidiger vielleicht dem Gerichtshof gegenüber berufen wollen. Das ist aber die einzige andere mir bekannte Sache. Für den Standpunkt der Anklagevertretung gibt es möglicherweise ein paar Dokumente, die vorgelegt werden, mehr oder weniger zur Klarstellung von Fragen, die während des Falles entstanden sind und nicht so sehr zum formellen Beweis und Gegenbeweis. Es wird eine ganz kleine Anzahl sein und keine Zeit in Anspruch nehmen.
VORSITZENDER: Waren Dokumente für den Angeklagten von Neurath darunter, die erledigt werden müssen?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich erinnere mich an ein oder zwei Fragebogen, aber sonst ist mir nichts bekannt.
VORSITZENDER: Vielleicht befassen wir uns lieber Montag früh mit diesen Dingen.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wie Euer Lordschaft es wünschen.
VORSITZENDER: Hoffentlich ist den Verteidigern klar, daß der Gerichtshof von ihnen erwartet, daß sie mit ihren Plädoyers für die Angeklagten sofort nach Beendigung der Beweisführung beginnen.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich habe heute morgen deshalb davon gesprochen, um eine Andeutung der dazu benötigten Zeit zu geben, Euer Lordschaft.
VORSITZENDER: Ja.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wie man mir sagt, wird geplant, daß Professor Jahrreiss als erster sein Plädoyer halten wird.
VORSITZENDER: Ja.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Es ist mir bekannt, daß Professor Jahrreiss hierzu bereit ist. Ich glaube, es ist gut zu wissen, daß dies vielleicht schon Montag der Fall sein kann.
VORSITZENDER: Ja. Wollen Sie, Dr. Fritz, nun mit Ihrem Zeugenverhör fortfahren.
DR. FRITZ: Herr Präsident! Meine Herren Richter! Ich bitte, mit der Vernehmung des Zeugen von Schirmeister fortfahren zu dürfen.
Herr Zeuge! Wir sind gestern am Ende der Verhandlung stehengeblieben bei den antisemitischen Stellen des Angeklagten Fritzsche in seinen Rundfunkansprachen. Im Anschluß hieran eine weitere Frage: Wohin wurden die Juden nach Äußerung von Dr. Goebbels evakuiert?
VON SCHIRMEISTER: Bis etwa einschließlich das erste Jahr des Rußlandfeldzuges hat Dr. Goebbels in den von ihm geleiteten Konferenzen wiederholt den Madagaskar-Plan erwähnt. Später änderte er das ab und sagte, es sollte im Osten ein neuer jüdischer Staat gebildet werden, in den dann die Juden kommen würden.
DR. FRITZ: Wissen Sie, ob Fritzsche bei allen Meldungen des Auslandes über Behauptungen über deutsche Greueltaten, nicht nur soweit sie die Juden sondern auch andere Völker betrafen, stets Nachfrage beim RSHA halten ließ oder auch sonst bei anderen in Frage kommenden Stellen?
VON SCHIRMEISTER: Jawohl, nicht nur bei den Greuelmeldungen, sondern bei allen uns unbequemen Propagandameldungen des Auslandes, teils beim RSHA, und zwar der Dienststelle von Müller, Berlin, teils bei den direkt in Frage kommenden Stellen.
DR. FRITZ: Welche anderen in Frage kommenden Stellen waren das noch außer dem RSHA, wo er sich erkundigt haben konnte?
VON SCHIRMEISTER: Beispielsweise Ernährungsministerium, Rüstungsministerium, OKW, je nachdem.
DR. FRITZ: Wissen Sie, ob auf solche Anfragen immer ein klares und völlig glaubhaftes Dementi gegeben worden ist, oder wie verhielt sich die Sache sonst?
VON SCHIRMEISTER: Keineswegs kamen immer Dementis, es kamen sehr oft ganz präzise Angaben; beispielsweise es wurde ein Streik in Böhmen-Mähren behauptet, dann hieß es: Jawohl, in der und der Fabrik hat der Streik stattgefunden. Aber ausnahmslos und immer kam ein ganz klares Dementi in allen Fällen von KZ-Greuel und so weiter. Gerade dadurch gewannen diese Dementis so an Glaubwürdigkeit. Ich darf betonen, daß das die einzige Möglichkeit war, um uns überhaupt zu erkundigen. Diese Auskünfte waren nicht für die Öffentlichkeit, sondern für den Minister bestimmt, und immer hieß es: »Nein, an diesen Dingen ist kein wahres Wort.« Ich weiß auch heute noch nicht, welchen anderen Weg wir hätten gehen können als diesen.
DR. FRITZ: Eine Zwischenfrage: Können Sie irgend etwas bekunden über die Haltung Fritzsches in Kirchenfragen?
VON SCHIRMEISTER: Herr Fritzsche hat sich da mit der während des Krieges vom Minister vertretenen Auffassung durchaus gedeckt. Der Minister verlangte zu Beginn des Krieges absoluten Burgfrieden, da alles, was Zwietracht ins deutsche Volk hätte tragen können, nur störend gewirkt hätte. Ich weiß nicht, ob ich das näher ausführen soll.
DR. FRITZ: Nein. Ich komme zu einem anderen wichtigen Thema. Wissen Sie, Herr Zeuge, welche Begründungen Goebbels seinen Mitarbeitern für die einzelnen militärischen Aktionen Deutschlands gegeben hat?
VON SCHIRMEISTER: Er hat überhaupt keine eigenen Begründungen gegeben, sondern er hat seine Kommentare immer angehängt an die amtlichen, vom Führer kommenden Verlautbarungen.
DR. FRITZ: Können Sie, um auf einige Beispiele einzugehen, ganz kurz demnach etwas darüber sagen, ob der Angeklagte Fritzsche vorher wußte, daß ein militärischer Angriff geplant war auf 1. Polen, 2. Belgien- Holland, 3. Jugoslawien?
VON SCHIRMEISTER: Im Falle Polen wußten wir natürlich, daß die Frage Danzig-Korridor zur Entscheidung stand. Dr. Goebbels selbst hat uns aber immer wieder versichert, und er selbst glaubte daran, daß es nicht zu einem Kriege dabei kommen würde, weil er in völliger Verkennung der Haltung der Westmächte davon überzeugt war, daß die nur blufften und daß ohne eine militärische Unterstützung des Westens auch Polen keinen Krieg wagen würde.
DR. FRITZ: Und Belgien-Holland?
VON SCHIRMEISTER: Belgien-Holland: Am Vortage standen wir im Zeichen des Staatsbesuches des italienischen Ministers Pavolini, am Abend war eine Theatervorführung, dann ein Empfang im Haus der Flieger. Nachts fuhr der Minister mit mir ins Ministerium, wo er gelegentlich übernachtete. Ich mußte nachts verschiedene Herren antelephonieren. Morgens legte der Minister Herrn Fritzsche in meiner Gegenwart die zwei dann über Radio gehenden Verlautbarungen vor, erstens die militärische Begründung, zweitens die Secret-Service-Begründung. Herr Fritzsche hatte nicht einmal Zeit, sie sich auch noch durchzulesen, er war im übrigen stockheiser, und die zweite Secret-Service-Begründung hatte ich verlesen müssen; ich hatte sie auch nicht vorher gekannt.
DR. FRITZ: Wie war es mit Jugoslawien?
VON SCHIRMEISTER: Das gleiche. Der Minister hatte am Abend seinen Adjutanten entlassen, beurlaubt; ich mußte nachts die verschiedenen Herren zusammentelephonieren, und am frühen Morgen wurde uns über das Radio die uns bis dahin völlig unbekannte Erklärung verlesen.
DR. FRITZ: Und wie war es im Falle des Angriffs auf die Sowjetunion?
VON SCHIRMEISTER: Da war es noch toller, da hat der Minister seine eigenen Abteilungsleiter zu Tarnungszwecken angelogen. Er zog etwa Anfang Mai aus der üblichen Zwanzig-Mann-Konferenz zehn Mann heraus und sagte denen: »Meine Herren, ich weiß, manche Herren glauben, es geht gegen Rußland. Ich muß Ihnen heute sagen, es geht gegen England. Wir stehen vor der Invasion. Richten Sie Ihre Arbeiten darauf ein. Sie, Dr. Glasmeier, machen eine neue England-Fanfare...« und so weiter. Ein glattes Anlügen seiner eigenen Abteilungsdirektoren zu Tarnungszwecken.
DR. FRITZ: Wollen Sie also behaupten, daß keiner im Propagandaministerium etwas von dem bevorstehenden Rußlandfeldzug gewußt hat?
VON SCHIRMEISTER: Nein, es haben im Propagandaministerium vom Rußlandfeldzug folgende Herren gewußt, wenn ich unterstellen darf, daß ein Brief von Lammers an den Minister der Schlüssel dafür war; ein Brief, in dem Lammers dem Minister persönlich geheim mitteilte, daß der Führer beabsichtige, Herrn Rosenberg zum Ost-Minister zu ernennen. Der Minister solle einen Verbindungsmann unseres Ministeriums zu Herrn Rosenberg persönlich benennen. Das war natürlich der Schlüssel. Davon haben gewußt: der Minister, Herr Hadamowsky, damals sein vertretungsweiser, persönlicher Referent; Dr. Tauber, der als sein Verbindungsmann genannt wurde; ich, der ich durch Zufall diesen Brief gelesen hatte und der Leiter der Auslandspresseabteilung, Dr. Boehme. Dr. Boehme, das ist sehr wichtig, hat mir selber einen Tag vor seiner Verhaftung in Gegenwart von Prinz Schaumburg-Lippe gesagt, daß er die Nachricht davon von Herrn Rosenbergs Kreis persönlich habe, also wohlgemerkt, nicht aus unserem Ministerium oder von unserem Minister. Als Leiter der Parallelabteilung wären selbstverständlich beide Abteilungsleiter gleichermaßen sonst unterrichtet worden; wußte es Boehme nicht durch den Minister, konnte es auch Herr Fritzsche nicht gewußt haben. Boehme wurde am nächsten Tag wegen einer unvorsichtigen Bemerkung in dieser Richtung verhaftet; er ist demnächst gefallen.
DR. FRITZ: Ich fasse diesen Teil meiner Befragung folgendermaßen zusammen in einer allgemeinen Frage: Ob Sie jemals beobachtet haben, daß Goebbels vor großen politischen oder militärischen Aktionen der Regierung oder der NSDAP einen planenden Gedankenaustausch mit dem Angeklagten Fritzsche gepflegt hat?
VON SCHIRMEISTER: Das ist völlig ausgeschlossen, das hätte dem Prinzip des Ministers völlig widersprochen. Er hat nicht nur keine planenden Gedanken ausgetauscht, sondern auch niemand informiert.
DR. FRITZ: Nun ein anderer Fragenkomplex. Die Anklage wirft dem Angeklagten Fritzsche vor, er habe das deutsche Volk beeinflußt im Sinne einer Herrenvolk-Idee und damit auch im Sinne des Hasses gegen andere Länder. Hat Fritzsche überhaupt einmal den Auftrag erhalten, eine Propaganda im Sinne der Herrenvolk-Idee zu betreiben?
VON SCHIRMEISTER: Nein, auf keinen Fall. Sie müssen dazu wissen, daß Dr. Goebbels mit all der Parteidogmatik, mit dem Mythos überhaupt nichts anfangen konnte. Das sind keine Dinge, mit denen man Massen fängt. Ihm war die Partei das große Sammelbecken, in dem aus möglichst vielen Richtungen heraus sich das deutsche Volk zusammenfinden sollte; und gerade über die Herrenvolk-Idee hat er sich – vielleicht auch bedingt durch seine eigene körperliche Behindertheit – mokiert; er hat die glatt abgelehnt. Das war nichts für Dr. Goebbels. Den Haß soll ich auch beantworten? Sie frugen mich auch über den Haß?
DR. FRITZ: Ja.
VON SCHIRMEISTER: Eine Propaganda des Hasses gegen andere Völker ist absolut gegen die Propagandalinie von Dr. Goebbels gegangen, denn er hoffte ja, und er hat dieser Hoffnung zuletzt wie einer Fata Morgana angehangen, daß er eines Tages umschalten könne, von »gegen England« und »gegen Amerika«, auf »mit England«, »mit Amerika«, und wenn man das will, kann man keinen Haß gegen ein Volk gebrauchen; er wollte mit den Völkern gehen, nicht gegen die Völker.
DR. FRITZ: Gegen wen sollte dann diese Propaganda in Rundfunk und Presse kämpfen?
VON SCHIRMEISTER: In erster Linie gegen Systeme. Dr. Goebbels hat ja selbst den Begriff »Plutokratie« erst zu dem gemacht, was heute die ganze Welt darunter versteht, später kam der Begriff »Bolschewismus« von der anderen Seite dazu. Zeitweise ging es auch gegen regierende Männer. Er kam aber mit der deutschen Presse nicht klar, er hat sich darüber geärgert; er sagte einmal in einer Konferenz: Meine Herren, wenn ich an Ihre Stelle zehn Juden setzen könnte, die würden das hinbringen. Aber er kam später auch von diesem Eingreifen gegen Persönlichkeiten wie Churchill wieder ab. Er fürchtete, diese Männer würden zu populär durch seine eigene Gegenpropaganda. Im übrigen hat er persönlich Churchill gar nicht gehaßt, sondern insgeheim bewundert, genau so, wie er beispielsweise ein Bild des Duke of Windsor den ganzen Krieg über am Tisch stehen hatte, also zeitweisen Haß gegen einzelne Männer, durchgehenden Haß gegen Systembegriffe.
DR. FRITZ: Herr Zeuge! Bitte prüfen Sie vor Beantwortung der nächsten Frage das Gedächtnis ganz genau und denken Sie dabei an Ihren Eid. War der Zweck der Propaganda, für die Fritzsche Befehle entgegennahm und durchführte, die Erweckung von zügellosen Leidenschaften, die einer Aufforderung zu Mord und Gewalttaten gleichkommen konnte, oder was war sonst ihr Zweck?
VON SCHIRMEISTER: Nein, Leidenschaften konnte der Minister in seiner Propaganda gar nicht brauchen. Leidenschaften lohen auf und klingen wieder ab. Was der Minister brauchte, war eine stetige durchgehende Linie, war eine stetige Haltung, ein Durchhalten auch in schweren Zeiten. Ein Aufpeitschen zu Haß oder gar Mord hätte dem deutschen Volke weder gelegen, noch konnte Dr. Goebbels das brauchen.
DR. FRITZ: Unterstand die deutsche Propaganda im Ausland, besonders in Rußland, überhaupt dem Propagandaministerium?
VON SCHIRMEISTER: Ich muß hier teilen: Ich weiß nicht, ob ich auf den bekannten Gegensatz zwischen Dr. Goebbels und Ribbentrop eingehen muß. Das Auswärtige Amt hatte ja zu Beginn des Krieges gefordert, daß die gesamte Auslandspropaganda, im einzelnen die Propaganda im Ausland, die Propaganda über den Rundfunk ins Ausland und die Propaganda den in Deutschland lebenden Ausländern gegenüber in seine Hände übergehen müsse. Es kam zu sehr häßlichen Kontroversen. Es wurde ein Führerentscheid herbeigerufen; schließlich aber legten beide Parteien diesen Entscheid zu ihren Gunsten aus.
DR. FRITZ: Herr Zeuge! Vielleicht noch kürzer.
VON SCHIRMEISTER: Gut. Ich kann das auch lassen. Der Gegensatz zwischen beiden ist bekannt. Aber über Rußland muß ich noch sagen: In Rußland unterstanden die Presse und Propaganda bis etwa März 1944 Herrn Rosenberg. Auch da war Dr. Goebbels...
VORSITZENDER: Einen Augenblick. Was hat die russische Propaganda mit dem Angeklagten zu tun?
DR. FRITZ: Nein, die deutsche Propaganda in den russischen Gebieten; danach habe ich ihn gefragt, dabei hat er ja nur einen Satz zu sagen. Er hat es auch schon gesagt eben.
VON SCHIRMEISTER: Bis 1944 Rosenberg... sehr zum Kummer von Dr. Goebbels, der glaubte, daß man den Rußlandfeldzug propagandistisch hätte gewinnen können.
DR. FRITZ: Ich habe noch eine letzte Frage an Sie:
Die Anklagebehörde hat gestern, als Herr Fritzsche sich im Kreuzverhör befand, mehrere Vernehmungsprotokolle vorgelegt. Darunter zum Beispiel von Generalfeldmarschall Schörner, in denen übereinstimmend bekundet wird, daß Fritzsche der ständige Stellvertreter von Goebbels als Propagandaminister gewesen sei. Stimmt das?
VON SCHIRMEISTER: Das ist glatter Unsinn. Mir ist unerklärlich, wie so eine Aussage zustande gekommen sein kann. Dabei gibt es kein wahres Wort.
DR. FRITZ: Danke. Herr Präsident! Ich habe keine weiteren Fragen.
VORSITZENDER: Will noch ein anderer Verteidiger Fragen an den Zeugen stellen?
Will die Anklagebehörde ein Kreuzverhör?
GENERAL RUDENKO: Herr Vorsitzender! Die Anklagevertretung hat nicht die Absicht, diesen Zeugen zu vernehmen. Das soll aber nicht bedeuten, daß wir keine Einwände gegen die Aussagen des Zeugen haben.
VORSITZENDER: Der Zeuge kann sich zurückziehen.