[Das Gericht vertagt sich bis zum
2. Juli 1946, 10.00 Uhr.]
Einhundertneunundsechzigster Tag.
Dienstag, 2. Juli 1946.
Vormittagssitzung.
[Der Zeuge Markov im Zeugenstand.]
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Erlauben Sie, Herr Vorsitzender?
Zeuge, wann war es genau, als Sie mit den anderen Mitgliedern der Kommission die Sezierung der acht Leichen vornahmen? Wann war es genau?
MARKOV: Es war am 30. April vormittags.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Und auf Grund Ihrer persönlichen Beobachtungen sind Sie zu dem Schluß gekommen, daß die Leichen ungefähr ein oder höchstens anderthalb Jahre unter der Erde waren?
MARKOV: Ganz richtig.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Bevor ich zur nächsten Frage übergehe, möchte ich Sie bitten, mir kurz folgende Frage zu beantworten: Ist es in der bulgarischen Gerichtsmedizin Brauch, daß bei eingehender Untersuchung einer Leiche durch Gerichtsmediziner diese Untersuchung in zwei Teile zerfällt: Beschreibung und Schlußfolgerung?
MARKOV: Jawohl. Bei uns ist es wie auch in anderen Ländern üblich, daß man, soviel ich weiß, folgendermaßen verfährt; zuerst gibt man eine Beschreibung und nachher die Schlußfolgerung.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Enthält das von Ihnen aufgestellte Protokoll über die Obduktion der Leichen eine Schlußfolgerung?
MARKOV: Mein Protokoll über die Leichenobduktion besteht nur aus einem beschreibenden Teil ohne Schlußfolgerung.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Warum?
MARKOV: Weil ich aus den Papieren, die sich dort befanden, ersehen konnte, daß man uns von vornherein suggerieren wollte, daß diese Leichen sich schon drei Jahre in der Erde befunden hätten. Das ging aus den Papieren, die uns in dem kleinen, von mir erwähnten Landhaus gezeigt wurden, hervor.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sind Ihnen übrigens diese Papiere vor der Obduktion gezeigt worden oder nachher?
MARKOV: Ja, diese Papiere wurden uns einen Tag vor der Obduktion gezeigt.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Das heißt, Sie waren...
VORSITZENDER: Oberst Smirnow! Sie unterbrechen den Dolmetscher immer. Bevor er die Antwort ganz übersetzt hat, stellen Sie schon die nächste Frage. Es ist für uns schwer, den Dolmetscher zu hören.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich danke Ihnen für Ihren Hinweis, Herr Vorsitzender.
MARKOV: Da die Ergebnisse der Sezierung, die ich durchführte, in offensichtlichem Widerspruch zu dieser Fassung standen, habe ich mich einer Schlußfolgerung enthalten.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sie haben also deshalb keine Schlußfolgerungen gezogen, weil die objektiven Unterlagen der medizinischen Sezierung ergaben, daß die Leichen nicht drei Jahre unter der Erde waren, sondern nur anderthalb Jahre?
VORSITZENDER: Oberst Smirnow! Sie müssen bedenken, daß es eine doppelte Übersetzung ist, und wenn Sie keine größere Pause eintreten lassen, kommt Ihre Stimme mit der Stimme des Dolmetschers zusammen, und wir können den Dolmetscher nicht verstehen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Jawohl, Herr Vorsitzender.
MARKOV: Ja, das ist richtig.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Bestand bei den Mitgliedern der Kommission Einigkeit über die Frage, wie lange die Leichen, die aus den Gräbern von Katyn exhumiert wurden, unter der Erde lagen?
MARKOV: Die meisten Mitglieder der Delegation, die die Sezierung der Leichen im Wäldchen von Katyn durchführten, zogen ihre Schlußfolgerungen, ohne die wesentliche Frage darüber, wie lange sich die Leichen bereits unter der Erde befanden, zu berühren. Einige von ihnen, wie zum Beispiel Professor Hajek, sprachen von unwichtigen Dingen. Er sagte zum Beispiel, daß einer der Erschossenen Rippenfellentzündung gehabt hätte. Andere, wie zum Beispiel Professor Birkle aus Bukarest, hatten die Haare von den Leichen entfernt, um das Alter der Leiche festzustellen, was nach meiner Meinung völlig unwesentlich war. Professor Palmieri hat auf Grund der von ihm durchgeführten Autopsie festgestellt, daß die Leiche über ein Jahr unter der Erde gewesen sei, er könne aber keine bestimmte Zeitangabe machen. Der einzige, der eine genaue Aussage machte, daß die Leichen drei Jahre in der Erde waren, war Professor Miroslavitsch aus Zagreb. Aber als das deutsche Buch über Katyn veröffentlicht wurde, habe ich seine objektive Niederschrift gelesen und dabei den Eindruck gewonnen, daß die Leiche, die er sezierte, sich nicht von dem Verwesungszustand der anderen sezierten Leichen unterschieden hat. Dies veranlaßte mich zu der Annahme, daß seine Aussage, daß die Leichen bereits drei Jahre unter der Erde wären, nicht der Tatsachenbeschreibung entspricht.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte Sie, folgende Frage zu beantworten: Wurden von den Mitgliedern der Kommission viele Schädel mit Zeichen des sog. »pseudo callus« festgestellt? Nebenbeibemerkt, da dieser Ausdruck in der gewöhnlichen Kriminalistik und in den gewöhnlichen Büchern der Gerichtsmedizin nicht bekannt ist, möchte ich Sie bitten, genau zu erklären, was Professor Orsos aus Budapest unter dem Ausdruck »pseudo callus« verstand?
VORSITZENDER: Wollen Sie Ihre Frage wiederholen, bitte?
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wurden viele Schädel mit Anzeichen des sogenannten »pseudo callus« von den Mitgliedern der Kommission festgestellt? Da, nebenbeibemerkt, dieser Begriff in den gewöhnlichen Büchern der Gerichtsmedizin nicht bekannt ist, möchte ich, daß Sie jetzt genau erklären, was Professor Orsos mit diesem Begriff »pseudo callus« meinte?
VORSITZENDER: Was war an den Schädeln? Sie sagten doch, da waren viele Schädel mit irgend etwas?
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender! Ich begegne diesem Ausdruck selbst zum erstenmal. Das Wort »pseudo callus« ist augenscheinlich ein lateinischer Begriff für eine kleine Erhöhung, die sich auf der Oberfläche des Gehirns bildet.
VORSITZENDER: Können Sie das Wort auf lateinisch buchstabieren?