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[Das Gericht vertagt sich bis

4. Juli 1946, 10.00 Uhr.]

Einhunderteinundsiebzigster Tag.

Donnerstag, 4. Juli 1946.

Vormittagssitzung.

VORSITZENDER: Dr. Sauter!

DR. SAUTER: Bitte sehr, Herr Präsident.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof hat Ihren Brief vom 17. Juni dieses Jahres, unterschrieben von Walter Funk, erhalten.

DR. SAUTER: Ja.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird davon Kenntnis nehmen. Wenn Sie den Brief verlesen wollen, so wird er ein Teil des Protokolls. Vielleicht verlesen Sie ihn daher jetzt.

DR. SAUTER: Herr Präsident! Ich habe momentan den Brief nicht da.

VORSITZENDER: Sie können mein Exemplar haben, aber es ist englisch. Der Gerichtshof bittet Sie, den Brief dann heute nachmittag um 2.00 Uhr zu verlesen.

DR. SAUTER: Danke schön.

VORSITZENDER: Das gleiche gilt für Dr. Exners Brief vom 23. Juni 1946 bezüglich des Angeklagten Jodl. Nur möchte der Gerichtshof, daß auch dieser Brief vom Angeklagten unterschrieben und dann von Dr. Exner um 2.00 Uhr verlesen wird.

Ich rufe Dr. Jahrreiss auf.

PROF. DR. JAHRREISS: Herr Präsident, meine Herren Richter!

Die große rechtliche Grundfrage dieses Prozesses gilt dem völkerrechtlich verbotenen Krieg, dem Friedensbruch als einem Hochverrat an der Weltordnung.

Sie überschattet alle anderen Rechtsfragen.

Die vier Hauptvertreter der Anklage haben in ihren Eingangsansprachen dieses Problem erörtert, bald als Kernproblem ihrer Darstellung, bald als Grundlageproblem, und zwar nicht ohne Unterschiede in der Auffassung. Die Verteidigung hat es nunmehr zu prüfen. Aus der Mitte der Verteidiger bin ich um die Prüfung gebeten worden. Es ist zwar jedem Verteidiger überlassen, ob und inwieweit er sich nach meinen Ausführungen in der Lage sieht, auf eigene Darlegungen zur Frage des Friedensbruches in seiner Rede zu verzichten. Aber ich habe Grund zu der Annahme, daß von dieser Möglichkeit soweit Gebrauch gemacht werden wird, daß sich die Absicht der Verteidiger verwirklicht, durch meinen Vortrag den nun beginnenden Abschnitt des Prozesses technisch erheblich zu vereinfachen.

Ich habe es hier nur mit der Rechtsfrage zu tun, nicht mit der Würdigung der monatelangen Beweisaufnahme. Und ich behandle nur die Frage des geltenden Rechtes, nicht die Frage des Rechtes, das im Namen der Moral oder des Menschheitsfortschritts gefordert werden könnte oder sollte.

Ich habe eine rein wissenschaftliche Aufgabe zu erfüllen. Die Wissenschaft will nichts anderes als die Wahrheit, wissend, daß ihr Ziel nie voll erreicht werden kann und ihr Weg darum unendlich ist.

Ich danke dem Herrn Generalsekretär des Gerichtshofs dafür, daß er mir die entscheidenden Urkunden und sehr wichtige Literatur zur Verfügung gestellt hat. Ohne diese ritterliche Hilfe wäre bei den derzeitigen Verhältnissen in Deutschland meine Arbeit nicht durchzuführen gewesen. Bei der mir zugänglich gewesenen Literatur überwiegt die in den Vereinigten Staaten entstandene. Nach der Kenntnis der reichen französischen und englischen Fachliteratur, die ich im letzten Vierteljahrhundert studiert habe – die russische Sprache ist mir leider fremd –, glaube ich aber, behaupten zu dürfen, daß kein wesentlicher Gedanke übersehen wird, da in keinem Land der Welt die Diskussion unserer Frage, die geradezu die Menschheitsfrage geworden ist, umfassender und grundsätzlicher gewesen ist als in den Vereinigten Staaten. Diese Tatsache hat es mir auch ermöglicht, auf die Verwendung der im ehemaligen deutschen Machtbereich entstandenen wissenschaftlichen Literatur zu verzichten. Auf diese Weise wird vermieden, daß auch nur der Schein einer Gedankenführung pro domo entsteht.

Es ist bei der Kürze der mir für den Vortrag zur Verfügung gestellten Zeit und andererseits bei der Fülle und Kompliziertheit der Probleme, die ich behandeln muß, nicht möglich, die Urkunden und Literaturstellen, die ich verwerte, hier vorzulesen. Nur einige Sätze werde ich vortragen. Eine andere Verfahrensweise würde auch den Gedankengang für den Hörer zerreißen. Ich übergebe daher dem Gericht binnen kurzem in Anhängen zu meinen Rechtsausführungen die Urkunden und Literaturnachweise. So läßt sich dann, was ich sage, rasch nachprüfen.

Das Statut bedroht einzelne mit Strafe wegen Bruch des Friedens zwischen den Staaten. Und das Gericht nimmt – so scheint es – das Statut als unnachprüfbares Fundament aller rechtlichen Erwägungen. Das heißt, vom Gericht wird nicht die Frage geprüft, ob das Statut im ganzen oder in einzelnen Bestimmungen juristisch angreifbar ist, eine Frage, die dennoch bestehen bleibt.

Wenn das so ist: Wozu dann hier überhaupt Erörterungen zu den großen rechtlichen Grundfragen?

Der Herr britische Hauptankläger hat es sogar zum Kernthema seiner großen Ansprache gemacht zu prüfen, wie sich das Statut in unserer Frage zum geltenden Völkerrecht verhält. Er rechtfertigte die Notwendigkeit seiner Darlegungen damit: Die Aufgabe dieses Prozesses sei es, der Menschheit zu dienen; und diese Aufgabe vermöge der Prozeß nur zu erfüllen, wenn das Statut vor dem Völkerrecht bestehen könne, das heißt, wenn die Bestrafung einzelner wegen Bruchs des zwischenstaatlichen Friedens im geltenden Völkerrecht begründet sei.

Es muß in der Tat geklärt werden, ob etwa gewisse Bestimmungen des Statuts neues Recht und somit Recht mit rückwirkender Kraft gesetzt haben.

Eine solche Klärung geschieht hier nicht, um den Geschichtsforschern Arbeit zu ersparen. Sie werden wie alle Feststellungen dieses Prozesses, so auch diese nach den Regeln freier Wissenschaft nachprüfen, vielleicht in einer Arbeit vieler Jahre und sicher ohne Begrenzung der Fragestellung und, wenn möglich, auf Grund eines noch größeren Materials an Urkunden und Zeugnissen.

Eine solche Klärung ist einfach deshalb unerläßlich, weil das Urteil über Recht und Unrecht davon abhängt oder abhängen kann, gerade dann, wenn man das Statut als rechtlich unangreifbar ansieht. Nehmen wir doch einmal an, es wäre so: Das Statut formuliert nicht bereits geltendes Strafrecht, sondern setzt neues, also nachträgliches Strafrecht. Was bedeutet das für die Urteilsfindung? Muß das nicht für die Schuldfrage wichtig sein?

Vielleicht war das nachträgliche Gesetz, das zum Beispiel den Angriffskrieg unter Strafe stellt, nicht schon im Pflichtbewußtsein der Menschen zur Zeit der Tat verankert oder auch nur vorbereitet gewesen. Dann kann ja der Angeklagte gar nicht in dem Sinn schuldig sein, daß er sich der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens bewußt gewesen ist; vor sich selbst nicht und nicht vor den anderen.

Oder vielleicht war das nachträgliche Strafgesetz in einem Augenblick erlassen, in dem sich gerade erst ein neues Pflichtbewußtsein bildete, aber noch unklar oder nicht allgemein war. Dann kann es jedenfalls sein, daß der Angeklagte nicht in dem Sinn schuldig ist, daß ihm die Pflichtwidrigkeit seines Tuns oder Lassens bewußt gewesen ist.

Jedenfalls vom Standpunkt des kontinental-europäischen Strafrechtsdenkens ist der Mangel des Unrechtsbewußtseins ein Umstand, den das Gericht nicht außer acht lassen darf.

Die Frage nun, ob das im Statut enthaltene Strafrecht nachträgliches Strafrecht ist, macht dann keine Schwierigkeit, wenn die Bestimmungen des Statuts eindeutig sind und der bisherige Stand des Völkerrechts unbestritten ist.

Doch wie, wenn wir mehrdeutige Vorschriften vor uns haben oder die Völkerrechtsauffassung umstritten ist?

Nehmen wir das erste: Eine Bestimmung des Statuts ist mehrdeutig und daher auslegungsbedürftig. Bei der einen Auslegung, die sich begründen läßt, erscheint die Bestimmung als »ex post facto«-Gesetz, bei anderer Auslegung, die sich nicht weniger rechtfertigen läßt, dagegen nicht. Nehmen wir das zweite: Die Vorschrift ist klar oder durch Auslegung des Gerichts geklärt, aber die Völkerrechtswissenschaft ist zum bisherigen Rechtszustand verschiedener Meinung; es ist nicht sicher, ob wir nicht ein »ex post facto«-Gesetz vor uns haben.

In beiden Fällen muß der Angeklagte damit gehört werden, daß er sich der Normwidrigkeit seines Verhaltens nicht bewußt war.

Ich gedenke, deutlich zu machen, wie notwendig diese Erwägungen in diesem Prozesse sind.

Nunmehr trete ich in die Prüfung ein.

Die Ausgangsstellung des Herrn britischen und des Herrn französischen Hauptanklägers ist grundsätzlich verschieden.

Der Herr britische Hauptankläger hat, wenn ich ihn recht verstehe, so argumentiert:

Erstens: Das freie Kriegführungsrecht der Staaten ist teilweise durch den Völkerbunds-Pakt und später grundsätzlich durch den Briand-Kellogg-Pakt beseitigt worden, der noch heute das unverändert geltende Kernstück der Weltfriedensordnung ist. Der danach verbotene Krieg ist ein strafbares Unrecht in und gegenüber der Staatengemeinschaft, und strafbar ist der einzelne, der verantwortlich gehandelt hat.

Zweitens: Die Strafklage gegen einzelne wegen Friedensbruchs ist zwar neuartig, aber nicht nur moralisch gefordert, sondern im Zuge der Rechtsentwicklung längst fällig, ja einfach die logische Folgerung aus dem neuen Rechtszustand. Nur scheinbar setzt das Statut neues Recht.

Und wenn ich den Herrn britischen Hauptankläger richtig verstanden habe, meint er: Seit dem Abschluß des Paktes von Paris gibt es in unserer Frage eine klare Rechtsordnung, getragen von einer einheitlichen Rechtsüberzeugung der ganzen Welt. Seit 1927 verhandelten die Vereinigten Staaten zunächst mit Frankreich, dann mit den übrigen Großmächten außer der Sowjetunion und mit einigen Nicht-Großmächten über den Abschluß eines Vertrags, der den Krieg aus der Welt schaffen sollte. Was die Regierung in Washington erstrebte, hat Staatssekretär Kellogg mit denkwürdiger Eindringlichkeit erklärt. Nämlich:

Die Mächte sollten auf den Krieg als ein Werkzeug der nationalen Politik verzichten, und zwar ohne juristische Begriffsbestimmungen in einem auf das Praktische gerichteten Sinn, schlicht und einfach, unzweideutig und uneingeschränkt, ohne Vorbehalte1.

Denn sonst könne nicht gelingen, was erwünscht sei: den Krieg als eine Einrichtung, das heißt als eine Einrichtung des Völkerrechts abzuschaffen2.

Als die Verhandlungen abgeschlossen waren, hat Aristide Briand, der andere der beiden Staatsmänner, deren Initiative der in Deutschland oft so genannte Kriegsächtungspakt entsprungen ist, bei der Unterzeichnung in Paris erklärt3: »Ehedem galt die Führung eines solchen Krieges als Ausfluß des göttlichen Rechts und hatte in der internationalen Ethik die Stellung eines Vorrechts der Souveränität. Nun endlich ist einem solchen Krieg in aller Form des Rechts das genommen worden, was seine größere Gefahr war: Seine Gesetzlichkeit. In Zukunft ist er ungesetzlich, ist er durch Vereinbarung wahrhaft aus dem Recht verbannt...«

Nach der Auffassung der beiden führenden Staatsmänner bedeutete der Pakt von Paris eine Wandlung der Weltordnung an der Wurzel, wenn nur alle oder fast alle Staaten der Erde, insbesondere aber alle Großmächte den Vertrag unterzeichneten oder ihm später beitraten, so wie es dann geschehen ist.

Dieses soll die Wandlung sein:

Bis zum Briand-Kellogg-Pakt sei der Krieg eine Einrichtung des Völkerrechts gewesen. Seit dem Briand-Kellogg-Pakt sei der Krieg Hochverrat an der Völkerrechtsordnung.

Diese Auffassung ist von vielen Politikern und Gelehrten in der ganzen Welt geteilt worden. Sie ist die entschiedene Grundeinstellung des einzigartigen Kommentars zur Völkerbundssatzung, mit dem Jean Ray weit über Frankreich hinaus auf die Praktiker und Theoretiker des Kriegsverhütungsgedankens gewirkt hat4.

Sie ist auch die Grundeinstellung der Anklage von Nürnberg.

Die Diplomatie und die Völkerrechtslehre haben nach dem ersten Weltkrieg, und zwar nach einer seltsam rasch überwundenen Schrecksekunde in die alten Geleise zurückgefunden. Zum Entsetzen aller derjenigen, die aus der Katastrophe die Folgerungen, alle Folgerungen gezogen wissen wollten:

Die Menschheit hat damals eine »große Vision des Weltfriedens« gehabt, wie es Senator Bruce bei den Senatsverhandlungen über die Ratifikation des Paktes von Paris genannt hat5. Ich weiß, wie umstritten die Persönlichkeit und die Leistung Woodrow Wilsons ist. Aber je weiter wir Abstand gewinnen, um so klarer wird, daß er – eigene und fremde Vorarbeiten glücklich benützend6 – schließlich einen schlechthin genialen Gedankengang gefaßt, und der derzeitigen Menschheit gegeben hat, der heute so richtig ist wie damals und der sich am besten wohl so zusammenfassen läßt:

Es muß ein Neuanfang gemacht werden. Die tragische Kette von Kriegen und bloßen Waffenstillständen, die sich Frieden nennen, muß zerrissen werden. Einmal muß die Menschheit Einsicht und Willen haben, einen Frieden nach feststehenden Rechtsgrundsätzen ohne Rücksicht auf Sieg oder Niederlage in einen wirklichen, nämlich innerlich guten Frieden überzuleiten; und dieser innerlich gute Frieden muß durch eine organisierte Staatengemeinschaft erhalten, und zwar gut erhalten werden. Dieses Erhalten und Gut-Erhalten ist nur möglich, wenn die häufigsten Kriegsursachen vorbeugend beseitigt werden, nämlich die Überrüstungen, die Geheimverträge und die lebensfeindlichen Erstarrungen des Status quo infolge der Einsichtslosigkeit des derzeitigen Besitzers.

Die Menschheit ist diesen Weg nicht gegangen. Und man sollte sich nicht wundern, daß sich unter denen, die im Lager der Besiegten oder der Sieger gegen die Instrumente von Versailles, St-Germain, Trianon, Neuilly und Sevres gekämpft haben, gerade auch diejenigen befunden haben, die einen wirklichen, einen haltbaren Frieden erstrebten. Als die Regierungen der Südafrikanischen Union und Kanadas in ihren Antworten an Staatssekretär Hull auf dessen Grundsätze zur Friedenserhaltung vom 16. Juli 1937 in ganz ungewöhnlich scharfen Worten die Abänderung aufgezwungener ungerechter Verträge als unerläßliche Voraussetzung für eine wirkliche Befriedung der Welt bezeichneten, folgten sie einer der grundlegenden Einsichten des großen amerikanischen Präsidenten7.

Die Menschheit ist Wilson nicht gefolgt.

Auch für die Mitglieder des Völkerbundes blieb der Krieg das nur in Einzelfällen verbotene, im ganzen also normale Mittel der Streiterledigung. So sagt noch im Jahre 1930 Jean Ray8: Der Völkerbund hat sich nicht als Führer in die wahre Friedensordnung, ja nicht einmal als eine genügende Bremse gegen ein völliges Zurückgleiten in den alten Zustand erwiesen. Denn in der Tat: die Welt ist völlig zurückgeglitten.

Dieses nämlich ist die in unserer Rechtsfrage alles entscheidende Tatsache:

Vor Beginn des zweiten Weltkrieges war das ganze System der kollektiven Sicherheit auch in den spärlichen Ansätzen, die es gehabt hatte, zusammengebrochen9, und dieser Zusammenbruch war erkannt und von drei Weltmächten ausdrücklich oder in schlüssiger Handlung deklariert, mit vollem Recht deklariert:

Großbritannien hat das zu Beginn des Krieges gegenüber dem Völkerbund ausdrücklich festgestellt. Ich will das sofort zeigen.

Die Sowjetunion hat den deutsch-polnischen Konflikt einfach nach den Sätzen des klassischen Völkerrechts über die debellatio behandelt. Ich werde das alsbald darlegen.

Die Vereinigten Staaten haben die strikte Neutralität erklärt. Die Tragweite dieser Erklärung werde ich dann erläutern.

Das System der kollektiven Sicherheit ist viel umstritten gewesen. Es kann nicht gleichgültig sein für die auch in diesem Prozeß fundamentale Frage des Rechtsbewußtseins der Welt, daß dieses System einem so hervorragenden Völkerrechtsjuristen wie dem Amerikaner Edwin Borchard 1938 – zu Recht oder Unrecht – geradezu als friedensfeindlich und als Kind der Hysterie unseres Zeitalters erschien10; und der Zusammenbruch mag vielerlei Ursachen gehabt haben; gewiß ist: Der Zusammenbruch, der völlige Zusammenbruch, ist von den genannten drei Weltmächten Anfang September 1939 bescheinigt worden, und zwar nicht etwa als Folge des deutsch-polnischen Krieges.

Erstens: Am 7. September 1939 hat das britische Auswärtige Amt dem Generalsekretär des Völkerbundes erklärt11:

Die Britische Regierung habe am 5. Februar 1930 die Pflicht übernommen, sich auf jede gegen England gerichtete Klage vor dem Ständigen Internationalen Gerichtshof in Haag einzulassen, also auch auf Klagen, die andere Staaten wegen eines Verhaltens erheben könnten, mit dem England in einem Kriege nach der Meinung der Kläger gegen das Völkerrecht verstoßen habe. Die Britische Regierung habe diese Regelung übernommen, weil sie darauf vertraut habe, daß der durch die Völkerbundssatzung und den Pakt von Paris geschaffene Apparat der kollektiven Sicherheit funktionieren würde; denn, wenn das der Fall wäre, könnte, da England selbstverständlich keine verbotenen Kriege führen, sein Gegner vielmehr der Angreifer sein würde – eine Kollision zwischen England und denjenigen Staaten, die treu zum Sicherheitsmechanismus stünden, aus den Handlungen der britischen Seemacht überhaupt nicht entstehen12. Das Vertrauen der Britischen Regierung sei jedoch enttäuscht worden: Seit der Bundesversammlung von 1938 sei kein Zweifel mehr möglich, daß der Sicherheitsmechanismus nicht funktionieren würde; er sei vielmehr tatsächlich vollständig zusammengebrochen; eine Reihe von Mitgliedern des Bundes habe schon vor Ausbruch des Krieges ihre strikte Neutralität erklärt. Der ganze Mechanismus, der den Frieden aufrechterhalten sollte, ist auseinandergeflogen13.

Ich werde noch zu zeigen haben, wie sehr die Britische Regierung mit ihrer Feststellung im Recht war. Übrigens hatte der britische Premierminister Neville Chamberlain bereits am 22. Februar 1938, also vor dem sogenannten Anschluß Österreichs, im Unterhaus die völlige Leistungsunfähigkeit des Systems der kollektiven Sicherheit proklamiert; er sagte14: »Zur Zeit der letzten Wahlen konnte man noch hoffen, der Völkerbund werde kollektive Sicherheit bewirken. Auch ich habe es geglaubt. Jetzt glaube ich es nicht. Mehr noch: Wenn ich recht habe – und ich glaube fest, daß ich recht habe – mit meiner Behauptung, daß der Völkerbund in seiner heutigen Verfassung unfähig ist, für irgend jemanden kollektive Sicherheit zu schaffen, dann sage ich, daß wir nicht versuchen dürften, uns selbst zu täuschen, und – dies ist noch wichtiger – wir dürfen nicht versuchen, kleine schwache Staaten zu täuschen, daß sie denken, daß sie vom Völkerbund gegen Angriffe beschützt werden würden und daß sie sich danach verhalten. Wissen wir doch, daß dergleichen nicht erwartet werden kann.«

Der Genfer Völkerbund war »neutralisiert«, wie es später Noel Baker im Unterhaus höflich ausgedrückt hat15.

Zweitens: Angesichts der richtigen Feststellung der Britischen Regierung in ihrer Note vom 7. September 1939 an den Völkerbund ist es kein Wunder, wenn die Sowjetunion den deutsch-polnischen Konflikt nach den alten Regeln der Machtauseinandersetzung behandelte. Im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 und in der gemeinsam mit der Reichsregierung abgegebenen Erklärung vom gleichen Tage16 steht die Regierung von Moskau auf dem Standpunkt der debellatio Polens, das heißt der Ausschaltung der Regierung und der Wehrmacht Polens. Es ist keine Rede vom Pakt von Paris oder von der Völkerbundssatzung. Die Sowjetunion nimmt die kriegerische Beseitigung des polnischen Staatsapparates zur Kenntnis und zieht die ihr richtig erscheinenden Folgerungen daraus, einig mit der Reichsregierung darin, daß die Neuregelung der Verhältnisse ausschließlich Sache der beiden Reiche sei.

Es ist deshalb nur folgerichtig gewesen, wenn sich die Sowjetunion im Konflikt mit Finnland im Winter 1939/1940 auf den Boden des klassischen Völkerrechts stellte. Sie ging über die Reaktion des Völkerbundes hinweg, als er, die Anwendung des Sanktionsmechanismus nicht einmal erwägend, mit einer bloß scheinbaren Anwendung eines Satzungsartikels, der ganz anders gemeint ist, feststellte, die Sowjetunion habe sich als Angreifer selbst aus dem Bunde ausgeschlossen17. Der Bericht des Schweizerischen Bundesrates an die Bundesversammlung vom 30. Januar 1940 versucht, dem aus der politischen Wirklichkeit ausgeschalteten Völkerbund das Gesicht wahren zu helfen.

Drittens: Der Präsident der Vereinigten Staaten stellte am 5. September 1939 fest, daß zwischen mehreren Staaten, mit denen die Union in Frieden und Freundschaft lebe, der Kriegszustand bestehe, nämlich zwischen Deutschland einerseits und England, Frankreich, Polen, Indien und zwei der britischen Dominions andererseits. Jedermann in der Union wurde zu strengster Einhaltung der Neutralitätsvorschriften verpflichtet.

Man hat in den Vereinigten Staaten aus der Zeit der Vorverhandlungen gewußt, daß Europa und besonders England und Frankreich den Hauptwert des Kriegsächtungspaktes darin gesehen haben, daß die Vereinigten Staaten im Ernstfall aktiv werden würden. Der britische Außenminister hatte es am 30. Juli 1928, also vier Wochen vor der Unterzeichnung des Paktes, erklärt. Bei den Verhandlungen des amerikanischen Senats über die Ratifikation des Vertrags hat besonders der Senator Moses mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht18. Der Senator Borah versichert in jenen Tagen, daß es völlig unvorstellbar sei, daß die Vereinigten Staaten ruhig zusehen würden19. Nach den diskreditierenden Mißerfolgen der Politik der kollektiven Sicherheit in den Fällen der Mandschurei und Abessiniens hatte die Welt die berühmt gewordene »Quarantäne«-Rede des Präsidenten Franklin Roosevelt vom 5. Oktober 1937 und die Haltet-Hitler!-Warnungen desselben Präsidenten vor und nach »München« als Ankündigung verstanden, daß die Union beim nächsten Fall handeln würde. Die Neutralitätserklärung vom 5. September 1939 konnte also nur bedeuten: Auch die Vereinigten Staaten nehmen genau wie England und die Sowjetunion den Zusammenbruch des Systems der kollektiven Sicherheit als Tatsache hin.

Die Neutralitätserklärung ist vielfach als der Todesstoß für das System angesehen worden. Die Regierung von Washington würde einen solchen Vorwurf als ungerechtfertigt zurückweisen können. Denn das System war schon seit Jahren tot, sofern man überhaupt glaubt, daß es je wirklich gelebt hat. Aber viele sahen die Tatsache, daß es jedenfalls jetzt nicht lebte, erst, als das grelle Licht der amerikanischen Neutralitätserklärung auf sie fiel.

Am 1. September 1939 war schon längst über die verschiedenen Versuche entschieden, die seit dem ersten Weltkrieg unternommen worden sind, um die »anarchische Weltordnung« des klassischen Völkerrechts mit einer besseren, einer wirklichen Friedensordnung zu vertauschen, das heißt in der Staatenwelt eine allgemeine Regelung lebendig werden zu lassen, wonach es rechtlich verbotene und nicht verbotene Kriege gibt. Diese Versuche waren nach dem Urteil der größten Mächte der Zeit zusammengebrochen. Die größten Militärmächte der Erde prallten aufeinander in einem Ringen mit allen Kräften. Für die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung war es eine zweite Phase in einem unerbittlich gesetzmäßig abrollenden Prozeß, bei dem die Geschichte mit souveräner Gleichgültigkeit über diplomatisch-juristische Konstruktionen hinwegging.

Die Mehrheit der Völkerrechtsjuristen der Welt stellte dann auch fest: Im geltenden allgemeinen Völkerrecht besteht die Unterscheidung zwischen verbotenen und nicht verbotenen Kriegen nicht. Hans Kelsen hat das im Jahre 1942 nach sorgfältiger Durchmusterung der Literatur in seiner Schrift »Law and Peace in International Relations« dargetan. Er selbst gehörte dabei zur Minderheit, die den Rechtsunterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen gelten lassen will. Um so wichtiger ist seine Feststellung.

Wir müssen aber nun fragen: Tut man denn überhaupt recht daran, vom Zusammenbruch des Systems der kollektiven Sicherheit zu sprechen? Das setzt voraus, daß ein solches System einmal bestanden hat. Läßt sich das wirklich behaupten? Das ist eine Frage von größter Bedeutung für diesen Prozeß, in dem der Anklage wegen Friedensbruchs das Bestehen eines weltweiten Rechtsbewußtseins zugrunde gelegt wird.

Vor uns steht auf die Tragödie des Briand-Kellogg- Paktes, jene Tragödie, an der wir alle so gelitten haben, wir alle, die beim Abschluß des Paktes jubelten und später, nach einer ersten Zeit der Depression, die Stimson-Doktrin als einen längst fälligen und für die Erreichung eines wirklichen Friedens unerläßlichen Schritt und als ein ermutigendes Zeichen eines neuen Aufstiegs begrüßten.

Die Vereinigten Staaten hatten 1927 und 1928 ein großes Ziel im Auge, wie ich schon sagte. Im Völkerbund hatte man nur mit halbem Herzen und nur mit halben Mitteln das Problem angefaßt und dadurch der Sache einer wirklichen Friedensordnung vielleicht mehr geschadet als genützt. Das Genfer Protokoll war gescheitert. Kellogg wollte nun alle Schwierigkeiten, die das Problem eben einmal hat, überspringen und die Welt mit unbekümmerter Entschlossenheit über den toten Punkt hinwegreißen. Der veröffentlichte Vertrag mit seinen zwei Artikeln, mit dem Kriegsverzicht und mit der Gütepflicht, schien die Sehnsucht einer Menschheit zu erfüllen, die endlich die befreiende Tat sehen wollte.

Aber die Schwierigkeiten, die man überspringen wollte, sind zum Teil in der Sache begründet. Und keine Vorschriften irgendeines Gesetzgebers können sie je völlig beseitigen. Denn selbst wenn man unzweideutige Maßstäbe dafür hätte, wer unter den irrenden Menschen hätte im Streitfall die Autorität zu entscheiden? Aber man hat ja nicht einmal unfehlbare Maßstäbe für Angriff und Verteidigung20. Das gilt sowohl für den sogenannten politischen Begriff, wie es in gewisser Weise natürlich ist, wie auch für den oder die mehreren juristischen Begriffe von Angriff und Verteidigung.

Aber das waren nicht die einzigen Schwierigkeiten, auf die bei den Vorverhandlungen zum Pakt die Französische Regierung explicite und implicite, und zwar mit dem vollen Recht dessen hingewiesen hat21, der um Europa und sein sehr altes, geschichtliches Erbe weiß, so wie die Amerikanische Regierung Amerika und seine so ganz andere Geschichte kennt. Wenn schon jemand über seinen Schatten springen könnte, der Schatten der Europäer ist so viel länger.

Als die Welt den Notenwechsel der Vorverhandlungen mit allen Begriffsbestimmungen, Auslegungen, Einschränkungen, Vorbehalten kennenlernte, da wurde offenbar, wie weit die Meinungen der Regierungen hinter dem einen Wortlaut auseinandergingen. Man sah die unverhüllte, ja bittere Kritik der Sowjetregierung an der Weigerung der Westmächte, abzurüsten und so die unerläßliche Voraussetzung für eine wirksame Befriedungspolitik zu schaffen, weiter an der Unbestimmtheit des Vertrags22, vor allem aber an dem berühmten englischen Vorbehalt der freien Hand in gewissen Weltgegenden, an jenem Vorbehalt, der oft als die britische Monroe-Doktrin oder als Chamberlain-Doktrin bezeichnet worden ist23, und man wußte, daß in Wahrheit nur eine formelle Einigung hinter den Unterschriften stand, daß nicht zwei der Mächte völlig das gleiche unter dem Vertrag verstanden. Nur über eines war völlige Einigkeit gewesen: Der Verteidigungskrieg ist als unveräußerliches Recht jedes Staates erlaubt; ohne dieses Recht gibt es keine Souveränität, und zwar ist jeder Staat der alleinige Richter darüber, ob er im Einzelfall einen Verteidigungskrieg führt.

Kein Staat der Welt ist damals bereit gewesen, eine fremde Gerichtsbarkeit über die Frage anzunehmen, ob seine Entschlüsse in der letzten Existenzfrage berechtigt waren oder nicht.

Kellogg hatte in der Note vom 25. Juni 1928 an alle neun Verhandlungspartner erklärt24:

»... Das Recht der Verteidigung... gehört zum Wesen der Souveränität und ist bei jedem Vertrag vorausgesetzt. Jeder Staat... ist ganz allein dazu berufen zu entscheiden, ob die Verhältnisse so liegen, daß er aus Gründen der Verteidigung zum Kriege schreiten muß.«

Die Friedensfreunde waren grausam enttäuscht. Was sollte ein solcher Vertrag überhaupt? Sie haben nur zu sehr recht gehabt.

Sehr bald danach hörten sie mit noch größerer Trauer von dem Verlauf der Verhandlungen im amerikanischen Senat. Die Ratifikation wurde zwar mit 85 Stimmen gegen ein »Nein« bei wenigen Nichtstimmenden beschlossen. Aber wenn schon hinter den Unterschriften der Vertragsstaaten keine sachliche Einigung stand, so nun noch viel weniger hinter dem Abstimmungsergebnis im Senat derjenigen Weltmacht, die ideell und formell führte.

Die Verhandlungen im Senat, die wegen ihres tiefen Ernstes und ihres hohen Niveaus für immer denkwürdig bleiben, haben gezeigt – und mehrere Senatoren haben das ausdrücklich gesagt –, daß die Meinungen der Senatoren zwischen zwei weltweit entfernten Polen schwankten. Für die einen war der Vertrag geradezu die Wende der Zeit, für andere wertlos oder allenfalls eine schwache oder freundliche Geste, ein volkstümliches Schlagwort, eine Art internationaler Kuß, für noch andere ein fruchtbarer Boden für alle künftigen Kriege, ein gigantisches Stück von Heuchelei, ja die Legalisierung des Krieges oder gar die Legalisierung der britischen Weltherrschaft, die Garantierung des ungerechten Status quo von Versailles für Frankreich und England. Schärfer noch als die russische Note kritisierten einige Senatoren die völlige Unbestimmtheit der Vertragsvorschriften. Und wenn man die Erklärung Kelloggs über das Verteidigungsrecht, die nach dem Willen der Unterzeichnerstaaten integrierender Bestandteil des Vertrags war, beim Wort nahm: Welcher Krieg war dann überhaupt verboten?25

Es gab bitterböse ironische Worte im Senat.

Mit diesem Pakt von Paris war, wenn alles so blieb wie es beim Abschluß stand, gar nichts gewonnen. Nach der Meinung des großen amerikanischen Völkerrechtlers Philip Marshall Brown hat der Pakt mit seiner Unfähigkeit die fürchterliche Mißgeburt des »unerklärten Krieges« unwissentlich zur Welt gebracht26. Diejenigen, die gegen Versailles gekämpft hatten, Deutsche und Nichtdeutsche, weil der Fortschritt verbaut sei, und diejenigen, die den Völkerbund kritisiert hatten, Deutsche und Nichtdeutsche, weil er dem Fortschrittswillen eher schade als nütze, sie alle hatten Ende August 1928 umsonst gejubelt. Der entscheidende Schritt war nicht getan.

Vor allem war überhaupt das eine nicht angepackt worden, was für sich allein nicht ausreicht, aber unerläßlich ist, wenn wirklich eine Garantie des Friedens geschaffen werden soll, das eine, das nach der einmütigen Meinung aller nottut, die mit menschlichen Menschen rechnen: Eine Prozedur zu schaffen, mit der die Staatengemeinschaft auch gegen den Willen des Besitzenden unhaltbar gewordene Zustände ändert, damit das Leben das Ventil bekommt, das es haben muß, soll es sich nicht in einer Explosion Luft machen.

So wie ein Staat nur bei guter Gesetzgebung und bei rechtzeitiger Anpassung der Ordnung an das veränderte Leben, wenn überhaupt, Revolutionen vermeiden kann, so ist es auch für die Staatengemeinschaft. Wilson hatte gerade auch an dieses Grundgesetz gedacht, wie wir sahen. Dem hat auch Rechnung getragen einer der großen englischen Völkerrechtler, einer der begeisterten, der unbedingten und vorwärtstreibenden Anhänger des Paktes von Paris, McNair, als er im Jahre 1936 neben die kollektive Gewalt die kollektive friedliche Revision gefährlich gewordener Zustände gesetzt wissen wollte27. Dem haben Rechnung getragen die amerikanischen Völkerrechtler Borchard28 und Fenwick29 in ihren warnenden Darstellungen der völkerrechtlichen Lage kurz vor dem zweiten Weltkrieg. Die Deutsche Reichsregierung hatte übrigens in Stresemanns Note an den Amerikanischen Botschafter vom 27. April 1928, als sie dem Vorschlag Kelloggs vorbehaltlos zustimmte, auf dieses, alle anderen überschattende Problem hingewiesen30.

Das Problem der »kollektiven Revision« ist auch später nicht ernsthaft angefaßt worden. Das ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil eine solche Einrichtung ihrem Wesen nach voraussetzt, daß die Staaten auf ihre Souveränität verzichten. Und ist an einen solchen Verzicht in unserer Zeit zu denken? Philip Brown meint melancholisch, weniger denn je31. Deshalb war auch ein wirklicher Schritt vorwärts in der Frage, wie man den Krieg rechtlich verfemen könnte, nicht denkbar.

Die Regierung der Vereinigten Staaten und der Völkerbund haben nun manches getan, um trotz dieser unlöslichen Zusammenhänge dem Drängen der Völker zu genügen. Sie haben versucht, dem Pakt nachträglich einen genau faßbaren Inhalt und »Zähne« zu geben. Die Völkerrechtswissenschaft hat dazu Anregungen und Nachprüfungen geliefert. Wir müssen auch dies noch kurz skizzieren, obwohl es völlig ohne Erfolg blieb, weil gerade hier die gedanklichen Wurzeln der Anklage zu finden sind, soweit sie nicht politisch oder moralisch, sondern rechtlich argumentiert.

Zunächst: Der Pakt von Paris geht in seinem Angriffsverbot unstreitig vom politischen Angriffsbegriff aus. Er ist aber darin einfach unfaßbar. Shotwell und Brierly, neben anderen, suchten sofort zu helfen, indem sie aus dem zweiten Artikel des Vertrags, der das Gebot zum Güteverfahren aufstellt, einen juristischen Angriffsbegriff ableiteten32. Wir können es dahingestellt sein lassen, ob man diese Auslegung dem Vertrag unterschieben darf. Praktisch Wird nämlich nichts gewonnen, man vertauscht nur die eine Schwierigkeit mit anderen. Es gibt nun nicht weniger Unklarheiten. Die gütlichen Mittel setzen auf beiden Seiten guten Willen voraus; wie nun, wenn er auf der anderen Seite fehlt? Und was alles ist noch gütliches Mittel, was nicht mehr? Die Russische Regierung hatte in ihrer schon erwähnten Note vom 31. August 1928 zum soeben unterzeichneten Pakt sehr recht, als sie diese Frage herausstellte.

Sodann: Andere Versuche, zu helfen, wollten aus dem völlig unbestimmten Pakt mit den Mitteln der Logik eine ganz neue Weltverfassung herausentwickeln. Sie knüpfen sich an den Namen des amerikanischen Staatssekretärs Stimson und an die Arbeit der Budapester Tagung der International Law Association von 193433.

Um das zu verstehen, muß man sich einmal auf den Standpunkt stellen, der Kellogg-Pakt habe wirklich rechtlich faßbar den unzweideutigen und vorbehaltlosen Verzicht auf den Krieg gebracht. Dann gibt es eben kein Recht mehr, nach Belieben Kriege zu führen. Der gegen das Verbot geführte Krieg ist ein Verstoß gegen die Ordnung der Staatengemeinschaft. Und sofort steht die Frage vor uns: Kann die Rechtslage des rechtswidrig angreifenden Staates gleich sein derjenigen des rechtswidrig angegriffenen?

Wenn man darauf sagt: nein, wie zum Beispiel der einflußreiche französische Kommentator der Völkerbundssatzung, Jean Ray34, sind dann nicht die wichtigsten Grundelemente des klassischen Völkerrechts weggeräumt?:

Erstens: Gilt für die Beurteilung der Handlungen der kriegführenden Mächte gegeneinander das Kriegsvölkerrecht, das doch von dem freien Kriegführungsrecht und vom Duellcharakter des Krieges und jedenfalls von der Rechtsgleichheit der Kriegführenden ausgeht?

Zweitens: Kann, ja darf es noch Neutralität in einem solchen Kriege geben?

Drittens: Kann das Ergebnis des Krieges, wenn der Angreifer siegt, rechtens sein? Insbesondere dann, wenn es in die Form eines Vertrags gepreßt ist? Oder muß nicht die Staatengemeinschaft den Angreifer durch Nichtanerkennung um die Früchte des Sieges bringen? Soll oder muß es vielleicht sogar ein gemeinsames Gewaltvorgehen der Staaten gegen den Angreifer geben?

Wir stellen fest: Nicht einmal die Rechtstheorie hat alle Folgerungen gezogen. Die Staatenpraxis aber hat nach einigen Ansätzen in einzelnen Punkten schließlich nicht an einer einzigen Stelle durchgedrückt.

Zum ersten: Die Geltung des Kriegsvölkerrechts in einem Krieg ohne Rücksicht auf den Ursprung des Krieges ist bisher von keinem Staat ernstlich bestritten worden. Zweifel, die aufgetaucht waren, wurden unmißverständlich behoben. Ich verweise auf die Resolution Nummer 3 der Völkerbundsversammlung vom 4. Oktober 1921 und auf den Bericht des Elfer- Ausschusses des Völkerbundes zur Anpassung der Satzung an den Pakt von Paris35. Der Angreiferstaat hat im Kriege dieselben Rechte und Pflichten wie der Angegriffene, nämlich die überkommenen kriegsvölkerrechtlichen. Der Herr französische Hauptankläger scheint mir, wenn ich recht verstehe, von dieser Linie abweichen, die vollen Konsequenzen jedoch nicht ziehen zu wollen. Aber auch in der jüngsten Praxis der Staaten sehe ich nirgendwo die Neigung, vom bisherigen Weg abzugehen.

Zum zweiten: Man hat versucht, die Pflicht zur Neutralität zu verneinen, ja, schließlich ein Recht zur Nichtneutralität, ja sogar das Recht zur Kriegführung gegen den Angreifer den außenstehenden Staaten zuzuschreiben. Einzelne Staatsmänner und Gelehrte haben sich ebenso leidenschaftlich für die Aushöhlung, ja Ächtung des Neutralitätsrechtes eingesetzt, wie andere Staatsmänner und Gelehrte für seinen unerschütterten Weiterbestand gesprochen haben36. Je klarer wurde, daß das ganze System der kollektiven Sicherheit in den einzelnen Fällen nicht funktionierte, auf die alles ankam, nämlich in den Fällen, wo gegen eine Großmacht einzuschreiten gewesen wäre, setzte sich der Neutralitätsgedanke mit neuer Kraft durch. Die völlige Diskreditierung des Völkerbundes und des Briand-Kellogg-Pakt-Systems im Abessinien- Konflikt hat dann auch hier das klassische Völkerrecht wieder in seine alte Stellung eingesetzt. Die Schweiz erklärte 1935 ihre uneingeschränkte Neutralität37; Belgien, Dänemark, Finnland, Luxemburg, Norwegen, Holland und Schweden folgten mit ihrer Kopenhagener Erklärung vom 24. Juli 193838. Das Versagen des Völkerbundes war der Grund, der auch offen genannt worden ist.

Zum dritten: Der Gedanke der Politik der Nichtanerkennung, non-recognition policy, will dieses: Die an einem Konflikt nicht beteiligten Staaten sollen sich als Glieder der Staatengemeinschaft verhalten, und zwar schützend vor die Ordnung der Staatengemeinschaft stellen, indem sie dem Sieger, wenn er Angreifer gewesen sein sollte, die Anerkennung der Früchte seines Sieges verweigern. Seine Gewaltlage soll nicht einmal zum Schein zur Rechtslage werden. Damit wird er um den Gewinn gebracht, und somit wird eines der Hauptanreizmittel zum Kriege beseitigt. Eine solche Politik der Nichtanerkennung reicht sicher nicht aus, für sich allein ein System der kollektiven Sicherheit zu gewährleisten, aber sie ist unerläßlicher Bestandteil einer solchen Ordnung. Darüber kann es keinen Streit geben. Der brasilianische Vertreter Braga hat sich ein Verdienst damit erworben, daß er auf der zweiten Bundesversammlung, 1921, eine solche Politik der Völkerbundsmitglieder unter dem Namen »allgemeine Rechtsblockade«, blocus juridique universel, vorschlug39. Der finnische Vertreter Procope legte 1930 vor der Bundesversammlung den Artikel 10 der Satzung in diesem Sinn aus40. Die Noten des amerikanischen Staatssekretärs Stimson vom 7. Januar 1932 an China und Japan41 gaben dem Gedanken ein weltweites Echo. Ihren Inhalt nennt man gewöhnlich Stimson-Doktrin. Der Völkerbund nahm die Doktrin als Resolution der Versammlung vom 11. März 1932 auf42. Der Gedanke kehrt dann im Pakt von Rio de Janeiro vom 10. Oktober 1933 und in den Budapester Artikeln vom 10. September 1934 als Kernstück wieder. Der Konflikt zwischen Italien und Abessinien 1935/1936 wurde der große Probefall43, der über Sein oder Nichtsein des Systems der kollektiven Sicherheit entschied: Der Völkerbund bezeichnet damals ein Großmachtmitglied als Angreifer und verhängte wirtschaftliche Sanktionen, er schreckte dann aber vor den militärischen Zwangsmaßnahmen zurück und quälte sich schließlich nach Italiens Sieg in Verfahrensdebatten, vor allem der achtzehnten Bundesversammlung, um eine Antwort auf die Frage, wie der Bund ohne offenen Verrat an seiner Verfassung das angegriffene Mitglied, das Kleinmachtmitglied Abessinien, aus der Liste der lebenden Staaten streichen und als Teil des italienischen Imperiums anerkennen könne. Auch die Vereinigten Staaten drückten die Stimson-Doktrin nicht durch, sondern hielten sich streng neutral44, 45.

Dies alles muß man wissen; und wissen muß man, daß die Britische Regierung am 20. Februar 1935 durch den Lord Chancellor, Viscount Sankey46, von den logischen Auswickelungen (explications) höflich, aber bestimmt abrückte und die alte Wahrheit ehrte: nicht aus der Logik kommt, was rechtens ist, sondern aus der Geschichte47. Bei einer späteren Gelegenheit, als nämlich Staatssekretär Cordell Hull allen Mächten am 16. Juli 1937 eine Darlegung der amerikanischen Prinzipien der Politik übergeben hatte48, warnte die Portugiesische Regierung vor der »abstrakten und verallgemeinernden Neigung mancher Juristen«, »abstract and generalising tendency of jurists«; sie warnte vor der Suche nach einer Einheitsformel, »to find a single formula«, und vor dem ungenügenden Studium der geschichtlichen Gegebenheiten49.

Wir stellen fest:

Mindestens schon mehrere Jahre vor 1939 gab es in der Wirklichkeit des zwischenstaatlichen Lebens keine wirksame allgemeine völkerrechtliche Regelung über verbotene Kriege.

Im Bewußtsein der leitenden Staatsmänner und der Völker hat keine solche allgemeine Regelung existiert.

Das ist ja der innere Grund dafür, daß immer stärker und immer umfassender der Weg der speziellen Völkerrechtsregelung beschritten wurde: Es schlossen dann jeweils zwei Staaten in genauer Kenntnis ihrer besonderen geschichtlichen Lage Verträge mit dem Ziel der Sicherung des Friedens zwischen ihnen.

Während des zweiten Weltkrieges nun hat sich die Regierung der Vereinigten Staaten entschlossen, Großbritannien zu helfen. England konnte Zerstörer erwerben, und es bekam später die Pacht- und Leihhilfe. In der amerikanischen Öffentlichkeit wurde die Nichtmehr-Neutralität dieser Hilfsakte in ihrem Wesen erkannt, von den einen beklagt, von den anderen begrüßt, bald angegriffen, bald verteidigt. Mit vollem Recht haben die Verteidiger der Maßnahmen vor der amerikanischen Öffentlichkeit, vor allem Stimson und Cordell Hull, gar nicht versucht, sie als neutralitätsgemäß zu rechtfertigen. Sie beriefen sich vielmehr auf den Pakt von Paris in seiner Auslegung, durch die Budapester Artikel50. Das wäre, wie wir sahen, nach Viscount Sankey's unbestreitbar richtiger Auffassung von den Quellen des Völkerrechts schon im Jahre 1935 rechtsirrig gewesen. Nach der Entwicklung der Dinge seit dem italienischen Sieg über Abessinien bewegten sich solche Erörterungen völlig außerhalb der Rechtswirklichkeit. Sie dienten amerikanischen Auseinandersetzungen und hätten schon deshalb für das Völkerrecht keine unmittelbare Bedeutung haben können. Und wenn sie zwischen den Staaten ausgesprochen worden wären, hätten sie höchstens der Rechtsschöpfung dienen können. Daß aber solche Erörterungen während des riesigen Ringens nicht ein Recht hätten schaffen können, das man im Frieden mit so vielen als utopisch enthüllten Versuchen vergeblich erstrebt hatte, muß das wirklich erst behauptet oder gar bewiesen werden? In diesem Saale treffen mehrere, zum Teil sehr verschiedene Arten rechtlichen Denkens aufeinander. Das gibt gewisse unauflösbare Meinungsverschiedenheiten. Aber keine Art rechtlichen Denkens irgendwo auf der Erde, von den ältesten Zeiten bis zu den spätesten, konnte oder kann Argumentationen ermöglichen, die dem Wesen des Rechts einer geschichtlich gewordenen Ordnung menschlichen Zusammenlebens widersprechen. Wenn mehrere Regierungen Artikel annehmen, über deren Inhalt sie verschiedener Meinung sind, wenn dann diese Artikel in der Praxis der Regierungen kein Leben gewinnen – wie nach dieser Entstehung nicht zu verwundern –, wenn nun Logiker diese Artikel auslegen und die Praxis der Regierungen lehnt diese Auslegungen ausdrücklich oder stillschweigend ab, dann muß man sich bescheiden, sofern man eben bei der Aufgabe der rechtlichen Beurteilung bleiben will, so sehr auch das Ziel politisch oder moralisch erstrebenswert sein sollte!

Aber: Lassen wir einmal die bittere Wirklichkeit jener Jahre seit dem italienisch-abessinischen Konflikt aus dem Auge. Nehmen wir einmal an, es hätte einen allgemeinen, und zwar einen eindeutigen Pakt gegeben, den die Vertragspartner in innerlicher, in sachlicher Übereinstimmung angenommen und gehandhabt hätten. Wäre dann die Strafbarkeit einzelner wegen Bruchs eines solchen Vertrags im Völkerrecht gegeben gewesen?

Nein! Nicht einmal die Strafbarkeit des Staates, geschweige denn einzelner Männer.

Es wäre nach dem geltenden Völkerrecht mit dem Bruch eines solchen Vertrags nicht anders gewesen, als mit einer sonstigen Verletzung des Völkerrechts. Der vertragsbrüchige Staat beginge ein Völkerrechtsdelikt, aber keine strafbare Handlung51. Es ist gelegentlich versucht worden, aus den Worten delit, crime international und condamnation de la guerre auf ein völkerrechtliches Kriminalrecht in unserem Fall zu schließen. Solche Schlüsse arbeiten mit unrichtigen Vordersätzen52. Jeder Jurist weiß, daß alles unrechtmäßige Verhalten Delikt heißen kann, nicht nur das strafbare. Und das Wort crime wird sogar ganz außerhalb der rechtlichen Sphäre gebraucht. Und gerade in unserem Fall! Als die Völkerbundsversammlung im Jahre 1927 den Krieg für eine crime international auf polnischen Antrag erklärte, stellte der polnische Berichterstatter ausdrücklich fest, daß die Erklärung nicht eigentlich ein rechtliches Instrument sei, sondern ein Akt von moralischer und erzieherischer Bedeutung53.

Der Versuch, ein universales Weltsystem der kollektiven Sicherheit rechtlich zu organisieren, ist gescheitert. Das bedeutet aber nicht, daß damit die zahlreichen zweiseitigen Verträge unanwendbar geworden sind, deren Aufgabe es ist, den Angriffskrieg zwischen den beiden Partnern auszuschließen. Man wird freilich prüfen müssen, ob etwa die Vertragsparteien die Existenz oder Fortexistenz eines allgemeinen Apparates der kollektiven Sicherheit zur Voraussetzung der Geltung des Vertrags gemacht haben. Von den einseitigen Zusicherungen, nicht anzugreifen, gilt dasselbe, wie von den bilateralen Verträgen.

Es sind viele zweiseitige Nichtangriffsverträge geschlossen worden und manche einseitigen Zusicherungen gegeben worden. Bald bestimmt der politische, bald ein juristischer Begriff des Angriffs oder gar eine Mehrheit solcher juristischer Begriffe nebeneinander über Recht und Unrecht. Auch das Deutsche Reich hat eine Reihe solcher Verträge geschlossen. Sie sind von der Anklage zur Begründung herangezogen worden. Ob alle diese Verträge im kritischen Augenblick noch in Kraft waren, ist zu prüfen. Diese Prüfung muß den Herren Einzelverteidigern überlassen bleiben. Wenn aber das Deutsche Reich im Einzelfall, entgegen einem noch gültigen Nichtangriffsvertrag, zum Angriff geschritten sein sollte, so hat es ein völkerrechtliches Delikt begangen und haftet dafür nach den Regeln des Völkerrechts über völkerrechtliche Delikte.

Aber nur das Reich. Nicht der einzelne und wäre es das Staatsoberhaupt. Das ist nach dem geltenden Völkerrecht über jeden Zweifel erhaben.

Es ist nicht nötig, darüber überhaupt zu sprechen. Denn es ist bis in die jüngste Zeit hinein, weder im mandschurischen, noch im italienisch-abessinischen, noch im russisch-finnischen Konflikt auch nur die Möglichkeit erörtert worden, diejenigen Menschen, die auf japanischer oder italienischer oder sowjetischer Seite für Planung, Vorbereitung, Eröffnung und Durchführung des Krieges zuständig waren oder einfach an diesen Akten irgendwie beteiligt waren, strafrechtlich zu verfolgen. Und die Anklage ist nicht etwa deshalb unterblieben, weil man in paradoxer Weise die Dinge nicht zu Ende gedacht hätte. Sondern es ist nicht geschehen, weil es nicht geschehen kann, solange die Souveränität der Staaten das organisatorische Grundprinzip der ganzen zwischenstaatlichen Ordnung ist.

VORSITZENDER: Ich glaube, es wäre jetzt ein geeigneter Zeitpunkt für eine Pause.