[Pause von 10 Minuten.]
PROF. DR. JAHRREISS: Eines oder das andere54. Sollte es dahin kommen, daß nach allgemeinem Weltrecht die Männer, die an der Planung, Vorbereitung, Eröffnung und Durchführung eines völkerrechtlich verbotenen Krieges beteiligt waren, vor ein Strafgericht gestellt werden könnten, dann unterlägen die Entscheidungen über die letzten Existenzfragen des Staates einer überstaatlichen Kontrolle. Man könnte selbstverständlich auch solche Staaten noch souverän nennen, aber sie wären nicht mehr souverän. Kelsen wiederholt in seiner schon mehrfach erwähnten Abhandlung von Ende 1943, die er nach der Moskauer Konferenz vom 1. November 1943 schrieb, immer wieder den Satz, daß in der Frage des Friedensbruchs nach geltendem allgemeinen Völkerrecht eine Strafbarkeit einzelner nicht besteht und wegen der Souveränität nicht bestehen kann55.
Für die Europäer jedenfalls hat der Staat seit den letzten vier Jahrhunderten, vor allem seit dem immer stärkeren Vordringen des Nationalstaatsgedankens die Würde einer Überpersönlichkeit gewonnen.
Selbstverständlich sind Staatsakte Handlungen von Menschen. Aber es sind eben Staatsakte, Akte des Staates durch seine Organe und nicht Privatakte der Herren Müller oder Schmidt.
Was die Anklage tut, wenn sie im Namen der Welt-Rechtsgemeinschaft einzelne Männer wegen ihrer Entschlüsse über Krieg und Frieden rechtlich verurteilt sehen will, das ist in der Perspektive der europäischen Geschichte eine »Privatisierung« des Staates, ja, ein Zerschlagen des Staates im Geiste. Eine solche Anklage, über deren moralische Berechtigung ich nicht zu handeln habe, eine solche Anklage ist – wie wir schon zeigten – unvereinbar mit dem Wesen der Souveränität und mit dem Fühlen der meisten Europäer. Es scheint freilich, als fühlten nicht nur Europäer so. Im Jahre 1919 in Paris wandten sich am schärfsten die amerikanischen Vertreter in der Kriegsschuld-Untersuchungskommission gerade auch wegen der Unvereinbarkeit eines solchen Verfahrens mit der Souveränität des Staates gegen eine rechtliche Aburteilung des Kaisers56. Und man kann den Gedanken der Souveränität überhaupt nicht stärker anerkennen, als es Kellogg acht Jahre später bei den Verhandlungen zum Pakt von Paris getan hat, als er erklärte, wie ich schon sagte: Jeder Staat ist alleiniger Richter über sein Verhalten in der Existenzfrage.
Manche Zeit vergöttert die Souveränität des Staates. Manche andere verflucht sie. Manche vergöttert und verflucht sie in einem. So unsere Zeit. Vielleicht sind wir im Übergang, vielleicht findet eine Umwandlung der Werte statt. Vielleicht wird die Weltgemeinschaft der höchste politische Wert der Völker an Stelle der einzelnen Staaten, die es bisher jedenfalls waren. Vielleicht kommen wir dahin, daß die Entfesselung eines moralisch und auch rechtlich verdammenswerten Krieges für das allgemeine Rechtsgefühl Hochverrat an der Weltgemeinschaft ist; vielleicht kommen wir dahin, daß eine Regierung, die einen solchen Krieg entfesselt, an das Ausland verraten werden darf oder gar verraten werden muß, ohne daß man noch rechtlich von Landesverrat sprechen darf? Heute stehen die Völker nirgendwo in ihrer Mehrheit, geschweige denn geschlossen auf diesem Standpunkt.
Die Bestrafung einzelner durch die Völkerrechtsgemeinschaft wegen Bruchs des zwischenstaatlichen Friedens kann somit nur angeordnet werden, wenn die Grundlagen des geltenden Völkerrechts und die im Lebensgefühl der europäischen Völker seit Jahrhunderten fest verwurzelten Wertvorstellungen aufgegeben werden, für die der Staat, der eigene souveräne Staat die unabdingbare Grundlage der freien Persönlichkeit ist.
Die Anklage zerschlägt in Gedanken den Deutschen Staat für eine Zeit, wo er in voller Kraft aufrecht stand und durch seine Organe handelte. Sie muß es tun, wenn sie einzelne Menschen wegen zwischenstaatlichen Friedensbruchs treffen will. Sie muß die Angeklagten zu Privatpersonen machen. Aber dann fügt sie die Angeklagten – sozusagen auf der privaten Ebene – mit Hilfe der dem angelsächsischen Recht entnommenen und uns fremden Strafrechtsvorstellung einer Conspiracy zusammen, gibt ihnen den Vielmillionen-Unterbau von Organisationen und Gruppen, die als verbrecherisch bezeichnet werden und läßt damit doch wieder eine überpersönliche Größe erscheinen.
Soweit das Statut dieses alles mit seinen Vorschriften stützt, statuiert es grundsätzlich Neues, wenn man mit dem Herrn britischen Hauptankläger am geltenden Völkerrecht mißt. Das, was – von Europa kommend – schließlich die ganze Welt umfaßt hat und Völkerrecht heißt, ist seinem Wesen nach ein Recht der Nebeneinanderordnung, coordination, souveräner Herrschaftsverbände. Messen wir die Vorschriften des Statuts an diesem Recht, so muß gesagt werden: Die Vorschriften des Statuts negieren die Grundlagen dieses Rechts, sie nehmen das Recht eines Weltstaates vorweg.
Sie sind revolutionär. Vielleicht gehört ihnen im Hoffen und Sehnen der Völker die Zukunft. Der Jurist, und nur als solcher darf ich hier sprechen, hat lediglich festzustellen, daß sie neu sind, umstürzend neu. Das Recht über Krieg und Frieden zwischen den Staaten hatte für sie keinen Platz, konnte für sie keinen Platz haben. So sind sie Strafgesetze mit rückwirkender Kraft.
Nun hat, wenn ich recht verstehe, der Herr französische Hauptankläger in seiner menschlich tief packenden Rede die Souveränität der Staaten anerkannt und ganz richtig gesehen, daß zwischen dem Statut und dem geltenden Völkerrecht eine unüberbrückbare Kluft besteht, wenn es einzelne Männer wegen Bruchs des zwischenstaatlichen Friedens kriminell bestraft sehen will. Er verlegt deshalb den Prozeß aus der Ebene des Völkerrechts in die Ebene des Staatsrechts. Es hätte ja sein können, daß eine deutsche Staatsgewalt nach dem Krieg mit denjenigen Männern abgerechnet hätte, die für die Entfesselung des Krieges verantwortlich waren. Da nun heute das gesamte Leben des deutschen Volkes gelähmt ist, nehmen diejenigen fremden Mächte, die in vertraglicher Zusammenarbeit miteinander die Territorialgewalt in Deutschland haben, die Abrechnung vor. Das Statut hat die Normen gesetzt, die das Gericht bei seiner Untersuchung und bei seinem Spruch lenken sollen.
Es kann hier ungeprüft bleiben, ob diese Auffassung rechtlich richtig ist oder nicht.
Auch wenn sie richtig sein sollte, wird unsere Frage dadurch nicht geändert. Wir müssen in dieser Ausgangsstellung nicht weniger als bei der völkerrechtlichen wissen, wie weit das Statut Strafgesetze mit rückwirkender Kraft gibt. Aber wir müssen jetzt die Vorschriften des Statuts außer am Völkerrecht, das für das Deutsche Reich gegolten hat und in Territorialrecht umgegossen wurde – wie man zu sagen pflegt –, auch nach Territorialstrafrecht messen, das zur Zeit der Tat für die Angeklagten verbindlich war. Es ist ja von vornherein möglich, daß ein Staat, ein Mitglied der Staatengemeinschaft, in seinem Strafrecht kosmopolitischer ist als das derzeitige Völkerrecht. Dann könnte eine Norm des Statuts, die gegenüber dem geltenden Völkerrecht neu ist, einem schon bestehenden Territorialgesetz entsprechen, und dann wäre es eben kein Strafgesetz mit rückwirkender Kraft. Wie war also in dem territorialen Strafrecht, dem die Angeklagten zur Zeit der Vorbereitung und Entfesselung der Kriege unterstanden, der Bruch des zwischenstaatlichen Friedens, insbesondere der Bruch von Nichtangriffsverträgen behandelt?
Es könnte sein, daß in einem Staat diejenigen Menschen mit Strafe bedroht werden, die entgegen völkerrechtlichen Verpflichtungen dieses Staates einen Krieg vorbereitet oder entfesselt oder geführt haben57. Das wäre allerdings völlig unpraktisch. Denn auch über die innere Abrechnung entscheidet der Ausgang des Krieges. Einer siegreichen Regierung droht kein Strafgericht. Im Falle der Niederlage aber gibt eben die Niederlage das Maß der Abrechnung. Auf alle Fälle sind die Bestimmungen des Statuts über die Bestrafung wegen Bruchs des zwischenstaatlichen Friedens für das Territorialstrafrecht, dem die Angeklagten zur Zeit der Tat unterstanden, neu. Wenn man aber den Satz »nulla poena sine lege praevia« nicht so versteht, wie er auf dem europäischen Kontinent verstanden wird: Gesetz im Sinne von lex ist eine staatlich gesetzte Norm, ist Staatsgesetz – sondern wenn man der Auffassung ist, die, soviel ich sehe, den englischen Rechtsdenkern eigentümlich ist, nämlich der Auffassung, daß Gesetz im Sinne von lex auch eine eingewurzelte Norm der Moral, der guten Sitten sein kann, dann bleibt uns noch eine Frage: Haben, wie die Dinge nun einmal waren, die Angeklagten, ehemalige Minister, militärische Führer, Lenker der Wirtschaft, Leiter höherer Behörden, zur Zeit der Tat ein Verhalten als pflichtwidrig empfunden oder auch nur empfinden können, das nun durch nachträgliches Gesetz unter Strafe gestellt wird?
Die Antwort auf diese Frage kann nicht anders gegeben werden, als mit einem Einblick in das Wesen der deutschen Reichsordnung im Augenblick der Tat.
Das Deutsche Reich war eingegliedert in die Gemeinschaft der Staaten in der Gestalt, in der Verfassung, die es jeweils im Laut der Zeit hatte. So, wie das mit jedem Glied der Staatengemeinschaft der Fall ist. Die Vereinigten Staaten und das Britische Weltreich, die Union der Sowjetrepubliken und die Französische Republik, Brasilien und die Schweiz stehen im Gefüge der Völkerrechtsfamilie mit der Staatsordnung, die sie gerade haben.
Mit vollem Recht hat deshalb die Anklage den Versuch unternommen, diese konkrete Gestalt des Reiches gedanklich zu erfassen. Denn ohne einen solchen Versuch kann in diesem Prozeß niemand zu einem Urteil über Recht und Unrecht kommen. Übrigens scheinen mir auch viele moralische Fragen, die hier aufgeworfen sind, einen solchen Versuch zu verlangen. Ich fürchte aber, daß man mit dem Bild, das die Anklage entworfen hat, der Wahrheit nicht so nahe kommen kann, wie es trotz der Kompliziertheit des Sachverhaltes möglich ist.
Die Anklage geht aus von der Vorstellung einer Welteroberungsverschwörung von ein paar Dutzend Verbrechern. Das deutsche Staatswesen wird, wenn man die Dinge so sieht, zu einem bloßen Schatten oder zu einem bloßen Werkzeug. Aber dieses Staatswesen war längst da; das ungeheure Gewicht seiner Geschichte konnte niemand beiseite schieben. So manches aus dieser Geschichte, im Inneren und besonders im Äußeren, hat Hitler den Aufstieg zur Macht überhaupt erst ermöglicht oder erleichtert; und so manches aus dieser Geschichte hat Hitler in der Auswahl seiner Ziele und Mittel gelenkt, getrieben, beschränkt oder gebremst, hat mitentschieden über Erfolg oder Mißerfolg seiner Maßnahmen und Unternehmungen.
Die Anklage hat gewiß recht darin, daß sie mit großem Nachdruck hingewiesen hat auf das Führerprinzip. In der Tat: Dieses sogenannte Führerprinzip ist für das Auge und noch stärker für das Ohr des deutschen Volkes wie der Weltöffentlichkeit das organisatorische Leitprinzip in der Entwicklung der Reichsverfassung seit 1933 gewesen.
Eindeutig war es freilich nie. Und es hat seine Natur im Laufe der Jahre sehr verändert. Im Leben der Menschen sind Führen und Herrschen von Haus aus Gegensätze. Es gibt eine – ich möchte sagen – seelenlose mechanische Art der Menschenlenkung, das Herrschen, das Kommandieren. Und es gibt eine andere, das vorbildliche Vorangehen mit freiwilliger Nachfolge, das Führen oder wie man es nennen mag. Diese Unterscheidung zweier grundverschiedener Methoden der Menschenlenkung wird oft schon sprachlich erschwert; im Deutschen etwa dadurch, daß man Führen gelegentlich als charismatisches Herrschen oder Herrschen mitunter als Führen bezeichnet. Weiter wird die Unterscheidung dadurch erschwert, daß zwischen denselben Menschen bald das Führen, bald das Herrschen wirksam wird, oder dadurch, daß eigentliche Formen des Führens für das Herrschen oder eigentliche Formen des Herrschens für das Führen benutzt werden. Jeder Staat stand, steht und wird stehen vor der Frage, wie er diese beiden Methoden verbindet, so, daß sie sich ergänzen, fördern, kontrollieren. Beide Methoden treten immer und überall auf. Es hat noch nie und nirgends einen wirklich großen Herrscher gegeben, der nicht auch Führer gewesen wäre. Aber auch die kleinen Herrscher unterliegen diesem Zwang. Und das Hitler-Regime hat jedenfalls am Anfang eine Synthese der beiden Methoden gebracht, die mindestens den Schein einer ungeheuren Leistungsfähigkeit hatte. Man hat dieser Synthese vielleicht nicht mit Unrecht vieles von dem zugeschrieben, was die Welt als Ergebnis einer unerhörten Mobilisierung, Zusammenfassung und Steigerung der Kräfte einer Nation bald billigend, bald und öfter mißbilligend, angestaunt hat.
Diese besondere Synthese von Führen und Befehlen fand ihre stärkste Ausprägung in der Person Hitlers selbst, in seinen Führungsaktionen, etwa in seinen Reden und in seinen Befehlsakten. Hitlers Akte der Führung und des Kommandierens wurden die Motoren des deutschen Staatslebens in jener Zeit. Dieser Erscheinung gilt es vor allem anderen gerecht zu werden. Sie ist für die Beurteilung des ungeheuren Tatsachenmaterials, das hier ausgebreitet worden ist, von schlechthin entscheidender Bedeutung. Bei aller Vorsicht nun, die dem wissenschaftlich denkenden Menschen selbstverständlich ist und die ihm ein kaum überwindbares Mißtrauen befiehlt gegen jeden Versuch, so kurz zurückliegende Ereignisse zu erfassen und zu bewerten, kann man vielleicht diese Behauptung wagen: Im Laufe der Jahre hat Hitler den Befehl mehr und mehr vor den Akten der Führung bevorzugt und schließlich so sehr in den Vordergrund geschoben, daß der Befehl und nicht der Führungsakt die alles entscheidende Tatsache wurde. Aus dem Volksmann Hitler wurde mehr und mehr der Diktator. Die Reden, in denen er sich bis zum Überdruß selbst willigster Anhänger wiederholte und bis zum Verdruß auch gläubiger Gefolgsleute überschrie, wurden seltener, die Gesetzgebungsmaschine aber lief immer schneller. Eine spätere Zeit wird vielleicht erkennen, wieweit die große Änderung, die sich in der Einstellung des deutschen Volkes zu Hitler schon vor dem Krieg anbahnte, Ursache oder Wirkung dieser Wandlung ist.
Während Hitler in der Frage einer Äußerlichkeit, nämlich in der Frage, wie er genannt zu werden wünschte, danach drängte, nicht mehr »Führer und Reichskanzler«, sondern nur noch »Führer« zu heißen, ging die Staatsführung genau den entgegengesetzten Weg: Das Führen verschwand mehr und mehr, und es blieb die nackte Herrschaft. Der Befehl des Führers wurde zum zentralen Element des deutschen Staatsgefüges.
In der öffentlichen Hierarchie brachte diese Entwicklung für die Macht Hitlers eher einen Zuwachs als eine Minderung. Die deutschen Beamten und Offiziere hatten in ihrer großen Mehrheit hinter dem organisierten Führen nichts anderes gesehen als einen neuartig etikettierten und womöglich noch bürokratischeren Herrschaftsapparat neben dem überkommenen staatlichen. Als der Befehl Hitlers das große A und O wurde, fühlten sie sich sozusagen wieder im gewohnten Gleis. Das Unheimliche, Rätselhafte war gewichen. Sie waren wieder in ihrer Welt der Subordination. Immerhin hatte aber diese Entwicklung dem Befehl des Führers auch bei ihnen einen besonderen Nimbus verliehen; gegen den Befehl des Führers gab es keinen Widerspruch. Man mochte allenfalls Bedenken vorbringen; blieb aber der Führer bei seinem Befehl, so war die Sache entschieden. Sein Befehl war etwas ganz anderes als der Befehl irgendeines Funktionärs der Hierarchie unter ihm.
Damit sind wir bei der für diesen Prozeß grundlegenden Frage: Was ist der Befehl Hitlers in der deutschen Staatsordnung gewesen? Gehörte er zu der Art von Befehlen, die von dem Statut dieses Gerichts als Strafausschließungsgrund beiseite geschoben wurden?
Es ist für einen Juristen, der in den Gewöhnungen des sogenannten Rechtsstaates aufgewachsen ist, vielleicht schwerer gewesen als für andere Menschen, das erst langsame, dann immer schnellere Abbröckeln des Rechtsstaatlichen zu erleben; denn er ist nie in der neuen Ordnung heimisch geworden, hat immer halb und halb außerhalb gestanden. Aber gerade deshalb weiß er wohl auch besser als jemand sonst um die Eigenart dieser neuen Ordnung. Es muß versucht werden, sie verständlich zu machen.
Die staatlichen Befehle, sie mögen Normen setzen oder Einzelfälle entscheiden, können stets an dem bisherigen gesetzten oder ungesetzten Recht dieses Staates gemessen werden, aber auch an den Normen des Völkerrechts, der Sittlichkeit, der Religion. Irgendwer und wäre es das eigene Gewissen des Befehlenden, fragt immer: Hat der Befehlende etwas befohlen, was er nicht befehlen durfte? Oder: Hat er seinen Befehl etwa in einem unzulässigen Verfahren gebildet und kundgetan? Ein unvermeidbares Problem für jede Herrschaft besteht aber nun darin: Soll oder kann sie den Gliedern der Hierarchie, ihren Beamten und Offizieren, das Recht einräumen oder gar die Pflicht auferlegen, jeden Befehl, der von ihnen Gehorsam verlangt, jederzeit darauf zu prüfen, ob er rechtens ist und danach zu entscheiden, ob sie Gehorsam leisten oder verweigern?
Keine Herrschaft, die bisher in der Geschichte aufgetreten ist, hat diese Frage bejaht. Immer ist nur gewissen Gliedern der Hierarchie dieses Recht eingeräumt worden; und auch nicht unbeschränkt. So zum Beispiel auch in der extrem demokratischen Staatsordnung des Deutschen Reiches, der Weimarer Republik oder heute unter der Besatzungsherrschaft der vier Großmächte über Deutschland.
Soweit ein solches Prüfungsrecht den Gliedern der Hierarchie nicht eingeräumt wird, ist für sie der Befehl rechtens.
Jedes Staatsrecht, auch das Staatsrecht der modernen Staaten, kennt Staatsakte, die von den Behörden zu respektieren sind, selbst wenn sie fehlerhaft sein sollten. Gewisse Normsetzungen, gewisse rechtskräftig gewordene Einzelfallentscheidungen gelten, selbst wenn der Befehlende über seine Kompetenz hinausgegangen ist oder sich in der Form vergriffen hat.
Schon weil das Zurückgehen auf einen noch höheren Befehl einmal ein Ende hat, muß es in jeder Herrschaft Befehle geben, die für die Glieder der Hierarchie auf alle Fälle verbindlich sind, die also für die Amtsträger Recht sind, mögen auch Außenstehende feststellen, daß sie nach dem bisherigen Recht dieses Staates oder nach außerstaatlichen Normen nach Inhalt oder Form fehlerhaft sind.
In unmittelbaren Demokratien zum Beispiel ist dann der in dem Abstimmungsbeschluß des Volkes gegebene Befehl schlechthin geltende Norm oder schlechthin verbindliche Verfügung. Rousseau hat gewußt, wie sehr die volonté de tous gegen das Richtige verstoßen kann; er hat aber nicht verkannt, daß die Befehle dieser volonté de tous verbindlich sind.
In mittelbaren Demokratien mögen die Beschlüsse eines Kongresses, einer Nationalversammlung, eines Parlaments dieselbe Kraft haben.
In der gemischt-mittelbaren-unmittelbaren Demokratie der Weimarer Verfassung des Deutschen Reiches waren die vom Reichstag mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossenen und verkündeten Gesetze für alle Funktionäre, auch für die unabhängigen Gerichte, auf alle Fälle Recht, selbst wenn der Gesetzgeber mit diesen Gesetzen wissentlich oder nichtwissentlich gegen nichtstaatliche Normen, etwa kirchliche Normen oder völkerrechtliche Normen, verstoßen haben sollte. Im letzteren Falle hätte sich das Reich eines völkerrechtlichen Unrechts schuldig gemacht. Es hätte nämlich nicht dafür gesorgt gehabt, daß eine Gesetzgebung völkerrechtsgemäß war. Es hätte deshalb nach den völkerrechtlichen Vorschriften über die Bereinigung völkerrechtlicher Delikte gehaftet. Aber solange das betreffende Gesetz nicht nach den Normen des deutschen Verfassungsrechtes beseitigt worden wäre, hätte es von allen Amtsträgern der Hierarchie befolgt werden müssen. Kein Funktionär hätte das Recht geschweige denn die Pflicht gehabt, die Rechtsverbindlichkeit zu prüfen mit dem Ziel, je nach dem Ergebnis dieser Prüfung Gehorsam zu leisten oder zu verweigern. Das ist in keinem Staat der Welt anders. Es war nie anders und kann auch nicht anders sein. Jeder Staat noch hat es erlebt, daß seine letzten Befehle, seine höchsten Befehle, die für die Hierarchie verbindlich sein müssen, wenn die Staatsordnung überhaupt bestehen soll, gelegentlich in Widerspruch stehen zu außerstaatlichen Normen, zu göttlichem Recht, zu natürlichem Recht, zu vernünftigem Recht. Gute Regierungen mühen sich, solche Konflikte zu vermeiden. Zum Schmerz, ja zur Verzweiflung von vielen Deutschen hat Hitler häufig solche Konflikte und schwere Konflikte geschaffen. Und darum schon war sein Regieren kein gutes Regieren, mag es auch durch einige Jahre hindurch auf manchen Gebieten erfolgreich gewesen sein. Nur muß bereits hier gesagt werden: Diese Konflikte haben nie, wenigstens nicht sofort das ganze Volk oder die ganze Hierarchie getroffen, sondern immer nur Gruppen des Volkes oder Einzelstellen der Hierarchie; und die Betroffenen wurden nur zum Teil im Zentrum ihres Lebens gepackt, viele nur am Rande berührt, gar nicht zu reden von denjenigen Konflikten, die der überwältigenden Mehrheit des Volkes und der Hierarchie unbekannt blieben, gar nicht zu reden also von den Befehlen, mit denen sich Hitler nicht nur im Einzelfall unmenschlich zeigte, sondern einfach außerhalb des Menschlichen stellte. Es ist eine rein akademische Frage: Wäre Hitlers Macht so fest verwurzelt worden oder hätte sie sich gehalten, wenn jene Außenmenschlichkeiten größeren Teilen des Volkes und der Hierarchie bekanntgeworden wären? Sie wurden es eben nicht.
In einem Staat nun, in dem die gesamte Macht der letzten Entscheidungen in der Hand eines einzelnen Menschen zusammengefaßt ist, sind die Befehle dieses einen für die Glieder der Hierarchie schlechthin verbindlich. Dieser eine ist ihr Souverän, ist für sie legibus solutus, wie das – soviel ich sehe – zuerst die französische Staatslehre ebenso scharfsinnig wie beredt dargestellt hat. Die Welt steht ja nicht zum erstenmal vor einer solchen Erscheinung. Früheren Zeiten mag sie sogar als das Normale erschienen sein. In der modernen Welt, in der Welt der Verfassungen der vom Volk überwachten Gewaltenteilung, erscheint die absolute Monokratie als grundsätzlich nicht richtig. Und wenn es heute noch nicht der Fall ist, eines Tages wird die Welt wissen, daß die ungeheure Mehrheit der nachdenkenden Deutschen in diesem Punkt nicht anders gedacht hat, als die meisten nachdenkenden Menschen der anderen Völker in Europa und außerhalb.
Dennoch können eben durch Ereignisse, die in ihrer Gesamtheit kein Mensch voll übersehen und noch weniger nach Gefallen beherrschen kann, solche absolut monokratischen Verfassungen entstehen. So ist es im Deutschen Reich seit Anfang 1933 geschehen. Dies ist aus der Weimarer Parlamentsrepublik, die unter Hindenburg zur Präsidentschaftsrepublik verwandelt wurde, nach und nach in mehreren Schichten geworden, in einem Prozeß, der zum Teil in Staatsakten die Entwicklung vorantrieb, dabei legale Formen betonte und in Staatsurkunden abgelesen werden kann, zum Teil aber einfach in gebilligter Gewohnheit die Normen formte. Das Reichsgesetz vom 24. März 1933, durch das die Einrichtung des Reichsregierungsgesetzes geschaffen und somit die Gewaltenteilung im herkömmlichen Sinne praktisch beseitigt wurde, ist nach dem Sitzungsprotokoll des Reichstages mit verfassungsändernder Mehrheit zustande gekommen. Es ist an der Legalität des Gesetzes dennoch gezweifelt worden, da ein Teil der gewählten Abgeordneten polizeilich von der Sitzung ferngehalten und ein anderer Teil der anwesenden Abgeordneten eingeschüchtert gewesen sei, so daß nur scheinbar eine verfassungsändernde Mehrheit das Gesetz beschlossen habe. Ja, man hat gesagt, daß kein Reichstag, und wäre es mit allen Stimmen bei voller Anwesenheit, das Verfassungsgrundprinzip der Gewaltenteilung hätte wegbeschließen können, denn keine Verfassung könne zu ihrem Selbstmord ermächtigen. Wir brauchen das nicht zu prüfen; die Einrichtung des Regierungsgesetzes ist durch undiskutierte Praxis so fest verwurzelt worden, daß nur eine völlig wirklichkeitsfremde Formaljurisprudenz Paragraphen gegen das Leben auszuspielen und die vollzogene Verfassungswandlung zu ignorieren versuchen kann. Und aus demselben Grunde ist es eine Fehlkonstruktion, wenn man ignoriert, wie sich dann das Regierungsgesetz, das heißt das Kabinettsgesetz gewohnheitsmäßig zu einer von mehreren Gestaltungen der Gesetzgebung des Führers verwandelt hat. An der Basis jeder Staatsordnung wie jeder Ordnung überhaupt steht eben die Gewohnheit. Seit Hitler Staatsoberhaupt geworden war, hat die Praxis rasch dahin geführt, daß Hitler als unbestrittener und unbestreitbarer Inhaber jeder Zuständigkeit vor der Hierarchie wie vor dem ganzen Volk stand.
Das Ergebnis der Entwicklung war jedenfalls: Hitler wurde der oberste Setzer der Normen wie auch der Einzelbefehle.
Er wurde das nicht zuletzt wohl unter dem Eindruck der überraschenden Erfolge oder dessen, was man in Deutschland und im Ausland als Erfolge ansah, zumal im Laufe dieses Krieges. Vielleicht ist das deutsche Volk, wenn auch mit starken Unterschieden zwischen Nord und Süd, West und Ost – besonders leicht der tatsächlichen Macht untertan, besonders leicht durch Befehl zu lenken, besonders gewohnt an den Gedanken der Obrigkeit. So mag der ganze Prozeß erleichtert worden sein.
Nicht völlig klar war schließlich nur Hitlers Verhältnis zum Richterspruch. Denn selbst in Hitler- Deutschland ist der Gedanke nicht abzutöten gewesen, daß es unerläßlich sei, die Rechtspflege durch unabhängige Gerichte ausüben zu lassen, wenigstens in den Angelegenheiten, welche die breiten Massen in ihrem Alltagsleben angehen. Bis in die oberste Gruppe der Parteifunktionäre – das haben einige der hier vorgelegten Reden des damaligen Reichsrechtsführers, des Angeklagten Dr. Frank gezeigt – hielt sich ein allerdings nicht sehr erfolgreicher Widerstand, als auch die Rechtspflege in bürgerlichen Sachen und in gemeinen Strafsachen unter das sic volo sic jubeo des einen Mannes gepreßt werden sollte. Aber außerhalb der schließlich auch wankenden Justiz war die absolute Monokratie vollkommen. Die pompöse Erklärung des Reichstags über die Rechtsstellung Hitlers vom 26. April 194258 war in der Tat nur eine Feststellung dessen, was schon längst Praxis geworden war.
Der Befehl des Führers war Gesetz schon geraume Zeit vor diesem zweiten Weltkrieg.
In dieser seiner Staatsordnung ist das Deutsche Reich von den übrigen Staaten als Partner behandelt worden, und zwar im gesamten Bereich der Politik. Ich will dabei gar nicht so sehr auf die durch das deutsche Volk so einprägsame und für jede Opposition in Deutschland so verhängnisvolle Weise eingehen, wie das im Jahre 1936 bei den Olympischen Spielen geschah, bei der Veranstaltung, zu der Hitler die Abordnungen der fremden Nationen nicht befehlen konnte, wie er Deutsche zum Nürnberger Parteitag mit seinen Staatsveranstaltungen kommandierte. Ich möchte vielmehr nur darauf hinweisen, daß die Regierungen der mächtigsten Reiche der Welt das Wort dieses »allmächtigen« Mannes als die letzte und für jeden Deutschen widerspruchslos gültige Entscheidung angesehen und ihre Entschlüsse gerade in den größten Fragen auf der Tatsache aufgebaut haben, daß Hitlers Befehl widerspruchslos galt. Man hat sich – um nur die markantesten Fälle zu nennen – auf diese Tatsache verlassen, als der englische Ministerpräsident Neville Chamberlain nach der Konferenz von München bei der Landung in Croydon das berühmte Friedenspapier vorwies. Man hat sich an diese Tatsache gehalten, als man gegen das Reich als die barbarische Despotie dieses einen Mannes zu Felde zog.
Noch nie hat eine Staatsordnung allen Menschen gefallen, die unter ihr leben oder im Ausland ihre Auswirkungen spüren. Die deutsche Staatsordnung der Hitler-Zeit hat im Inland und Ausland besonders vielen und zunehmend mehr Menschen mißfallen. Das ändert aber nichts daran, daß sie eben gegolten hat. Nicht zuletzt wegen jener Anerkennung von außen und wegen jener Wirksamkeit, die einen englischen Ministerpräsidenten in, der kritischen Zeit zu der in der ganzen Welt berühmt gewordenen Feststellung brachte, die Demokratien brauchten jeweils zwei Jahre länger als die autoritären Regierungen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Nur wer fröstelnd und wie ausgestoßen aus dem eigenen Volke inmitten blindgläubiger, diesen Mann als einen Unfehlbaren vergötternden Massen gelebt hat, weiß, wie fest die Macht Hitlers in der Gefolgschaft der Namenlosen, Unzähligen verankert war, die ihm nur Gutes, nur das Richtige zutrauten. Sie kannten ihn nicht persönlich, für sie war er, was die Propaganda aus ihm machte, aber das war er dann so kompromißlos, daß jeder, der ihn aus der Nähe sah und anders sah, klar wußte: Auflehnung ist völlig nutzlos und in den Augen der Mitmenschen nicht einmal Märtyrertum.
Wäre es daher nicht ein Selbstwiderspruch im Handeln, wenn in den Normen dieses Prozesses zugleich diese beiden Behauptungen zugrunde gelegt werden sollten:
Erstens: Das Reich war eine Despotie dieses einen Mannes und gerade dadurch eine Weltgefahr.
Zweitens: Jeder Funktionär hatte das Recht, ja die Pflicht, die Befehle dieses Mannes nachzuprüfen und je nach dem Ergebnis dieser Prüfung zu befolgen oder nicht zu befolgen.
Die Funktionäre hatten weder das Recht noch gar die Pflicht, die Befehle des Monokraten auf ihre Rechtmäßigkeit nachzuprüfen. Für sie konnten diese Befehle überhaupt nicht rechtswidrig sein, mit einer – genau gesehen allerdings nur scheinbaren – Ausnahme, von der, später zu sprechen sein wird, nämlich mit der Ausnahme der Fälle, in denen sich der Monokrat nach den undiskutierbaren Wertungen unserer Zeit außerhalb jeder menschlichen Ordnung stellte, in denen eine echte Frage, ob Recht oder Nichtrecht gar nicht gestellt und somit eine echte Prüfung gar nicht aufgegeben war.
Hitlers Wille war eben die letzte Instanz für ihre Erwägungen über das, was zu tun oder zu lassen sei. Der Befehl des Führers schnitt jede Erörterung ab. Darum: Wer sich als Funktionär der Hierarchie auf den Befehl des Führers beruft, will nicht für eine rechtswidrige Handlung einen Strafausschließungsgrund angeben, sondern er bestreitet die Behauptung, sein Verhalten sei rechtswidrig; denn der Befehl sei rechtlich unangreifbar, den er befolgt habe.
Nur wer das begriffen hat, kann überhaupt die schweren inneren Kämpfe verstehen, die in diesen Jahren so viele deutsche Amtsträger bald bei diesem, bald bei jenem Erlaß oder Beschluß Hitlers durchgefochten haben. Es handelt sich für sie in solchen Fällen nicht um einen Konflikt zwischen Recht und Unrecht: Streitigkeiten um die Legalität sanken zur Bedeutungslosigkeit herab. Es ging für sie um die Legitimität. Irdisches und göttliches Recht standen je länger je mehr und je öfter gegeneinander.
Darum: Was immer das Statut unter den Befehlen versteht, die es als Strafausschließungsgrund beiseite schiebt, kann der Befehl des Führers damit gemeint sein? Kann er unter den Sinn dieser Vorschrift fallen? Muß man nicht diesen Befehl als das nehmen, was er nach der einmal gewordenen inneren deutschen Ordnung war, nach einer Ordnung, die von der Staatengemeinschaft ausdrücklich oder stillschweigend anerkannt war? Vielen Deutschen hat die Machtstellung Hitlers von Anfang an nicht gefallen, und vielen Deutschen, die sie zunächst begrüßt haben, weil sie sich nach klaren, schnellen Entscheidungen sehnten, ist sie später ein Greuel geworden. Das ändert aber nichts an diesem: Müssen nicht diejenigen Menschen, die nach dieser Ordnung gern oder ungern in der Hierarchie ihre Pflicht erfüllten, die Verurteilung wegen einer Handlung oder Unterlassung, die der Führer befohlen hatte, als ein ihnen angetanes Unrecht empfinden?
Eine Staatengemeinschaft könnte sich ja weigern, solche Staaten als Mitglieder aufzunehmen oder zu dulden, die eine despotische Verfassung haben. Doch war das bis jetzt nicht der Fall.
Soll es in Zukunft anders sein, so müssen die Nichtdespotien die notwendigen Vorkehrungen dagegen treffen, daß sich ein Mitglied der Staatenfamilie in eine Despotie verwandelt oder daß von außen eine Despotie in den Kreis der Familie tritt. Die Erkenntnis wird heute immer stärker, daß das der entscheidende Punkt in unserer Frage ist. Es müssen schon ganz besondere Umstände gegeben sein, wenn sich ein modernes Volk despotisch regieren läßt, selbst wenn es so gehorsamswillig ist wie das deutsche. Aber sobald es solche Umstände gibt, dann ist von innen her kein Gegenmittel mehr da. Nur die Umwelt kann dann helfen. Erkennt sie aber statt dessen die Ordnung an, dann ist nicht zu sehen, woher von innen erfolgreicher Widerstand kommen soll. Mit diesem Hinweis auf die besonderen Umstände und auf die Anerkennung durch die Umwelt machen wir auf Tatsachen aufmerksam, für deren Vorliegen zum Beispiel in unserem Fall kein Deutscher verantwortlich gewesen ist, die aber nicht weggedacht werden können, wenn danach gefragt wird, wie das alles möglich war.
Es muß nun aber noch auf gewisse weitere Tatsachen aufmerksam gemacht werden, ohne deren Kenntnis nicht voll verstanden werden kann, daß sich die absolute Monokratie Hitlers so ungeheuer festsetzen konnte. Hitler hat in sich vereinigt die gesamte Macht der obersten Befehle, der nicht nachprüfbaren Befehle, der unbedingt geltenden Befehle, der Normsetzung und Verwaltung. Unmittelbar unter ihm aber wurde die Staatsmacht aufgegliedert in eine kaum noch übersehbare Fülle von Zuständigkeitsbereichen. Diese Bereiche aber wurden gegeneinander nicht immer scharf abgegrenzt. In den modernen Staatswesen, zumal in den Großstaaten eines technisierten Zeitalters, ist das gar nicht zu vermeiden. Die Neigung aber, Zuständigkeitsfragen zu überschätzen, ist in Deutschland sicher nicht geringer als in einem anderen Lande. Das erleichterte die Aufrichtung von Scheidewänden zwischen den Ressorts. Eifersüchtig wachte jedes Ressort darüber, daß kein anderes in seinen Garten eindrang. Es witterte überall Ausweitungstendenzen anderer Ressorts; bei der ungeheuren Fülle von Aufgaben, die der sogenannte »totale« Staat auf sich gehäuft hatte, konnten Doppel- und Dreifachzuständigkeiten nicht ausbleiben. Ressortkämpfe waren unvermeidlich. Wenn eine Verschwörung bestanden haben sollte, wie das die Anklage annimmt, so sind die Verschwörer merkwürdig unfähige Organisatoren gewesen. Statt zusammenzuhalten und miteinander durch dick und dünn zu gehen, bekämpften sie einander. Statt einer Konspiration haben sie eher eine Dispiration. Die Geschichte der Eifersucht und des Mißtrauens zwischen den Mächtigen unter Hitler muß noch geschrieben werden. Und nun vergegenwärtige man sich, daß man sich zwischen allen Ressorts und innerhalb der Ressorts mit immer mehr Geheimtuerei umgab. Von Ressort zu Ressort und innerhalb der Ressorts von Stufe zu Stufe und auf den einzelnen Stufen wurden immer mehr Angelegenheiten »Geheimsachen«. Noch nie hat es in Deutschland soviel »öffentliches Leben«, das heißt nicht privates Leben gegeben wie unter Hitler: aber noch nie war das öffentliche Leben für das Volk, vor allem aber für die einzelnen Glieder der Hierarchie selbst so verschleiert wie unter Hitler.
Der eine oberste Wille wurde ganz einfach technisch unentbehrlich. Er wurde die mechanische Klammer für das Ganze. Ein Funktionär, der mit einem seiner Befehle auf Bedenken oder gar auf Widerstand anderer Funktionäre stieß, brauchte nur auf einen Befehl des Führers hinzuweisen, und er hatte gewonnenes Spiel. Viele, sehr viele unter denjenigen Deutschen, die das Regime Hitlers als unerträglich empfanden, ja ihn wie den Teufel haßten, haben deshalb nur mit größter Sorge dem Abtreten dieses Mannes von der Bühne entgegengesehen: Denn was sollte werden, wenn diese Klammer verschwand? Es war ein diabolischer Zirkel.
Ich wiederhole: Ein Befehl des Führers war für den Angesprochenen verbindlich, und zwar rechtsverbindlich, auch wenn die Weisung dem Völkerrecht oder anderen überkommenen Wertungen zuwiderlief.
Aber gab es nicht doch eine Grenze? Die Anhänger Hitlers im Volk haben jedenfalls in der ersten Zeit, das heißt gerade in der Zeit der Machtbegründung, in der Zeit der schrittweisen Herausbildung der monokratischen Herrschaftsordnung in ihrem Führer einen volksnahen Menschen, einen selbstlosen, beinahe übermenschlich sicher fühlenden und klardenkenden Staatslenker gesehen, ihm nur das Beste zugetraut und nur die eine Sorge gehabt, ob er sich auch die richtigen Männer als Gehilfen aussuchte und ob er auch immer wußte, was sie taten. Diesem Hitler ist die ungeheure Machtfülle, ist die unbegrenzte Vollmacht gegeben worden. Sie umfaßte wie in jedem Staat auch harte Befehle. Doch nie und nimmer war sie als Vollmacht zu Unmenschlichkeiten gemeint. Hier ist die Grenze. Aber diese Grenze ist seit je nirgendwann und nirgendwo ganz klar gezogen. Das deutsche Volk ist heute in seinen Meinungen, Gefühlen und Absichten völlig zerrissen. Aber in einem dürfte es mit wenigen Ausnahmen einig sein: Es würde als Ankläger diese Grenze nicht nachsichtiger ziehen wollen als andere Völker bei ihren Männern. Jenseits der Grenze war Hitlers Befehl keine Rechtsgrundlage. Doch darf nicht vergessen werden, daß diese Grenze nach dem Wesen der Dinge nicht nur verschwommen ist, sondern im Frieden anders verläuft als im Krieg, dem Umwerter so vieler Werte, in dem die Menschen aller Nationen gerade auch unserer Zeit ihre Ehre in Taten setzten, vor denen sie sonst schaudern würden. Und der Entschluß zum Kriege gehört als solcher trotz seiner ungeheueren Folgen nicht in den Bereich jenseits der Grenze. Bei keinem Volk der Erde.
Hitler selbst hat im Verhältnis zu seinen Untergebenen diese Grenze der Unmenschlichkeit, der Außermenschlichkeit jedenfalls nicht als eine Grenze des Gehorsams anerkannt, und Auflehnung wäre auch hier in den Augen und für die Entschlüsse des unbeschränkt Mächtigen, des über einen unwiderstehlichen Apparat Verfügenden todeswürdiges Verbrechen gewesen. Was sollte derjenige tun, der einen Befehl aus dem Bereich von jenseits der Grenze erhielt? Eine furchtbare Lage! Die Antwort der griechischen Tragödie, die Antwort der Antigone in solchem Konflikt, kann nicht erzwungen werden. Es wäre weltfremd, sie als Massenerscheinung zu erwarten oder gar zu verlangen.
Ehe wir nun zu der besonderen Frage kommen, wer im Reich die Entscheidung über Krieg und Frieden hatte, bleibt noch ein Wort zu sagen zu den Gestalten, in denen Hitlers Befehle auftraten.
Die Befehle Hitlers sind Entschließungen nur dieses einen Mannes, ob sie mündlich oder schriftlich gegeben wurden, und im letzteren Fall: ob sie mehr oder weniger zeremoniell eingekleidet auftraten.
Es gibt Befehle Hitlers, die ohne weiteres als solche zu erkennen sind. Sie nennen sich »Erlaß« wie der Erlaß über die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren vom 16. März 1939, oder »Verordnung« wie die Verordnung zur Ausführung des Vierjahresplanes vom 19. Oktober 1936, oder »Weisung« wie die in diesem Prozeß so oft genannten strategischen Entschließungen, oder einfach »Beschluß« oder »Anordnung«. Oft steht allein der Name Hitlers unter ihnen; bisweilen finden wir die Mitunterzeichnung eines oder mehrerer hoher und höchster Funktionäre aus dem zivilen oder militärischen Sektor. Es wäre aber ein grundlegender Irrtum, anzunehmen, daß es sich hier um eine Gegenzeichnung im Sinne des modernen, demokratischen Verfassungsrechts konstitutionell oder parlamentarisch regierter Staaten gehandelt hat, um eine Gegenzeichnung, die verantwortlich macht gegenüber dem Parlament oder gegenüber einem Staatsgerichtshof. Hitlers Befehle waren seine Befehle und nur seine Befehle. Er war viel zu sehr fanatischer Verfechter des Einmannprinzips, das heißt des Grundsatzes, daß jede Entscheidung von einem und nur von einem Menschen gefällt werden muß, als daß er ausgerechnet bei seinen Entscheidungen etwas anderes auch nur für möglich gehalten hätte. Von seiner Selbsteinschätzung sehen wir dabei völlig ab. Was auch immer der mehr oder weniger dekorative Sinn solcher Gegenzeichnung gewesen sein mag, darüber ist nie Streit gewesen, daß Befehle des Führers nur sein Entschluß und niemandes anderen Entschluß waren.
Mit einem besonderen Hinweis muß dabei jener Gesetze gedacht werden, die als Reichsregierungs- oder Reichstagsgesetze ins Leben getreten sind.
Wenn Hitler ein Gesetz der Reichsregierung unterzeichnete, so war das formal die Ausfertigung eines Kabinettsbeschlusses. In Wahrheit ist aber die Entwicklung dahin gegangen, daß auch Reichsregierungsgesetze nur Beschlüsse Hitlers waren, der vorher einem Teil der Minister Gelegenheit gegeben hatte, die Stellungnahme ihrer Amtsbereiche darzutun. Und wenn Hitler ein Gesetz unterschrieb, das nach seiner Eingangsformel vom Reichstag beschlossen worden war, war das formal wieder nur eine Ausfertigung. In Wahrheit aber war es ein Beschluß Hitlers. Der Deutsche Reichstag ist spätestens seit November 1933 kein Parlament gewesen, sondern eine Versammlung zur Akklamierung von Erklärungen oder Entscheidungen Hitlers. Diese Gesetzgebungsszenen sind vielen Menschen im In- und Ausland geradezu als ein Versuch erschienen, demokratische Formen der Gesetzgebung karikierend lächerlich zu machen; niemand – weder im Inland noch im Ausland – hat sie als Vorgänge aufgefaßt, in denen eine Versammlung von mehreren hundert Männern nach Erwägungen und nach Rede und Gegenrede einen Beschluß faßte.
Es gibt aber auch Befehle Hitlers, die nicht von ihm unterschrieben sind, dennoch aber sofort als seine Befehle erkannt werden. Sie sind ausgefertigt von einem Reichsminister oder einem anderen hohen Funktionär, der im Eingang sagt: »Der Führer hat angeordnet« oder »Der Führer hat befohlen«. Wir haben vor uns nicht einen Befehl des Unterzeichnenden, sondern eine Nachricht des Unterzeichnenden über einen mündlich erteilten Befehl Hitlers. So sind die Befehle Hitlers als des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht häufig in solche nachrichtliche Form gekleidet worden.
Schließlich gibt es Befehle Hitlers, die für die Öffentlichkeit als solche nur erkenntlich sind, wenn man staatsrechtlich Bescheid weiß. Wenn das Oberkommando der Wehrmacht einen Befehl herausgibt, so ist das stets ein Befehl Hitlers. Das OKW war Hitler selbst mit seinem Arbeitsstab. Die Befehlsgewalt nach außen lag allein bei Hitler.
Mit unseren Erläuterungen zur Herrschaftsordnung des Hitler-Reiches habe ich – sozusagen eingewickelt – bereits die Frage behandelt, wer für die letzten Entscheidungen, wer für die Existenzentscheidungen dieses Staates, insbesondere für die Entscheidung über Krieg und Frieden, zuständig war.
Kelsen hat in seiner großen Abhandlung aus dem Jahre 1943, die ich schon erwähnt habe59, gemeint: »Wahrscheinlich der Führer allein«, »probably the Fuehrer alone«. Wir müssen sagen: ganz sicher allein.
Unter der Weimarer Verfassung war allein zuständig der Reichsgesetzgeber. Denn Artikel 45 verlangte für Kriegserklärung und Friedensschluß ein Reichsgesetz. Und ein Reichsgesetz konnte nur der Reichstag oder das abstimmende deutsche Volk geben. Weder der Reichspräsident, also das Staatsoberhaupt, noch die Reichsregierung waren zuständig. Sie hätten höchstens durch Akte ihrer Zuständigkeit – etwa der Reichspräsident als Oberbefehlshaber der Wehrmacht – solche Tatsachen schaffen können, die den Reichsgesetzgeber in seiner Entschließung unfrei machten. Ein Problem, das, soviel ich weiß, in den Vereinigten Staaten für das Verhältnis des Präsidenten und des Kongresses praktisch geworden ist und darum ernstlich erörtert worden ist, während es für Deutschland der Weimarer Verfassung nicht praktisch geworden ist. Wenn aber der Gesetzgeber einmal durch Gesetz den Beschluß zum Kriege gefaßt hätte, dann wären der Reichspräsident und die gesamte Staatshierarchie, vor allem die Wehrmacht, ohne Prüfungs- oder gar Widerspruchsrecht an diesen Beschluß gebunden gewesen und wenn alle Völkerrechtsjuristen der Welt das Gesetz völkerrechtswidrig gefunden hätten. Die Weimarer Demokratie hätte so wenig wie irgendein anderer Staat dulden können, daß militärische Führer als solche die Kriegsentscheidung der politischen Führer in dem Sinn nachprüften, daß sie gegebenenfalls den Gehorsam verweigerten. Die militärischen Machtmittel müssen zur Verfügung der politischen Führung eines Staates stehen. Sonst sind es überhaupt keine Machtmittel. Das war schon immer so. Und es wird erst recht so sein müssen, wenn unter den Staaten die Pflicht zum Beistand gegen Angreifer wirklich gelten soll.
Ich habe bereits geschildert, daß im Zuge einer schichtweisen Wandlung, die legale Formen betonte, Hitler an die Stelle aller obersten Machthaber der Weimarer Zeit trat und alle obersten Zuständigkeiten in sich vereinigte. Sein Befehl war Gesetz.
Es kann nun in einem Staat so sein, daß derjenige, der für die Entscheidung über Krieg und Frieden rechtlich allein zuständig ist, praktisch nicht oder nicht allein maßgeblich ist. Wenn aber je in einem Staate beides zusammengefallen ist, die rechtliche Alleinzuständigkeit und die praktische Alleinmaßgeblichkeit, dann in Hitler-Deutschland. Und wenn je bei irgendeiner Frage Hitler auch nur den Rat eines Dritten angenommen hat, in der Frage, ob Krieg oder Frieden, nicht. Er war der Herr über Krieg und Frieden zwischen dem Reich und den übrigen Staaten. Er allein.
Ich schließe:
Strafurteile gegen einzelne wegen Bruchs des zwischenstaatlichen Friedens wären etwas rechtlich völlig Neues, umwälzend Neues. Wir mögen nun die Dinge vom Standpunkt des Herrn britischen oder des Herrn französischen Hauptanklägers sehen.
Strafurteile gegen einzelne wegen Bruchs des zwischenstaatlichen Friedens setzen andere Rechtsordnungen voraus, als diejenigen waren, die zur Zeit der vor dieses Gericht gebrachten Taten galten.
Die rechtliche Schuldfrage – und nur mit ihr habe ich es hier zu tun – ist damit in ihrer ganzen Schwierigkeit gestellt. Denn keiner der Angeklagten konnte auch nur eines der beiden rechtlichen Weltbilder haben, von denen die Herren Hauptankläger ausgehen.
VORSITZENDER: Dr. Sauter! Können wir die Zeit von jetzt bis 1.00 Uhr für den Brief verwenden, wenn Sie ihn jetzt haben, und vielleicht hat auch Dr. Exner seinen Brief.
DR. SAUTER: Der Angeklagte Walter Funk ist hier unter Eid vernommen worden. Nach seiner Vernehmung hat er mir erklärt, in einem Punkt stimme seine Aussage nicht ganz, und er hat mich ersucht, in diesem Punkt seine Aussage richtigzustellen. Da er selbst hierzu keine Möglichkeit hatte, habe ich unter dem 17. Juni 1946 an den Herrn Präsidenten des Internationalen Militärtribunals folgenden Brief gerichtet, der sowohl vom Verteidiger Dr. Sauter, wie auch vom Angeklagten Walter Funk persönlich unterzeichnet war. Ich darf den Brief im Wortlaut vorlesen:
»Betrifft: Strafsache Walter Funk. Berichtigung einer Zeugenaussage.
Der Angeklagte Walter Funk hat in seiner eigenen Vernehmung im Kreuzverhör am 7. Mai gesagt, daß er, nämlich Funk, erst durch den Vizepräsidenten Puhl von einem Depot der SS bei der Reichsbank verständigt worden sei. Der Zeuge Emil Puhl hat dann aber bei seiner Vernehmung ausgesagt, daß Funk es gewesen sei, der zunächst mit dem Reichsführer-SS, Himmler, gesprochen habe und er, nämlich Puhl, sei dann von Funk hinsichtlich des zu errichtenden Depots verständigt worden. Aus den Bekundungen des Zeugen Emil Puhl hat der Angeklagte Funk die Überzeugung gewonnen, daß tatsächlich in diesem Punkt die Angabe des Zeugen Emil Puhl richtig ist, und bei längerem Nachdenken glaubte der Angeklagte Funk sich auch selbst zu erinnern, daß zunächst er, nämlich Funk, von dem Reichsführer-SS, Himmler, wegen der Errichtung eines Depots für die SS angesprochen wurde und dann hiervon den Vizepräsidenten Puhl verständigte. Die Angabe, die der Angeklagte Funk bei dem Kreuzverhör machte, beruhte auf einem Erinnerungsfehler, und zwar veranlaßt durch die Tatsache, daß Funk durch diese Kreuzverhörfragen der Anklage völlig überrascht und stark erregt wurde. Funk hat, gleich nach der Vernehmung des Zeugen Puhl, mich von seinem Erinnerungsfehler verständigt und mich gebeten, seine objektive unrichtige Angabe zu diesem Punkt zu berichtigen, da er selbst hierzu keine Gelegenheit mehr habe.
Ich komme hiermit dem Ersuchen des Angeklagten Funk nach und gestatte mir, den Herrn Präsidenten von dem richtigen Sachverhalt zu verständigen. Der Angeklagte Funk erklärt sein Einverständnis mit dieser Richtigstellung durch Mitunterzeichnung der gegenwärtigen Eingabe.«
Es folgen dann die beiden Unterschriften »Walter Funk« und »Dr. Fritz Sauter«. Das ist der Inhalt des Briefes, den ich am 17. Juni 1946 an den Herrn Präsidenten zwecks Berichtigung der Zeugenaussage Funk gerichtet habe.
VORSITZENDER: Ich danke Ihnen, Dr. Sauter.
Dr. Exner! Haben Sie Ihren Brief schon, so daß Sie ihn verlesen können?
PROFESSOR DR. FRANZ EXNER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN JODL: Herr Vorsitzender! Ich war unten bei dem Herrn Generalsekretär, und es wurde mir versprochen, daß ich ihn um 1.30 Uhr bekomme. Ich habe ihn aber noch nicht bekommen. Es tut mir leid, daß ich augenblicklich nicht imstande bin, der Aufforderung des Herrn Präsidenten zu entsprechen.
VORSITZENDER: Sie werden ihn dann wohl um 2.00 Uhr haben.