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[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]

1 Oppenheim-Lauterpacht, International Law, 5 th Edition, Seite 154.

Nachmittagssitzung.

DR. OTTO NELTE, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN KEITEL: Der Angeklagte hat erklärt, daß er den objektiven, also tatsächlichen Sachverhalt der allgemeinen Anklage – also nicht jeden Einzelfall – unter Berücksichtigung des diesen Prozeß beherrschenden Verfahrensrechts als bewiesen hinnimmt. Es wäre also sinnlos, trotz der Möglichkeit, mehrere Urkunden oder auch einzelne Tatsachen zu widerlegen, den Versuch zu unternehmen, die Anklage in ihrer Gesamtheit erschüttern zu wollen. Ich werde mich daher hauptsächlich auf die Fragen des subjektiven Tatbestandes und auf die Verschwörung beschränken und nur die Einzeltatbestände behandeln, die es wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Beteiligung des Angeklagten Keitel persönlich erfordern.

Das Mißverhältnis zwischen dem Geschehenen und dem Schicksal des Angeklagten ist so kraß, daß der Angeklagte Keitel, wenn er es nicht schon aus Gewissenszwang tun würde, es aus der Überlegung wünschen müßte, daß ihn eine solche Einstellung dem Verdacht aussetzen würde, er wolle hier um sein Leben kämpfen. Der Angeklagte hat aber schon durch seine Beweisführung klargemacht, daß er nicht um seinen Kopf, sondern um sein Gesicht kämpft.

Der Angeklagte gehört zu den Männern, die durch den Tod Adolf Hitlers in das Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten sind. Seit 1938 war er in seiner unmittelbaren Umgebung und sein fast ständiger Begleiter. Er ist sich klar, was dies in diesem Prozeß bedeutet. Es ist von der Anklagebehörde häufig behauptet worden, daß die Angeklagten durch den Hinweis auf Tote ihre eigene Verantwortung auf diese ablasten wollten. Wenn der Zweck dieses Prozesses sein soll, ein möglichst wahrheitsgetreues Bild des Geschehens und der Zusammenhänge zu gewinnen, so ist es nicht fair, die Nennung derjenigen Toten, die – auch der Anklagebehörde bekannt – die Hauptschuldigen sind, von vorneherein zu diskreditieren. Dies gilt in ganz besonderem Maße auch von dem Angeklagten Keitel, dessen Stellung, Einfluß und Handeln ohne die Beleuchtung der Person Adolf Hitlers und seines Verhältnisses zu Keitel unmöglich richtig beurteilt werden kann.

Wie schon aus der Anklagerede Justice Jacksons erkennbar ist, handelt es sich hier um eine Anklage gegen das nationalsozialistische System. Die Anklage ist in Wahrheit eine in 21 Einzelanklagen aufgespaltene Globalanklage gegen dieses System. Die einzelnen Angeklagten sind gewissermaßen nur die symbolischen Gestalten der Machtbereiche des Staates, den dieses System beherrschte: Partei, Regierung, Wehrmacht. Wenn ich Justice Jackson richtig verstehe, geht er noch weiter. Er sagt:

»Über allen persönlichen stehen namenlose und unpersönliche Kräfte, deren Widerstreit viel von der Geschichte der Menschheit ausmacht... Welches sind die wirklichen Kräfte, die hier vor Ihnen im Kampfe stehen?«

Damit ist ein Problem aufgeworfen worden, das, meine Herren Richter, in diesem Prozeß nicht unerwähnt bleiben kann, ein Problem, auf das auch Herr de Menthon hingewiesen hat: Die Bedeutung und der Einfluß schicksalsmäßig wirkender Kräfte. Schicksal und Schuld sind nicht zwei Pole, deren Wirkungsbereiche sich gegenseitig ausschließen; es sind Wirkungskreise, die sich überschneiden, so daß es Lebens- und Wirkungsbezirke gibt, in denen die beiden die Welt bewegenden Kräfte wirksam sind. Es kann hier nur mit kurzen Worten angedeutet werden, welche Kräfte objektiv schicksalsmäßig wirken, das heißt, welche bei den einzelnen Angeklagten als nicht bewußt willensmäßig anzusehen sind: Die Volkszugehörigkeit, historische Gegebenheiten, traditionell verwurzelte Anschauungen und das Milieu des Lebens. Ich werde deshalb auf diese Grundlagen, soweit es für den Angeklagten Keitel als Mensch und Typ einer der unter Anklage stehenden Gruppen in Frage kommt, eingehen müssen, weil Ihnen nur dadurch die Möglichkeit gegeben ist, ein richtiges Bild des Anteils zu gewinnen, den der Angeklagte Keitel an dem Geschehenen hat.

Ich möchte auch erklären, daß alles, was ich vortragen werde, in vollem Einverständnis mit dem Angeklagten Keitel geschieht und, soweit Gesichtspunkte und Tatsachen vorgetragen werden, die den Angeklagten Keitel entlasten könnten, dies als Beitrag zur Klarstellung des Geschehens und zur Beantwortung der Frage aufgefaßt werden soll, wie es dahin kommen konnte. Er will nicht, daß seine Stellung und die Rolle, die er in diesem Drama gespielt hat, verkleinert wird, er möchte aber auch eine Verzerrung seines Charakterbildes verhüten. Der Angeklagte hat schon auf dem Zeugenstand erklärt, er sei dankbar dafür, daß er durch diesen Prozeß Gelegenheit habe, vor der Weltöffentlichkeit und dem deutschen Volke Rechenschaft über das abzulegen, was er getan hat und warum er es getan hat. Er will mithelfen, die geschichtliche Wahrheit des Geschehens sicherzustellen.

Ich halte mich für verpflichtet, diese Einstellung des Angeklagten Keitel bekanntzugeben, weil eine solche und eine so begründete Einstellung mir die Führung der Verteidigung erheblich erleichtert hat. Es war und es ist dem Angeklagten Keitel klar:

Wenn man sich die entsetzlichen Folgen und die Ungeheuerlichkeiten vor Augen hält, die – ohne hier die Schuldfrage zu stellen – unzweifelhaft von deutschen Menschen begangen sind und unbestreitbar auf Befehle und Anordnungen zurückzuführen sind, mit denen Keitel in irgendeiner Form in Berührung gekommen ist, dann fühlt man sich schuldig, ohne darüber nachzudenken, ob es sich um eine Schuld im Rechtssinne oder um das tragische Gefühl handelt, schicksalsmäßig mit den Ursachen und dadurch auch mit den Folgen verbunden zu sein.

Die Anklagebehörde hat behauptet, »daß sich die Angeklagten alle zu irgendeiner Zeit gemeinsam mit der Nazi-Partei zu einem Plan zusammengetan hätten, von dem sie wohl wußten, daß er nur durch den Ausbruch des Krieges in Europa verwirklicht werden konnte«.

Bezüglich des Angeklagten Keitel wird gesagt, daß er ab 1933 aktiv an dieser Verschwörung teilnahm.

Die Anklagebehörde hat zum Nachweis ihrer These vorgetragen:

a) daß das nationalsozialistische Programm an sich, das heißt nach Wortlaut und Sinn, nur mit Gewaltanwendung realisierbar war;

b) daß der Angeklagte Keitel dies erkannt hat oder hätte erkennen müssen;

c) daß er in dieser Kenntnis gemeinsam mit anderen, insbesondere mit den Mitangeklagten, Angriffskriege geplant und vorbereitet hat.

Hierzu möchte ich zunächst die Aufmerksamkeit des Tribunals auf den grundlegenden Teil der Anklagerede Justice Jacksons lenken, in dem er das Programm der Partei behandelt. Er führt dort eine Reihe von Programmpunkten auf, von denen er sagt:

»Natürlich waren dies alles Ziele, die rechtlich unantastbar waren.«

An einer anderen Stelle sagt er:

»Ich kritisiere diese Politik nicht, ich wünschte, sie wäre allgemein anerkannt. Diese anerkennende Kritik unterliegt naturgemäß der einen Einschränkung: Solange diese Ziele ohne einen Angriffskrieg erreicht werden sollten.«

Danach nimmt die Anklagebehörde selbst nicht an, daß Wortlaut und Sinn des Parteiprogramms dem normalen Menschen erkennbar werden ließ, daß diese parteipolitischen Ziele nur mit Gewaltanwendung verwirklicht werden konnten. Ich möchte nicht wiederholen, was hierzu in der Beweisaufnahme von den einzelnen Angeklagten gesagt worden ist; besonders überzeugend erschien mir das, was Dr. Schacht hierzu bekundet hat. Er schließt seine kritische Beurteilung der wesentlichen Punkte des Parteiprogramms mit den Worten:

»Das ist im wesentlichen der Inhalt des nationalsozialistischen Parteiprogramms, und ich kann nicht finden, daß darin etwas Verbrecherisches liegt.«

Ich führe gerade diese Aussage an, weil sie zeigt, wie dieses Programm und seine erkennbare Zielsetzung auf einen Menschen gewirkt hat, den man als klug, realistisch denkend, frei von gefühlsmäßigen Regungen in der Politik, von wirtschaftlichem Weitblick und Urteilsvermögen bezeichnen kann.

Wenn diese Persönlichkeit nicht erkannte, daß die Parteiziele mit Gewaltanwendung verwirklicht werden sollten – wie sollte der Soldat Keitel zu einer solchen Erkenntnis kommen?

Keitel war aktiver Offizier. Als solcher konnte er nicht Mitglied der Partei sein. Den Offizieren war jede politische und parteipolitische Betätigung untersagt. Die Wehrmachtführung war darauf bedacht, den Einfluß der Parteipolitik von der Wehrmacht fernzuhalten. Das galt sowohl für die Zeit vor 1933 als auch danach. Hitler selbst bestätigte diesen Grundsatz in der klaren Erkenntnis, daß die Zeit noch nicht reif war, um das Offizierkorps, geschweige denn die Generalität, zu politisieren. Diese höheren Offiziere waren nach Tradition und Berufsauffassung »national eingestellt«, wie man zu sagen pflegte, und begrüßten die von Hitler in den Vordergrund gestellten nationalen Programmpunkte, waren erfreut über die Mitwirkung der Wehrmacht und stellten sich ohne Bedenken an die Seite der von Hitler geführten Regierung, als diese den Kampf gegen den Versailler Vertrag, insbesondere gegen die militärisch-politischen Klauseln proklamierte.

Eine über diese Ziele hinausgehende Übereinstimmung oder gar Gemeinschaft politischer Zielsetzung bestand nicht. Die Generale, darunter auch Keitel, dachten nie anders wie Millionen Deutscher, die nicht Parteimitglieder oder Gegner waren, aber die nationalen Ziele als selbstverständlich betrachteten.

Nun ist nicht zu verkennen, daß es etwas anderes ist, ob Millionen einflußloser Deutscher den Teil des Programms unterstützten, der sich auf die nationalen Ziele bezog, oder die hohe Generalität, die die Wehrmacht führte. Es kann auch nicht übersehen werden, daß die Verwirklichung dieser nationalen Ziele die Gefahr eines Krieges in sich trug. Die Dinge scheinen mir aber so zu liegen, daß die Generale diese Kriegsgefahr nicht darin erblickten, daß Hitler diese nationalen Ziele durch einen Angriffskrieg hätte verwirklichen wollen, sondern vielmehr darin, daß die Geltendmachung dieser Ziele Sanktionen der früheren Feindmächte auslösen würde. Der Gedanke an eine aggressive, kriegerische Verwirklichung lag den Generalen aus den absolut zwingenden Gründen der militärischen Ohnmacht fern. Ich werde dieses Problem, das mit der Wiederaufrüstung eng zusammenhängt, später näher behandeln. Hier ist nur wesentlich, daß die Kreise, zu denen der Angeklagte Keitel gehörte – ich füge hinzu, zwischen 1933 und 1938 –

1. mit dem Parteiprogramm keine Berührung hatten,

2. zu Parteikreisen in keiner Beziehung standen,

3. mit einem Teil des Parteiprogramms sympathisierten, weil es ihrer nationalen Einstellung entsprach,

4. an eine Verwirklichung dieser nationalen Punkte durch einen Angriffskrieg nicht dachten, weil dies militärisch aussichtslos gewesen wäre.

Nun könnte man einwenden, daß, wenn auch die Generale selbst an einen Angriffskrieg nicht dachten, sie doch erkannt hatten oder hätten erkennen müssen, daß Hitler die Absicht hatte, wenn nicht jetzt, so doch in naher Zukunft, einen Angriffskrieg zu führen.

Die Anklagebehörde glaubt, diese Kenntnis bei dem Angeklagten Keitel ab 1933 annehmen zu können. Das Argument der Anklagebehörde, diese Kenntnis mit der Kenntnis des nationalsozialistischen Programms gleichzusetzen, ist widerlegt; das gleiche gilt für die Kenntnis des Buches »Mein Kampf«, selbst wenn man den Besitz desselben unterstellt.

Es kann sich daher nur darum handeln, ob Keitel aus anderen Gründen Kenntnis von einer Aggressionsabsicht Hitlers hatte. Für die Periode bis 1938 scheidet die Erlangung der Kenntnis durch Adolf Hitler selbst aus, da Keitel diesen Ende Januar 1938 zum ersten Male gesprochen hat.

Die Reden, die Hitler vor dieser Zeit hielt, ebenso wie die sonstiger Parteiführer, waren unzweideutig auf die Erhaltung des Friedens abgestellt. Rückschauend kann man dies propagandistische Tarnung der gegenteiligen Absicht nennen. Wäre das der Fall, dann hätte diese Tarnung nicht nur viele Millionen Deutsche, sondern auch das dem Nationalsozialismus gegenüber teils kritisch, teils feindlich eingestellte Ausland erfolgreich getäuscht.

Keitel glaubte an die Friedensbeteuerungen, sah ihre Ehrlichkeit auch durch offizielle Abrüstungsvorschläge und durch Verträge mit England und Polen bestätigt. Er glaubte daran um so mehr, als, wie schon gesagt, ein Angriffskrieg ihm als Unmöglichkeit erscheinen mußte.

Auch der Mitangeklagte von Neurath hat mehrfach hier erklärt, daß alle seine Informationen und Kenntnisse der Politik Hitlers bis 5. November 1937 seine feste Überzeugung rechtfertigten, daß Hitler seine politischen Ziele nicht mit Gewalt oder Angriffskriegen verwirklichen wollte. Erst durch die Ansprache vom 5. November 1937 wurde diese Überzeugung bei von Neurath erschüttert.

In der Beweisführung der Verteidigung Dr. Schachts, auf die ich Bezug nahm, sind die Tatsachen vorgetragen worden, die einen Widerspruch aufzeigen zwischen dem früheren Verhalten der Siegermächte und der von der Anklagebehörde in dieser Frage vertretenen These.

Die Siegermächte haben durch ihren offiziellen Verkehr und darüber hinaus zum Ausdruck gebracht, daß sie trotz der zu unterstellenden Kenntnis aller Umstände, die hier dem Angeklagten vorgeworfen werden, nicht an die Absicht Hitlers geglaubt, beziehungsweise diese Absicht nicht erkannt haben, seine Ziele durch Angriffskrieg zu verwirklichen.

Die Anklagebehörde wirft jetzt dem Angeklagten vor, daß er eine solche Absicht Hitlers gekannt habe oder hätte kennen müssen. Das wirkt nicht überzeugend, und ich kann es dem Tribunal überlassen zu beurteilen, wer – unter Berücksichtigung aller Möglichkeiten – bessere Möglichkeiten hatte, sich über die wahren Absichten Hitlers zu unterrichten.

Ich glaube, der Angeklagte Keitel darf für sich den gleichen guten Glauben und die gleiche Nichtkenntnis in Anspruch nehmen, es sei denn, daß sich aus anderen Gründen diese Kenntnis oder gar die Beteiligung ergibt.

Als solche anderen Umstände können im Verlauf der Jahre 1933 bis 1938 in Betracht kommen: die Tätigkeit Keitels im Zusammenhang mit der Wiederaufrüstung und im Reichsverteidigungsausschuß.

Die Anklage der rechtswidrigen Aufrüstung umfaßt zwei Tatbestände, die von der Anklagebehörde zusammengefaßt wurden:

1. die heimliche Wiederaufrüstung unter Umgehung des Versailler Vertrags,

2. die Wiederaufrüstung zum Zweck der Planung von Angriffskriegen.

Für die urteilsmäßige Betrachtung müssen diese Tatbestände jedoch streng getrennt werden; denn sie sind nach Grund und Auswirkung verschieden, müssen auch rechtlich unter verschiedenen Gesichtspunkten gewertet werden.

Die Zeit von 1933 bis 1938 ist die schicksalsträchtige Periode, die Periode der Entwicklung und Umstellung. Es ringen die Kräfte der bisherigen Ordnung mit den neuen Mächten, die noch keine feste Gestalt angenommen haben. Es ist alles in Gärung. Die Zielsetzung bleibt unklar. Sie wird durch Übernahme bestehender nationaler Tendenzen getarnt. Durch geschickte propagandistische Ausnützung derselben wird die psychologische Grundlage für die von den neuen Machthabern verfolgten Ziele geschaffen, ohne daß die, die es angeht, es merken.

Darin liegt das Problem der Wehrmachtführung und des Angeklagten Keitel in dieser Periode; die ich jetzt behandeln will.

Dieses Problem läßt sich nicht lösen, ohne daß wir die Lage Deutschlands in militärischer Hinsicht gebührend berücksichtigen. Für die Beurteilung des damaligen Oberst Keitel kommt noch hinzu, wie sich diese Lage in dem speziellen Bereich widerspiegelte, dem er angehörte. Keitel hat den Versailler Vertrag, insbesondere aber die militärischen Klauseln, als eine Demütigung für Deutschland empfunden. Es galt ihm als Pflicht gegenüber seinem Land, an der Beseitigung dieses Zustandes mitzuarbeiten. Er war davon überzeugt, daß der Versailler Vertrag wegen seiner militärisch und territorial unmöglichen Bestimmungen einmal revidiert werden müsse. Es erschien ihm dies als ein Gebot der Gerechtigkeit, aber auch der Vernunft, wenn man den Frieden der Welt auf die Dauer aufrechterhalten wollte. Auf Grund dieser Überzeugung glaubte er als Deutscher und Soldat in den Dienststellungen, in denen er während dieser Zeit tätig war, berechtigt zu sein, die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrags wörtlich auszulegen, auch wenn dies mit dem Zweck einer Bestimmung in Widerspruch stand. Er rechtfertigte dies damit, daß die Bestimmungen die Entwicklungsmöglichkeiten in untragbarer, das heißt zur wirksamen Verteidigung völlig unzureichenden Weise beschränkten.

Ohne selbst dabei beteiligt zu sein, empfand er es unter den gegebenen Umständen nicht als Unrecht, wenn Deutschland in Finnland U-Boote baute, nicht für sich, aber zu dem Zweck, hierdurch Erfahrungen zu sammeln und Fachleute auszubilden; wenn es in Amsterdam Konstruktionsbüros unterhielt, um die Fortschritte auf dem Gebiete der Fliegerei zu beobachten und sich nutzbar zu machen, ohne daß Flugzeuge selbst gebaut wurden.

Symptomatisch für das, was das damalige demokratische Deutschland – ohne Rücksicht auf Stand und Partei – dachte, war die Erklärung Dr. Brünings, die am 15. Februar 1932 aus Anlaß des Zusammentritts der Abrüstungskonferenz über alle Sender der USA verbreitet worden ist. Ich werde daraus einige Sätze zitieren:

»Die innenpolitischen Kämpfe in Deutschland sind in ihren äußeren Formen zwar sehr scharf; diese Schärfe darf aber nicht übersehen lassen, daß trotz vielem Trennenden auch unbestreitbare Gemeinsamkeiten bestehen. In den beiden entscheidenden außenpolitischen Fragen der Gegenwart, der Abrüstungsfrage und der Reparationsfrage, herrschen im deutschen Volke einheitliche Auffassungen. Die Forderung der Gleichberechtigung und der gleichen Sicherheit wird vom ganzen deutschen Volk geteilt. Jede deutsche Regierung wird diese Forderung vertreten müssen. Daß der Streit der Parteien über die Wege, die unsere Politik zu gehen hat, heute in Deutschland vielleicht schärfer ist als in manchen anderen Ländern, ist eine Folge der schweren Not, die auf Deutschland lastet und die Volkspsyche auf das tiefste aufwühlt.«

Ich beziehe mich hierzu auch auf die Bekundung des Mitangeklagten von Neurath am 22. Juni 1946. Diese Worte Brünings beweisen, daß es eine Forderung war, die ohne Unterschied der Parteien vorn ganzen Volke vertreten wurde: Die Forderung der Gleichberechtigung und der gleichen Sicherheit. Der Einwand ist: Eine Forderung, auch wenn sie vom ganzen Volk vertreten wird, gibt noch kein Recht, entgegenstehende vertragliche Bestimmungen zu verletzen oder zu umgehen. Man wird dies grundsätzlich bejahen können. Hier lagen die Dinge aber nicht so einfach. Ich will nicht auf ein Grundrecht aller Staaten pochen, wonach jedes Volk das Recht haben muß, sich einen gewissen Verteidigungszustand zu schalten. Aber wenn man auch ein solches »Grundrecht« nicht anerkennen will, so wird man vielleicht den Notstand verstehen, der tatsächlich besteht, wenn ein Staat in seinem militärischen Potential so sehr beschränkt ist, daß er nicht nur dem militärischen Angriff jedes Nachbarn ausgeliefert, sondern politisch zur Ohnmacht verdammt ist.

Das Tribunal hatte im Laufe des Beweisverfahrens Gelegenheit zu erkennen, daß dies in Bezug auf die Lage des Deutschen Reiches um 1933 zutraf.

Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf folgende Sätze des dem Tribunal vorgelegten Marshall-Berichts. Die Sätze dieses hervorragenden Soldaten, der die Erfahrung eines patriotischen und militärischen Lebens in Bezug auf das, was hier unter dem Stichwort »Wiederaufrüstung« behandelt wird, wie folgt zusammenfaßt:

»Die Natur neigt dazu, Schwache zu übergehen. Das Gesetz, daß nur die Starken überleben, wird generell an erkannt...«

Ich zitiere weiter:

»Die Welt nimmt die Wünsche der Schwachen nicht ernst. Schwäche ist eine zu große Versuchung für die Starken.«

Und schließlich zitiere ich:

»Wir müssen vor allem, scheint mir, das tragische Mißverständnis berichtigen, daß eine Sicherheitspolitik eine Kriegspolitik ist.«

Der beste Zeuge in dieser für den Angeklagten Keitel so wichtigen Frage ist das Buch des englischen Generalmajors A. C. Temperley (Collins Publishers 1938) »The Wispering Gallery of Europe«, zu dem der englische Außenminister des zweiten Weltkrieges, Anthony Eden, ein sehr freundliches, zustimmendes Vorwort geschrieben hat...

VORSITZENDER: Dr. Nelte! Können Sie nicht die Verlesung dieser Zitate aus dem Buch des Generalmajors Temperley übergehen? Der Gerichtshof wird sie zur Kenntnis nehmen. Es gibt da eine ganze Anzahl langer Zitate aus dem Buch.

DR. NELTE: Ich beabsichtigte, das Gericht zu fragen, ob Sie diese Zitate zur Kenntnis nehmen wollen, wenn ich sie vorlege...

... es ist von besonderem Gewicht, weil Temperley aus der rückschauenden Perspektive des Jahres 1938 berichtet und urteilt.

Die Ausführungen Temperleys, der die Rüstungskonferenz, die offiziellen Verhandlungen und die Verhandlungen hinter den Kulissen erlebt hat, sind erschütternd, weil sie den tragischen – ich muß dieses Wort auch hier gebrauchen –, schicksalsmäßigen, primären Konflikt aufdeckt: schicksalsmäßig, weil die von den Vertretern der Einzelstaaten vorgetragenen Thesen – die den nationalen Gegebenheiten und traditionell bedingten Vorstellungen entstammten – sich als unüberbrückbar erwiesen und der Ursprung der Verwirrung wurden, deren letzte Folgen wir erlebt haben.

Es heißt bei Temperley:

1. (Seite 50) »Die Franzosen hatten die Abrüstung viel gründlicher studiert als jede andere Nation, und manche ihrer besten Köpfe des Generalstabs und Admiralstabs hatten monatelang das Problem durchforscht...

Um ihr Problem roh zu charakterisieren, war ihr Ziel, so wenig als möglich selbst abzurüsten, obwohl sie die stärkste Macht der Welt waren, aber zur gleichen Zeit Deutschland bis aufs i-Tüpfelchen im Status der Abrüstung zu halten, entsprechend den Bedingungen des Friedensvertrags...«

(Seite 71) »In dem erstatteten Bericht habe ich weder die Franzosen noch uns geschont. Wir hatten große Fehler gemacht, aber Ich kam damals zu der Erkenntnis, daß die Franzosen in Wirklichkeit niemals daran dachten, überhaupt abzurüsten... M. Paul Boncour war sicher ehrlich und arbeitete Intensiv, um zu einem Erfolg zu kommen, aber der Druck des französischen Generalstabs auf die Regierung war zu stark...«

2. (Seite 126) »Herr Stresemann kannte sein Volk am besten. Es war ein Rennen mit der Zeit. Wie lange konnte er sein Volk in der Atmosphäre des Nachgebens bei der Zusammenarbeit ohne greifbare Erfolge in Gestalt des Nachgebens der Alliierten halten? Hätten die alliierten Regierungen schneller und bereitwilliger geben sollen, was sie bereit waren zu geben? Hätte diese Geste die Katastrophe verhindert?... Die Geschichte wird ohne Frage dies beantworten. Wie die Antwort lautet, weiß ich nicht, aber es scheint mir sicher, daß die wichtigste Periode, als Deutschland sich vom Pfade des Friedens abwandte, in der Zusammenarbeit zwischen 1929 und 1930 zu suchen ist... Hätte eine bedenkenlosere Politik in der Tilgung der Schulden, wirtschaftliche Wiederaufbau-Konzessionen in den Verträgen das Hitlertum und all seine Konsequenzen vermelden lassen? Wer weiß? Professor Arnold Toynbee schreibt in seiner Review of International Affairs 1930:

... Für den fremden Beobachter, der Deutschland besuchte zu dieser Zeit, war es ein furchtbares und merkwürdiges Schauspiel, eine ganze Nation – eine der größten und am meisten zivilisierten der Welt – In einem heroischen Kampf gegen das Schicksal zu sehen, schon halb gelähmt, in einem titanischen Kampf durch die Überzeugung, daß die Schritte be reits unwiderstehlich auf den Pfad der Zerstörung gelenkt worden waren.«

(Seite 128 und 129) »Das deutsche Volk hatte die Hoffnung verloren.... Die Franzosen hatten immer erklärt, daß Deutschland einen Vorwand der Bescheidenheit aufrechterhalten werde, solange das Rheinland besetzt war und wenn das aufhörte, die wahre Farbe herauskommen würde... Es hat sich als eine gute Vorhersage herausgestellt, aber es war eher ein Zusammentreffen der Umstände und der Ausdruck der Stimmung eines Volkes, das im letzten Atemzug liegt, als ein vorbedachtes Planen...«

3. (Seite 151) »Ich war zugegen bei der Sitzung und war erschüttert angesichts der Einstellung der Französischen Delegation und derjenigen der kleinen Entente. Sie glaubten, daß sie nunmehr Deutschland finanziell an der Kehle hätten und daß dessen völliger Ruin nur eine Frage von Wochen sei. Unser Auswärtiges Amt erkannte die Lage. Aber nach Rücksprache mit Henderson frage ich mich, ob er wirklich den Abgrund, der vor uns gähnte, erkannt hat...«

Vielleicht interessiert nur ein einziges Zitat, nämlich auf Seite 38 unter 4):

»Ich nenne auch die Generalstäbe, weil es keine größere Illusion gibt als die, daß sie kriegerisch sind, als Ganzes genommen. Ich kenne die Generalstäbe vieler Länder genau, und ich habe nie einen gekannt, der einen Krieg glorifiziert hätte und ihn gewünscht hätte. Sie wußten zuviel davon. Wenn sie sich dafür einsetzten, stark zu sein, dann nur, weil sie daran glaubten, daß bewaffnete Stärke den Krieg vermeiden kann.

Im Gegensatz zu den blutdürstigen Pazifisten, welche moderne Waffen ablehnen, aber sofort deren Erscheinen auf dem Schlachtfeld wünschen, wenn es gilt, Angreifern zu widerstehen... Das führt zu der Schlußfolgerung, daß nicht Rüstungen der Hauptgrund für Kriege sind. Die Geschichte 1926/1931 ist nicht die eines Rennens der Wiederaufrüstung, sondern einer sich allmählich entwickelnden Deterioration der internationalen Lage auf Grund des wirtschaftlichen und politischen Chaos, welches seinerseits Abrüstung unmöglich machte und Aufrüstung unvermeidlich...«

(Seite 222) »Die Deutschen wiederholten tatsächlich Ihre erfolgreiche Taktik in der Umgehung von Verträgen, die sie in der Zeit Napoleons ausgeübt hatten. Und doch wunderte man sich, welche andere anständig gesinnte Nation in den gleichen Umständen nicht auch Ihr Äußerstes getan hätte, einen Vertrag zu umgehen, welcher ihr mit dem Bajonett aufoktroyiert worden war...«

(Seite 232) »Die nächsten sechs Monate brachten die Wiederkehr Deutschlands, das Versagen Hoovers und der französischen Pläne und den vollkommenen Umschwung der Atmosphäre durch die Machtergreifung Hitlers. Wie furchtbar dies für den Frieden der Welt war – andere Mächte, vor allem Frankreich, können sich nur die Schuld geben, sie herbeigerufen zu haben... Wir hätten mehr Druck auf die Franzosen ausüben sollen und härtere Anstrengungen machen müssen, eine gemäßigte Regierung in Deutschland am Ruder zu halten...«

(Seite 256) »... als sie fühlten, sie wurden noch immer als Geächtete behandelt.«

Ich bitte, diese Ansichten eines englischen Generals, die, wie ich schon sagte, die Zustimmung des damaligen Außenministers Anthony Eden hatten, zu würdigen.

In diesem Zusammenhang nehme ich auch Bezug auf die von der Verteidigung Dr. Schachts (Dokumentenbuch Dr. Schacht Nummer 3, Schacht-Exhibit Nummer 12) zum gleichen Beweisthema vorgelegten und vom Tribunal angenommenen Äußerungen folgender Staatsmänner: Paul Boncour, Henderson, Briand, Cecil, sowie auf das Buch von Viscount Rothermere: Warnungen und Prophezeiungen (Seite 100).

Das Tribunal wird unter Berücksichtigung der vorgetragenen Tatsachen zu prüfen und zu entscheiden haben, ob der Angeklagte Keitel die Militärklauseln des Versailler Vertrags im Sinne der Anklage schuldhaft verletzt hat. Irgendwelche Einzelbeschuldigungen sind zu diesem Punkt gegen ihn nicht vorgetragen.

Unstreitig ist, daß ab 1933 im Reich eine Aufrüstung erfolgte. Der Angeklagte Keitel hat dies zugegeben und erklärt, daß er in den Dienststellen, die er bis 30. September 1934 und ab 1. Oktober 1935 bekleidete, gemäß der ihm obliegenden Funktionen an dieser Aufrüstung beteiligt war. Wie alles, was die Deutschen tun, ist auch die Aufrüstung genau durchdacht und organisiert. Die Anklagebehörde hat die Unterlagen hierfür zusammengetragen, insbesondere das Dokument 2353-PS und die Protokolle über die Sitzungen des Reichsverteidigungsausschusses.

In der Beweisaufnahme ist das Gesamtbild dieser Periode von 1933 bis 1938 nicht klar zum Ausdruck gekommen. Die Anklagebehörde hat ihre Beweisführung retrospektiv aufgezogen und aus den Folgen der Kriege auf das Motiv der Aufrüstung einen Rückschluß gezogen, gleichzeitig aber auch aus der nicht zu bestreitenden und nicht bestrittenen Tatsache, daß diese Aufrüstung nicht von einem Manne aufgezogen und durchgeführt werden konnte, die Folgerung abgeleitet, daß es sich um eine gemeinsame Planung zum Zwecke von Angriffskriegen gehandelt habe.

Worin liegt nun das entscheidende Merkmal bei militärischer Rüstung oder bei Vorbereitung anderer Art für den Fall eines Krieges, aus dem man schließen kann, daß diese Maßnahmen aggressiven Charakter haben, das heißt auf einen Angriffskrieg gerichtet sind?

Aus der Rüstung an sich kann grundsätzlich nichts für die behauptete Absicht hergeleitet werden; sie kann, ja sie muß bei einer Vorbereitung zur Sicherheit und Verteidigung genau so aussehen wie bei einem Angriffskrieg.

Deshalb muß, wenn die Absicht der Aufrüstung zum Zwecke der Planung festgestellt werden soll, unterschieden werden:

a) zwischen Rüstung und Vorkehrung von Maßnahmen, die für den Fall einer notwendig werdenden Mobilmachung für jederzeitige Verteidigungsbereitschaft getroffen werden müssen, und

b) Aufrüstung und Anordnung von Maßnahmen, die das Volumen zu a) quantitativ oder qualitativ so erheblich überschreiten, daß daraus für den, den es angeht, die Absicht der politischen Führung erkennbar wird, einen Krieg zu beginnen, wobei die politische Frage, ob Angriffs-, Defensiv- oder Präventivkrieg, außer Betracht gelassen werden kann.

Es wird also letzten Endes darauf ankommen, ob im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen die Absicht der Planung mit dem Ziele des Angriffskrieges ausgesprochen oder sonstwie erkennbar geworden ist oder ob die Maßnahmen nach ihrer Art und ihrem Umfang den zwingenden Schluß fordern, daß hier ein Angriffskrieg vorbereitet worden ist.

Rückschauend werden die Geschehnisse als logische Kette einer planmäßig vorbereitenden Entwicklung dargestellt. In Wirklichkeit wird einem tatsächlichen Geschehnisverlauf, dem objektiv eine gewisse Kausalität innezuwohnen scheint, nicht nur die weitzielende Absicht und Planung Hitlers, sondern auch die Kenntnis und billigende Unterstützung mitwirkender Kreise unterstellt.

Es ist nicht abzustreiten, daß die Wirtschaftskapazität eines Landes, die in ihrer Gesamtheit als Rüstung für den Fall eines Krieges anzusehen ist, einmal zu einem Punkt kommen wird, den man als entscheidend für die Frage ansehen muß, wann die Aufrüstung, das heißt der Stand der gesamten kriegswichtigen Industrie, die Kapazität einer Verteidigungsrüstung übersteigt.

Bei diesen Überlegungen muß, insbesondere für den Angeklagten Keitel als Militär bis zu seinem Amtsantritt als Chef OKW am 4. Februar 1938 berücksichtigt werden, daß er bis dahin nicht in einer entscheidenden Stellung gewesen ist.

Welche Rolle hat nun der Angeklagte Keitel in diesem Zeitpunkt gespielt,

a) im Bereich der sachlichen und personellen Wiederaufrüstung,

b) im Bereich der verwaltungsmäßigen und, wie die Anklagebehörde behauptet, militärisch-politischen Wiederaufrüstung, der als Komplex »Reichsverteidigungsrat« behandelt worden ist?

Ich lasse die Seiten 43 bis 46 aus; sie sind eine historische Entwicklung der organisatorischen Grundlagen. Ich bitte Sie, wenn Sie sie gebrauchen können, sie bei Ihrer Urteilsbegründung zu berücksichtigen. Ich fahre auf Seite 47 fort.