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M. CHARLES DUBOST, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Meine Herren! Die Verteidigung hat die Französische Anklagevertretung ersucht, ihr einige Dokumente zugänglich zu machen. Dieser Antrag besteht aus zwei Teilen:
Der erste Teil betrifft den Fall Scapini, der sich im Verlaufe meiner Erklärung aus der Veröffentlichung eines Dokuments ergab. Ich kann der Verteidigung die erbetene Antwort der Französischen Regierung zukommen lassen.
Die Französische Regierung hat unter den von den deutschen Behörden zurückgelassenen Dokumenten die Antwort auf den Protest, der seinerzeit anläßlich der Ermordung von französischen Gefangenen erhoben wurde, gefunden. Es ist eine rein ausweichende Antwort. Die deutschen Behörden haben geantwortet, die Waffenstillstandskommission sei nicht zuständig; dieser Antrag müsse vom Botschafter Scapini gestellt werden. Ich habe dieses Dokument der Verteidigung zugeleitet und nehme an, daß damit der Fall insoweit abgeschlossen ist.
Der zweite Teil dieses Antrags der Verteidigung bezieht sich auf eine Äußerung meines Kollegen, Herrn Edgar Faure, der zu Anfang seiner Darlegungen dem Gerichtshof mitgeteilt hat, daß er etwa 2500 Dokumente durchgesehen, doch nicht mehr als nur 200 davon zurückbehalten habe. Ich kann natürlich nicht für Herrn Edgar Faure antworten. Ich weiß nur, daß die Französische Delegation insgesamt nur 800 Dokumente in ihren Archiven hat, und diese hat sie alle dem Gerichtshof und der Verteidigung vorgelegt. Ich glaube deshalb, daß es sich einfach um eine Redewendung handelt und daß mein Herr Kollege sich auf Begleitschreiben beziehen wollte, die ja nicht von Wichtigkeit sind.
Jedenfalls habe ich sofort dem Verteidiger, Dr. Nelte, gesagt, daß ihm alle Archive unserer Delegation offen stünden und daß er sich überzeugen könne, daß wir keine Dokumente haben als die, die wir veröffentlicht haben.
Andererseits sind alle die Anträge auf vielleicht vergessene zusätzliche Dokumente, die wir nach Paris gesandt haben, ohne jedweden Erfolg geblieben. Wir schließen daraus, daß wir alle Dokumente hier haben, die wir in diesem Verfahren verwenden können.
DR. NELTE: Herr Präsident! Ich bin der Französischen Delegation dankbar für die Aufklärung, die sie gegeben hat, worüber ich heute morgen die Beschwerde vorgetragen habe. Wenn ich diese Aufklärung auch nur einige Tage früher bekommen hätte, wäre es nicht zu dem gekommen, wozu es heute morgen gekommen ist. Ich bedauere das sehr.
Ich fahre dann fort auf Seite 64, daß er an der Entstehung von Anordnungen mitgewirkt hat. Um das so klar als möglich zu machen, möchte ich noch auf folgendes hinweisen:
Die »Weisungen«, die für Planungen von militärischen Unternehmungen von grundsätzlicher Bedeutung waren, sind operative Befehle, die der Oberste Befehlshaber in dieser Eigenschaft den Oberbefehlshabern der drei Wehrmachtsteile zugehen ließ. Bevor diese Weisungen abgesetzt wurden, hatte Hitler mit dem zuständigen Sachbearbeiter im OKW, auch mit dem Angeklagten Keitel, Besprechungen über die militärisch-technische Seite des Befehls. Die Weisungen waren ohne Rücksicht auf das, was die einzelnen Sachbearbeiter ihrerseits geäußert hatten, alleinige Willensbildungen des Obersten Befehlshabers, und sie richteten sich nicht an das OKW, sondern an die Oberbefehlshaber der drei Wehrmachtsteile, denen sie durch das OKW weitergegeben wurden. Die drei Wehrmachtsteile ihrerseits befahlen nunmehr auf Grund der allgemeinen Weisung die Einzelheiten zur Durchführung dessen, was in der Weisung enthalten war. Ich werde daher auch nicht in diesem Zusammenhang auf die Bestimmung des Statuts Bezug nehmen, wonach die Ausführung auf Befehl nicht als Strafausschließungsgrund anzusehen ist. Denn die Weiterleitung des Befehls war nicht ein Befehl des OKW an die Wehrmachtsteile, sondern die Weiterleitung einer Willensäußerung des Obersten Befehlshabers. Der an das OKW gerichtete Befehl, wenn man dies so nennen will, bezog sich in allen Fällen auf die Ausarbeitung irgendwelcher Willensäußerungen des Obersten Befehlshabers und auf den rein äußerlichen Akt der Weitergabe der fertigen Willensäußerung, ohne die Befugnis, hierzu Stellung zu nehmen.
Es muß angenommen werden, daß die Anklagebehörde diese Stellung des Angeklagten Keitel nicht richtig erkannt hat, vielleicht beeinflußt durch den Rang des Angeklagten als Feldmarschall. Dieser Rang stand zu den wirklichen Befehlsbefugnissen militärischer Art des Angeklagten in keinem Verhältnis. Man ist geneigt, sich unter einem Generalfeldmarschall immer einen militärischen Befehlshaber vorzustellen. Wie wir gesehen haben, hatte der Angeklagte Keitel jedoch keinerlei Befehlsbefugnisse oder Kommandogewalt.
Der Feldmarschall von Blomberg, dessen Zeugenaussage die Anklagebehörde dem Gerichtshof vorgelegt hat, bezeichnet die Stellung des Angeklagten Keitel als »Chef du bureau«. Diese Bezeichnung ist materiell richtig. Ein »Chef du bureau« hat dafür Sorge zu tragen, daß das Büro, dem er als Chef vorsteht, ordnungsgemäß arbeitet, daß die Angelegenheiten von den zuständigen Sachbearbeitern richtig und prompt erledigt werden. Er hat aber keinen Anteil an den endgültigen Willensakten, die sein Vorgesetzter, hier der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht, für richtig hielt. Wenn das schon im allgemeinen gilt, so hier im besonderen. Es ist bekannt, daß Hitler sich bei militärischen Entscheidungen nicht durch Keitel beraten ließ. Dies ist durch die Beweisaufnahme, insbesondere durch das Zeugnis des Generaloberst Jodl, bewiesen.
Der Angeklagte Keitel hat nun in dem Affidavit Nummer 8, bezeichnet als »Koordinierung in Staat und Wehrmacht«, die Tätigkeit des OKW und seine Tätigkeit in klarer Weise dargelegt. Das Affidavit gibt ein Bild der schwierigen und undankbaren Arbeit des Angeklagten Keitel. Sie bestand hauptsächlich in einer Koordination der Wünsche und Bedürfnisse der Wehrmachtsteile. Ferner bestand sie in dem Ausgleich der auftretenden Divergenzen und im Kampf gegen die, jede ordnungsmäßige, das heißt ressortmäßige Erledigung ablehnende Einstellung Hitlers.
Es gibt in jedem Wehrmachtsteil Interessen, die von den Interessen anderer Wehrmachtsteile abweichen und die in der Gesamtheit nicht befriedigt werden können, sich sogar manchmal widersprechen. Dies gilt besonders für den Personalersatz, aber auch für die Versorgung mit allem, was für die spezielle Kriegführung erforderlich ist.
Der Schnittpunkt aller dieser sachlichen und persönlichen Meinungsverschiedenheiten war das OKW.
Wenn man die unbestreitbare Tatsache, daß der Angeklagte Keitel fast von allen Seiten angefeindet und persönlich schlecht beurteilt wurde, richtig verstehen will, so wird man feststellen müssen, daß diese Tatsache als eine zwangsläufige Folge der Überschneidung sachlicher Gegensätze und persönlicher Meinungsverschiedenheiten eingetreten ist, die Keitel durch Koordinierung oder Vermittlung, das heißt in fast allen Fällen im Wege gegenseitigen Nachgebens zu erledigen versuchte. Es bedarf keiner besonderen Lebenserfahrung, um zu wissen, daß der objektive Mittler stets den Undank beider Parteien ernten wird.
Das gleiche Bild ergibt sich im Verhältnis zu den zahlreichen Stellen, die mit offiziellen Sondervollmachten ausgestattet oder aber persönlich, meist parteimäßig begründet, die Sympathien und das besondere Vertrauen Hitlers hatten.
Man muß sich diese Gegensätzlichkeiten und Interessenüberschneidungen vergegenwärtigen, um die Arbeitslast, und ich füge hinzu, auch die Bedeutung der Stellung Keitels richtig zu würdigen.
Die Erkenntnis des besonderen Verhältnisses der Wehrmachtführung zum politischen Sektor wird durch den Umstand erschwert, daß Hitler die Funktionen des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht, des Reichskriegsministers und des Staatsoberhauptes seit dem 4. Februar 1938 in seiner Person vereinigte.
Ab 4. Februar 1938 bestand deshalb zwischen der politischen Führung und der Obersten Wehrmachtführung Übereinstimmung durch Identität der Persönlichkeit.
Es liegt nahe, daran zu denken – und die Anklagebehörde hat das getan –, daß der Chef des militärischen Stabes Hitlers so eng mit seinem Vorgesetzten Hitler verbunden war, daß er auch für den politischen Komplex die Verantwortung tragen müsse, wenn nicht als Täter, so doch in irgendeiner Form, wie sie Artikel 6 des Statuts vorsieht.
Diese Annahme ist irrig.
Hierzu bedarf es nicht des Eingehens auf die Hierarchie des Führerstaates und den zwingenden Charakter des Führerbefehls. Die soldatische Hierarchie ist älter als die nationalsozialistische Ideologie; es muß allerdings gesagt und von Ihnen berücksichtigt werden, daß die Einführung des absoluten Führerprinzips in die Wehrmacht die endgültige Ausschaltung aller Bestrebungen bedeutet, die man vielleicht in einem gewissen Sinn demokratisch, jedenfalls hemmend für die diktatorischen Gelüste Hitlers ansehen könnte. Hierzu nehme ich Bezug auf das Affidavit Keitel, Dokumentenbuch 2 Nummer 9 »OKW und Generalstab«. Die starre Durchführung des Führerprinzips verschärfte – rückschauend beurteilt – das gesunde soldatische Gehorsamsprinzip allmählich zum übersteigerten Militarismus. Dies fand seinen Ausdruck unter anderem in dem Verbot jeder Kritik von unten nach oben. Ich verweise auf die Rede Hitlers in der Krolloper 1936 oder 1937, ferner auf den abweichenden Aktenvermerk 1938 – Aussage General Winters –, in dem Verbot der Rücktrittsgesuche von Generalen und schließlich in der Beseitigung des Oberbefehlshabers der Wehrmacht und Kriegsministers.
Es kann und soll nicht bestritten werden, daß der Angeklagte Keitel ein unbedingter Anhänger des Führerprinzips in der Wehrmachtführung war und daß die Studie »Grundlagen über die Organisation der deutschen Wehrmacht«, L-211, als ein Bekenntnis über die Führung eines zukünftigen Krieges anzusehen ist, aber ohne daß in diesem Zeitpunkt ein konkreter Krieg vorgesehen oder Anlaß dieser Studie war.
Was bedeutet das für den Angeklagten Keitel? Wer das Führerprinzip als soldatisch richtig anerkennt, muß auch danach handeln. Professor Jahrreiss hat ausgeführt, daß das Führerprinzip – wie jedes andere politische System – nicht absolut gut oder schlecht ist, sondern daß alles abhängt von der Art und Weise der Durchführung des Prinzips und den Methoden der Verwirklichung.
Keitel kommt aus dem Soldatischen her und bejaht für den ihm bekannten Bereich das Führerprinzip. Nach diesem Prinzip liegt die Verantwortung absolut bei demjenigen, der die Befehlsbefugnis hat. Während sich das Führerprinzip im zivilen Bereich, in dem es auch galt, meist in Äußerlichkeiten erschöpfte, tatsächlich kaum etwas geändert wurde, mußte sich dieses Prinzip im militärischen Bereich viel stärker und sichtbarer auswirken, und zwar besonders im Verhältnis der Befehlshaber zu ihrem Generalstabschef.
Früher waren die Generalstabschefs die materiell verantwortlichen Befehlsführenden, jetzt waren sie die operativen Gehilfen des Befehlshabers. Sie waren in der Sprachregelung »Mitarbeiter-Berater« auf dem strategisch-operativen Gebiet, für das diese Offiziere besonders vorgebildet waren.
Keitel war – das steht fest – weder Befehlshaber noch Generalstabschef, er war Chef der Militärkanzlei Hitlers, Soldat und Verwalter kriegsministerieller Aufgaben, also »Minister«, so sagt die Anklagebehörde.
Man soll sich in diesem Prozeß nicht auf Unterscheidungen berufen, die sich als formalistisch erweisen, wenn die tatsächlichen Funktionen ein anderes Bild zeigen. Dies ist besonders im Falle Keitel wichtig. Es muß festgestellt werden, was er tatsächlich war, wie er in Wirklichkeit gehandelt hat.
Die durch den Erlaß vom 4. Februar 1938 geschaffene Zwitterstellung hat zu einer irrtümlichen Auffassung bezüglich der Keitelschen Funktionen geführt. Es ist davon auszugehen, daß Hitler das Reichskriegsministerium aufgelöst hat, weil er einen Kriegsminister nicht mehr wünschte. Obwohl am 4. Februar 1938 eine erhebliche Anzahl von Zuständigkeiten des bisherigen Reichskriegsministeriums auf die einzelnen Wehrmachtsteile übertragen wurde, gab es eine Reihe von Funktionen, die im OKW verblieben und verwaltet werden mußten. Um aber der gewollten straffen Zusammenfassung der sich auf die Kriegführung beziehenden Funktionen Rechnung zu tragen, durfte Keitel auch diese nicht kraft eigener Machtvollkommenheit und nach eigenem Ermessen ausüben, sondern mußte die Forderungen der Wehrmacht vortragen und die Belange der Wehrmacht mit den Aufgaben der übrigen Minister in Einklang bringen.
Es kann und soll nicht bestritten werden, daß diese Konzentration der Aufgaben in der Person Hitlers praktisch gar nicht durchführbar war. Es fiel also dem militärischen Arbeitsstabe Hitlers, dessen Stabschef Keitel war, eine umfangreiche Vorarbeit und Durchführungsarbeit zu, demgemäß auch eine Verantwortung. Diese bezog sich jedoch nicht auf wichtige, insbesondere grundsätzliche Fragen. Es war natürlich Ermessensfrage, inwieweit der Angeklagte Keitel Angelegenheiten als wichtig und grundsätzlich beurteilte und zur Vorlage brachte. Wie aber die Beweisaufnahme ergeben hat, war Keitel eher geneigt, im Falle eines Zweifels nach gewissenhafter Prüfung die Angelegenheit vorzutragen, als sie selbst zu entscheiden.
Bei den undurchsichtigen Nachrichtenquellen, die Hitler zur Verfügung standen, konnte Keitel nie wissen, ob dieser nicht durch seinen Adjutanten, durch Himmler und Bormann oder auf andere Weise erfuhr, was ihm wichtig erschien. Um die dann unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit Hitler zu vermeiden, der infolge seines Mißtrauens gegen alle stets absichtliche Verheimlichung annahm, war Keitel ängstlich bemüht, sich nicht dem Vorwurf einer Unterlassung auszusetzen. Ein bezeichnendes Beispiel ist der Fall der Massenflucht der 80 RAF-Offiziere aus dem Lager Sagan.
Worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, ist lediglich festzustellen, daß Keitel in seiner Eigenschaft als Betreuer der im OKW verbliebenen kriegsmateriellen Funktionen keine Ministerstellung hatte. Er war auch hier »Chef du bureau«, Leiter der Militärkanzlei, eine Stellung, wie sie der Chef eines Ministeramtes oder auch ein Staatssekretär hat. Ich verweise hierzu auf das von mir schon angezogene Zeugnis Dr. Lammers und auf die Affidavits der Großadmirale Dr. Raeder und Dönitz, die ich schon mehrfach erwähnt habe.
Daß auch Hitler dies klar zum Ausdruck bringen wollte, ergibt sich aus dem Text des Führererlasses vom 4. Februar 1938. Wenn Hitler nicht den bestimmten Willen gehabt hätte, jeden Dritten von einer verantwortlichen und ihm eventuell unbequemen Funktion in dem höchsten militärischen Sektor auszuschließen, würde er Keitel wenigstens die Befugnis verliehen haben, an Kabinettssitzungen teilzunehmen. In dem Führererlaß, in dem den Oberbefehlshabern des Heeres und der Kriegsmarine, ebenso wie Keitel der »Rang« eines Reichsministers verliehen wurde, ist ausdrücklich nur angeordnet, daß beide Oberbefehlshaber das Recht haben sollen, an Kabinettssitzungen teilzunehmen. Die Tatsache, daß dies zu gleicher Zeit angeordnet wurde, ist ein überzeugendes Argumentum e contrario. Es beweist, daß Hitler nicht wünschte, daß sein Stabschef OKW möglicherweise Gelegenheit haben könnte, eine eigene Auffassung und eventuelle Bedenken vor dem Kabinett darzulegen. Daß Hitler dem Angeklagten Keitel den »Rang« eines Reichsministers gab, hatte den Zweck, diesem die unmittelbare Verhandlung mit den Ressortministern zu ermöglichen. Hätte Keitel nicht Ministerrang gehabt, würde er auf Besprechungen mit Staatssekretären und dergleichen beschränkt und damit in der Durchführung der Führeraufträge und -Aufgaben sehr behindert gewesen sein.
Es ist daher irrig, wenn die Anklagebehörde Keitel als Reichsminister bezeichnet hat, wenn auch als Reichsminister »ohne Geschäftsbereich«. Er war nicht Minister, war nicht Mitglied der Reichsregierung. Der Staatssekretär Stuckart hat in einem der Anklagebehörde vorgelegten Dokument die Mitglieder der Reichsregierung sämtlich angeführt. Keitel befindet sich nicht darunter; er ist in diesem Dokument nur als Inhaber eines höchsten Amtes bezeichnet.
Nun hat die Anklagebehörde den Begriff Reichsregierung nicht auf die Zugehörigkeit zum Reichskabinett beschränkt, sondern auch andere Gremien als Teile der Reichsregierung angesehen. Es scheint danach so, als ob die Anklagebehörde die rechtliche Struktur nach deutschem Staatsrecht als irrelevant ansehe. Nach Anhang B zur allgemeinen Anklageschrift besteht die Reichsregierung im Sinne der Anklage:
1. Aus Mitgliedern des ordentlichen Kabinetts nach dem 30. Januar 1933, an dem Tage, an dem Hitler Kanzler der Deutschen Republik wurde. Der hier verwendete Ausdruck »ordentliches Kabinett« bedeutet: Reichsminister, das heißt, Leiter von Ressorts der Zentralregierung, Reichsminister ohne Geschäftsbereich, Staatsminister in der Funktion von Reichsministern und andere Beamte, die zur Teilnahme an den Kabinettssitzungen berechtigt waren.
2. Aus Mitgliedern des Ministerrates für die Reichsverteidigung.
3. Aus Mitgliedern des Geheimen Kabinettsrates.
Unbeschadet der Einzelverantwortlichkeit jedes Angeklagten muß der Nachprüfung des Tribunals unterstellt werden, ob der Begriff »Reichsregierung«, wie ihn die Anklage definiert, richtig ist, das heißt praktisch, ob die Zusammenstellung der Gruppen seitens der Anklagebehörde dem Begriff »Reichsregierung« gerecht wird. Es kann jedenfalls nicht genügen, die diesbezügliche Behauptung der Anklagebehörde als richtig zu unterstellen.
Ich nehme an, daß mein Kollege Dr. Kubuschok bei der Behandlung seines Falles darauf zurückkommen wird.
VORSITZENDER: Dr. Nelte! Der Gerichtshof ist der Meinung, daß Sie sehr viel Zeit für die Frage verwenden, welches die wirkliche Stellung Keitels war.
DR. NELTE: Ich glaube, Herr Präsident, die Anklagebehörde hat auch viel Zeit gebraucht, um klarzumachen, welche Stellungen der Feldmarschall Keitel nach ihrer Auffassung hatte. Er ist ja nicht als Feldmarschall hier, sondern als Chef des OKW.
VORSITZENDER: Gut! Wenn sie das getan hat.... Ich muß gestehen, daß ich es vergessen habe. Aber es scheint mir und dem Gerichtshof allgemein, daß Sie doch bei weitem zu viel Zeit für dieses Thema verwenden. Sie haben noch viele andere Themen, die für den Angeklagten von sehr großer Wichtigkeit sind. Sie sprechen nun schon einige Stunden und brauchen eine große Anzahl Seiten für die Definition, welches die wirkliche Stellung Keitels war. Ich denke doch, Sie könnten es etwas abkürzen.
DR. NELTE: Ich werde versuchen.
Ich habe schon dargelegt, daß der Angeklagte Keitel nicht zur Gruppe 1 gehörte, also nicht Minister war.
Er war weder Leiter eines Ressorts noch der Zentralregierung, noch Reichsminister ohne Geschäftsbereich, noch Staatsminister in der Funktion eines Reichsministers, noch Beamter, der zur Teilnahme an den Kabinettssitzungen berechtigt war.
Durch die Beweisaufnahme ist erwiesen, daß es trotz des Führererlasses vom 4. Februar 1938 niemals einen Geheimen Kabinettsrat gegeben hat, daß dieser nie konstituiert wurde, nie eine Sitzung abgehalten hat und keiner der Beteiligten eine Bestallung erhalten hat. Damit ist erwiesen, daß der Angeklagte auch niemals Mitglied des Geheimen Kabinettsrates war.
Richtig ist, daß Keitel Mitglied des Ministerrates für die Reichsverteidigung war. Dr. Lammers hat als Zeuge bestätigt, daß dadurch, daß Keitel Mitglied des Ministerrates für die Reichsverteidigung wurde, sich an seiner Amtsstellung nichts geändert hat, daß er insbesondere dadurch nicht Minister wurde. Der Mitangeklagte Dr. Frick sagt in seinem Affidavit vom 25. November 1945, daß Keitel im Ministerrat für die Reichsverteidigung als »Verbindungsmann« tätig war.
Obwohl nicht unter den Mitgliedern der Reichsregierung aufgeführt, sind von der Anklagebehörde die Eigenschaften Keitels als Mitglied eines sogenannten Dreimänner-Kollegiums und als Mitglied des Reichsverteidigungsrates erwähnt worden.
Ich glaube, auf das Ergebnis der Beweisaufnahme verweisen zu können. Es hat sich ergeben, daß ein »Dreimänner-Kollegium« als Regierungsgremium nie bestanden hat, und daß der Reichsverteidigungsrat nach dem unveröffentlichten Reichsverteidigungsgesetz von 1938 nie getagt, jedenfalls nie Beratungen gepflogen oder Beschlüsse gefaßt hat.
Um die Verantwortlichkeit und Zuständigkeit des Angeklagten Keitel klarzustellen, ist es nötig, diesen Begriff OKW zu definieren. Ich bitte, Herr Präsident, daß diese Erörterung nicht als eine theoretische und deshalb überflüssige Diskussion angesehen wird. Die Tatsache, daß die Anklage eine alles umfassende und grundsätzliche Behauptung aufstellt...
VORSITZENDER: Dr. Nelte! Darf ich fragen, was Sie anderes getan haben, als den Begriff OKW zu definieren?
DR. NELTE: Bis jetzt habe ich Keitels Stellung als Chef des OKW klargestellt. In den Ausführungen auf Seite 74 folgende wollte ich Ihnen darlegen, daß die Anklage, wie auch andere, das »OKW« erörtert haben; das »OKW« ist ein Wort, das drei verschiedene Arten von Bedeutungen hat. Herr Vorsitzender, wenn Sie mir erlauben würden, dies schriftlich vorzulegen, und wenn Sie es dann so auslegen, als ob es dem Gericht vorgelegt worden wäre, dann bin ich bereit, die Seiten bis 77 auszulassen und diese Ihnen vorzulegen.
Jedenfalls scheint mir dies ein wichtiger Teil der Erklärung über die Auslegung des Wortes »OKW« zu sein. Und es ist besonders wichtig, daß dies nicht identisch ist mit Keitel.
Kann ich das tun?
In dem Falle werde ich natürlich auf Seite 77 fortfahren.
Für die Klarstellung der Verantwortlichkeit und der Zuständigkeit des Angeklagten Keitel ist es notwendig, den Begriff OKW zu analysieren. Ich bitte, dies nicht als eine theoretische und deshalb überflüssige Auseinandersetzung anzusehen. Gerade die globale und grundsätzliche Behauptung der Anklage und die betont rechtliche Prüfung der Französischen Anklagebehörde, in welchem Amt der Einzelangeklagte tätig wurde bezüglich der ihm zur Last gelegten Anklagepunkte, macht es mir zur Pflicht, einen Irrtum der Anklagebehörde aufzuklären. Dieser Irrtum ist allerdings um so entschuldbarer, als nicht nur das Ausland, sondern auch weite Kreise des Inlandes, ja sogar der Wehrmacht nicht gewußt haben, was OKW bedeutet. Es wurde ein populärer Sammelbegriff für die Oberste Leitung der Wehrmacht, ohne daß man sich der Mühe unterzog zu prüfen, wer und was hinter den drei Worten Oberkommando der Wehrmacht stand. Es entspricht dies dem, das Zusammenleben der Menschen beherrschenden Trägheitsgesetz, der fast krankhaften Sucht, militärische Dienststellenbezeichnungen abzukürzen. Da ferner der täglich veröffentlichte Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht und alle Verlautbarungen, die sich auf das Kriegsgeschehen bezogen, mit den Worten begannen: »Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt«, so prägten sich nicht nur diese Worte, sondern auch die Vorstellung, daß das »Oberkommando der Wehrmacht« die höchstmilitärische Dienststelle sei.
Die Vorstellung wäre richtig, wenn man die Worte OKW nicht Oberkommando der Wehrmacht übersetzt, sondern als Oberkommandierender der Wehrmacht definiert hätte. Nur in Hitler persönlich, als dem »Oberkommandierenden der Wehrmacht« vereinigte sich das, was alle Welt sich als OKW vorstellte, nämlich die militärische Zentral-, Planungs- und Befehlsstelle.
In dieser Hinsicht war das OKW gleichbedeutend mit Hitler als dem »Obersten Befehlshaber der Wehrmacht«, wie die offizielle Bezeichnung lautete.
Wenn man die, dem herrschenden Führerprinzip entsprechende Bezeichnung »Oberkommandierender der Wehrmacht« abstrahiert und die Dienststelle des Oberkommandierenden bezeichnen will, so heißt diese »Oberkommando der Wehrmacht«. Diese Dienststelle umfaßt den Oberkommandierenden selbst, also Hitler und seine Gehilfen, seinen Stab.
Der Führererlaß vom 4. Februar 1938, der die Überschrift: »Erlaß über die Führung der Wehrmacht« trägt, hat durch seine unglückliche und unklare Formulierung einen für den Angeklagten Keitel verhängnisvollen Irrtum zur Folge gehabt, nämlich die Auffassung, daß der in dem zitierten Erlaß vom 4. Februar 1938 erwähnte »Chef OKW«, der Chef, gleich Leiter des Oberkommandos der Wehrmacht, sei. Nun geht zwar aus dem Erlaß hervor, daß Chef OKW bedeuten soll: Chef des Stabes OKW, also Chef der Kanzlei Hitlers in seiner Eigenschaft als Oberkommandierender der Wehrmacht. Aber wenn seitdem die Rede vom OKW war und ist, denkt jedermann an Keitel, ohne zu prüfen, ob damit gemeint ist: OKW-Oberkommandierender der Wehrmacht, OKW- Dienststelle des Oberkommandierenden der Wehrmacht, oder OKW-Stab der Dienststelle des Oberkommandierenden der Wehrmacht.
Die Anklagebehörde macht keinen Unterschied, ebenso wie die deutschen Dienststellen den Unterschied auch nicht genau kannten, jedenfalls nicht beachteten. Es galt für sie, wie jetzt für die Anklagebehörde, daß das OKW für alles, was mit der Wehrmacht oder Wehrmachtsangehörigen in Zusammenhang stand, in Anspruch genommen und zur Verantwortung gezogen wurde. Von da bis zur persönlichen Inanspruchnahme Keitels auf Grund der Bezeichnung »Chef OKW« ist nur ein kurzer Weg. Für Deutsche und Ausländer wirkte die Beurteilung, die nicht auf einer staatsrechtlichen Untersuchung basierte, die Erinnerung an den ersten Weltkrieg mit. Das Verhältnis Hitlers zu Keitel weckte den Vergleich des Kaisers zu von Hindenburg. Dieser Vergleich hatte für den Angeklagten Keitel Folgen, die sich in diesem Prozeß auswirken. Ohne sich über die grundlegenden Unterschiede zwischen von Hindenburg als Chef des Großen Generalstabs, der bis 1918 bestand, und Keitel als dem Chef des militärischen Arbeitsstabes Hitlers Gedanken zu machen, und ohne zu wissen, welches die Zuständigkeit Keitels war und welche Möglichkeiten Keitel auf Grund der ihm übertragenen Funktionen gegenüber Plänen und Maßnahmen Hitlers hatte, zog man Vergleiche, die in bedenklicher Weise gegen Keitel ausfielen. Als nun noch – nach dem Eintritt der Katastrophe – Keitel auch wieder in eine äußerlich ähnliche Rolle des Repräsentanten der Wehrmacht kam, als er weisungsgemäß die Unterfertigung der bedingungslosen Kapitulation vollziehen mußte, fiel auch dieser Vergleich naturgemäß wieder zum Nachteil von Keitel aus. Die Menschen fragen nicht nach Zuständigkeiten, wenn die Dinge schlecht gehen, sondern sie suchen nach einem Schuldigen, und der Schuldige wird nach dem äußeren Schein beurteilt. Es liegt nahe, die starke Beachtung, die man der Persönlichkeit Keitels in diesem Prozeß schenkt, zu einem beachtlichen Teil auf die Tatsache zurückzuführen, daß Keitel nach dem Tode Hitlers in das Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten ist.
Um klar zu sehen, welche Rolle Keitel nun in Wirklichkeit gespielt hat und welcher Anteil ihm an dem Ablauf des Gesamtgeschehens zukommt, will ich nach der Prüfung seiner gesetzmäßigen Zuständigkeiten nunmehr untersuchen, welchen tatsächlichen Einfluß er auf die Entwicklung und Durchführung der Maßnahmen hatte, deren Auswirkungen den Gegenstand dieses Prozesses bilden. Und wir wissen aus der Erfahrung des täglichen Lebens, daß es nicht so sehr darauf ankommt, was ein Mensch in einer bestimmten Dienststellung sein soll, sondern was er kraft seiner Persönlichkeit daraus macht. Ich glaube, sagen zu dürfen, daß im Verlaufe dieses Prozesses die Persönlichkeit keines anderen Angeklagten so verschiedenartigen und sich widersprechenden Beurteilungen unterlegen hat wie die des Angeklagten Keitel.
Maßgebend für die materielle Verantwortlichkeit Keitels ist seine tatsächliche Position im Kräftespiel mit und um Hitler, sein effektiver Einfluß in diesem Kreis und damit die Gesamtheit der Umstände, die für die Auswirkungen der Zentrale Hitler auf militärischem Gebiet kausal sein könnten.
Diesen grundlegenden Komplex werde ich im Zusammenhang mit den Beschuldigungen behandeln, die die Anklagebehörde auf Grund des Kreuzverhörs Dr. Gisevius', also nach Abschluß des Beweisverfahrens Keitel gegen diesen und gegen andere Angeklagte erhoben hat.
Die Aussage Dr. Gisevius' hat für den Angeklagten Keitel und durch die umfassende Fragestellung von Justice Jackson und die von Dr. Gisevius erteilten Antworten eine entscheidende ungeheuerliche Bedeutung gewonnen.
Wäre es wahr, was Dr. Gisevius über Keitel ausgesagt hat, das heißt, was er auf Grund von Informationen in die Form von meist urteilsmäßigen Feststellungen gekleidet hat, dann hätte der Angeklagte Keitel in seinem Beweisverfahren nicht die Wahrheit gesagt. Die Bedeutung dieses Umstandes wird klar, wenn man berücksichtigt, daß eine negative Entscheidung über seine Glaubwürdigkeit die ganze Verteidigung Keitels, die sich ja in der Hauptsache auf den subjektiven Tatbestand bezieht, zerstören müßte. Diese Tatsache und die Bedeutung, die die Aussagen des Zeugen Gisevius auch für andere Angeklagte hat, haben es mir zur Pflicht gemacht, nichts unversucht zu lassen, den Widerspruch zwischen der Einlassung Keitels und den Aussagen des Zeugen Gisevius aufzuklären.
Es ist eine Erfahrungstatsache, daß die besten Zeugen die toten sind, weil die Wiedergabe ihrer angeblichen Äußerungen unmittelbar nicht widerlegt werden kann. Eine andere Gruppe fast unwiderlegbarer Aussagen ist die Zeugenbekundung auf Grund von Informationen.
In der Aussage Gisevius' sind beide Möglichkeiten kombiniert, indem er seine Aussage auf Informationen meist toter Zeugen stützt.
Justice Jackson hat Dr. Gisevius als Kronzeugen für seinen globalen Angriff auf den Angeklagten Keitel benutzt; er hat nach Beendigung des Beweisverfahrens gegen Keitel nicht einen Einzeltatbestand, sondern die ganze Anklage und die Gesamtbeurteilung der Einlassung Keitels aufgerollt.
Die Gegenbeweisführung richtet sich einmal, soweit möglich, auf den Nachweis der objektiven Unrichtigkeit der auf Informationen bestimmter Personen gestützten Tatsachen, sodann auf den Nachweis der Unzuverlässigkeit der Informationen. Ich erinnere an die Worte, die der Angeklagte Keitel abschließend bei seiner Vernehmung durch mich auf dem Zeugenstand unter Eid gesagt hat:
»Man mag mir Irren und Irrtum, man mag mir falsches Handeln und Schwäche gegenüber dem Führer Adolf Hitler zum Vorwurf machen, man soll mir aber nicht nachsagen, daß ich feige war, daß ich unwahrhaftig war und daß ich treulos war.«
Ich fasse die Beschuldigungen gegen den Angeklagten Keitel, die sich auf Befragung der Anklagebehörde ergeben haben, in gedrängter Kürze wie folgt zusammen:
1. Keitel schuf einen undurchdringlichen Ring um Hitler, damit dieser nichts erfuhr.
2. Keitel gab Berichte, die ihm Canaris vorgelegt hatte, an Hitler nicht weiter, wenn diese Berichte Greuel, Verbrechen und dergleichen enthielten, oder er gab den Befehl, Änderungen vorzunehmen.
3. Keitel hatte einen ungeheuren Einfluß auf das OKW und die Armee.
4. Keitel drohte seinen Untergebenen, wenn sie politische Äußerungen machten, daß er sie nicht schützen werde, ja er sagte, daß er sie der Gestapo ausliefern werde.
Dr. Gisevius sagt an einer Stelle seiner Aussage, Keitel habe keinen Einfluß auf Hitler gehabt. Er entlastet Hitler, indem er ausführt, Keitel habe einen Ring um Hitler geschaffen, damit dieser nichts erfuhr.
Die Englische und Amerikanische Anklagebehörde hat in der Anklage Keitel einen mächtigen Stabsoffizier genannt, der auf Hitler großen Einfluß ausgeübt habe; die Französische Anklagebehörde hat Keitel als ein willfähriges Werkzeug Hitlers bezeichnet; die deutschen Generale haben ihn JA-Sager genannt, der nichts durchsetzen konnte; und jetzt wächst Keitel nach der Aussage des Dr. Gisevius zum eigentlichen Akteur und Betreuer Hitlers, der diesem alles Schlechte vorenthielt, ihm nur das vorlegte, was ihm – Keitel – paßte und keinen Menschen an Hitler heranließ.
Die behauptete Verhinderung des Zutritts zu Hitler durch Keitel kann nur jemand behaupten, der die Verhältnisse um Hitler nicht kannte. Vor dem Krieg amtierte Keitel in Berlin in der Bendlerstraße, während Hitler in der Wilhelmstraße saß. Keitel kam in der Woche etwa einmal zum Vortrag oder auf besonderen Befehl. In dieser Zeit war es Keitel auf Grund der räumlichen Verhältnisse überhaupt nicht möglich, auf den Zutritt zum Führer einen Einfluß auszuüben.
Ebensowenig war dies möglich, wenn Hitler auf dem Berghof bei Berchtesgaden wochenlang war, während Keitel in Berlin saß.
Mit Beginn der Operationen war Keitel mit Jodl und dem Wehrmachtführungsstab im Führerhauptquartier. Auch hier bestand eine räumliche Trennung. Keitel saß nicht etwa im Vorzimmer Hitlers, sondern in anderen Gebäuden beziehungsweise Baracken. Er kam mit Generaloberst Jodl jeweils zur Lagebesprechung, an der außer Hitler etwa 15 oder 20 Offiziere aller drei Wehrmachtsteile teilnahmen; außerhalb der Lagebesprechungen bestand kein räumlicher Kontakt. Wenn Hitler etwas von Keitel wollte, ließ er ihn rufen.
Persönlich und räumlich bestand in Berlin eine nähere Berührung zwischen Hitler, seinen Adjutanten, dem Chef der Parteikanzlei, dem Chef der Präsidialkanzlei und dem Chef der Reichskanzlei.
Keitel konnte nicht nur nicht bestimmen, wer zu Hitler kommen konnte, er hatte auch keine Möglichkeit zu verhindern, daß jemand zu Hitler kam.
Die Nachrichtenquellen für Hitler waren für das jeweilige Ressort die zuständigen Chefs; zum Teil war es, wie ich schon ausgeführt habe, undurchsichtig, woher Hitler seine Nachrichten bezog.
Gisevius kannte diese Verhältnisse aus eigener Erfahrung nicht; er war selbst nie in der Nähe Keitels, der ihn nie gesehen oder gesprochen hat und dessen Namen er nicht kannte. Wenn er hier ein Urteil ausgesprochen hat, so hat er sich dies nur aus Mitteilungen von Canaris, Thomas und Oster gebildet.
Zu dieser Frage ist der Generaloberst Jodl gehört worden. Dieser ist wohl der beste Zeuge für diese Frage, denn er lebte ebenso wie Keitel in der unmittelbaren Nähe Hitlers, hat also ein eigenes Urteil. Er hat in dieser Sache ausgesagt:
»Leider konnte Hitler nicht abgeriegelt werden. Viele Kanäle für Nachrichten gingen unmittelbar zu ihm.«
Auf meine Befragung hat Jodl – auf Anregung des Tribunals – global bestätigt, daß das, was Keitel ausgesagt hat, ausschließlich richtig sei; was der Zeuge Gisevius in dieser Hinsicht gesagt habe, seien allgemeine Redensarten.
Die Mitangeklagten Großadmiral Raeder und Dönitz haben bestätigt, daß die Behauptung des Zeugen Gisevius unrichtig sei, wonach Keitel die Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile von Hitler hätte fernhalten können. Ist das aber nicht der Fall, so war der Weg von den Wehrmachtsteilen zu Hitler jederzeit frei. Durch die Beweisaufnahme ist ebenfalls festgestellt, daß außer Jodl, dem Chef des Wehrmachtführungsstabes, auch gerade Canaris unmittelbaren Zutritt zu Hitler hatte.
Damit erweist sich die Beschuldigung des Zeugen Gisevius, Keitel habe einen Ring um Hitler gebildet, als irrig.
2. Die Behandlung der Berichte.
Der Zeuge Gisevius hat ausgesagt, es seien Keitel Berichte über Greuel im Zusammenhang mit Deportationen, Ausrottung der Juden. Konzentrationslager, Kirchenverfolgung und Tötung von Geisteskranken durch Canaris vorgelegt worden, die dieser Hitler vorenthalten habe. Ebenso sei es mit Berichten des Generals Thomas, des Chefs des Wehrwirtschaftsamtes gewesen, die das Ziel hatten, Hitler über das Kriegspotential der Gegner zu unterrichten und ihn zur Vernunft zu bringen.
Was die Berichte des Admirals Canaris betrifft, so ist zu sagen, daß dieser als Chef der Spionage und Abwehr selbstverständlich laufend Berichte lieferte, die die Kriegführung einschließlich der wirtschaftlichen Kriegführung betrafen.
Hier wird nun behauptet, daß Berichte über Gebiete vorgelegt worden seien, die, weder zur Zuständigkeit des Amtes Abwehr noch zu der des OKW gehörten. Es ist bewiesen worden, daß Hitler streng darauf achtete, daß jeder Bearbeiter sich auf sein Sachgebiet beschränkte und insbesondere den militärischen Dienststellen verboten war, sich mit politischen Angelegenheiten zu befassen.
Keitel hat unter seinem Eid erklärt, daß Ihm von den Greueln, insbesondere von der Ausrottung der Juden und den Konzentrationslagern nichts bekannt gewesen sei. Hiermit steht die Behauptung des Zeugen Gisevius in unvereinbarem Widerspruch, daß Canaris dem Angeklagten Keitel Berichte über die angeführten Gebiete vorgelegt habe.
Man kann behaupten, daß Berichte irgendwelcher Art Keitel übergeben worden seien, ohne befürchten zu müssen, daß eine Widerlegung erfolgen kann. Man kann es insbesondere dann, wenn man nicht zu befürchten braucht, daß diese Berichte gefunden werden, denn wenn sie nicht übergeben sind, können sie auch nicht gefunden werden, weil sie nicht vorhanden sind. Nun hat Gisevius ausgesagt, daß er von Anfang an Dokumente gesammelt hat, die belastendes Material enthielten. Ist es unter diesen Umständen nicht verwunderlich, daß bisher keiner dieser Berichte vorgelegt worden ist? Soweit sie im OKW vorhanden waren, sind sie auch Gegenstand der Anklage und Beweisführung gewesen. Kann es unter diesen Umständen genügen, wenn ein Zeuge aussagt, er wisse von Dritten, daß solche Berichte Keitel vorgelegt worden seien?
Canaris, infolge seiner besonderen Stellung, die ihn mit persönlichen geheimen Aufträgen Hitlers dauernd ins Ausland führte, hatte jederzeit Zutritt zu Hitler. Er hätte also Gelegenheit gehabt, Hitler unmittelbar aufzusuchen, wenn er so schwere Gewissensbedenken hatte, wie dies Gisevius ausgesagt hat. Warum hat er es nicht getan?
Nun hat Gisevius, der im allgemeinen globale und urteilsmäßige Beschuldigungen ausgesprochen hat, zum Glück für Keitel an einer einzigen Stelle seiner Aussage positive Angaben gemacht, die eine objektive Nachprüfung gestatten. Ich zitiere:
»... Ich glaube, daß ich auch noch zwei Beispiele erwähnen soll, die mir von besonderer Kennzeichnung sind: Erstens wurde mit allen Mitteln versucht, den Feldmarschall Keitel zu bewegen, Hitler vor dem Einmarsch in Holland und Belgien zu warnen und ihm, das heißt Hitler, mitzuteilen, daß die von Keitel vorgelegten Informationen über die angebliche Neutralitätsverletzung der Holländer und Belgier falsch seien. Die Abwehr sollte ja diese, die Holländer und Belgier inkriminierenden Berichte anfertigen. Der Admiral Canaris weigerte sich damals, diese Berichte zu unterschreiben. Ich bitte, dies nachzuprüfen. Er hat Keitel wiederholt gesagt, daß dieser angeblich vom OKW angefertigte Bericht falsch sei. Das ist das eine Beispiel, wo Herr Keitel nicht weitergegeben hat an Hitler, was er ja weitergeben sollte...«
Ich habe Generaloberst Jodl hier auf dem Zeugenstand das Dokument 790-PS, das sich auf den Fall des Weißbuches über die Neutralitätsverletzungen Hollands und Belgiens bezieht, vorgelegt. Jodl hat wörtlich bekundet, ich zitiere:
»... Ich verstehe die Frage und möchte ganz kurz die Tatsache feststellen, wie es möglich war, soweit mich nicht der Ekel im Halse würgt. Ich war dabei, als Canaris mit dieser Vortragsnotiz in die Reichskanzlei kam zum Feldmarschall Keitel und ihm den Entwurf des Weißbuches des Auswärtigen Amtes vorgelegt hat. Feldmarschall Keitel hat dann dieses Buch durchgesehen, vor allem die wesentlichen Bemerkungen angehört, die Canaris auf Wunsch des Auswärtigen Amtes gemacht hat, nämlich, daß die Nachrichten vielleicht noch etwas verbesserungsbedürftig seien, daß er bestätigen solle, daß eine militärische Aktion unbedingt gegen Holland und Belgien notwendig sei und daß noch, wie es hier ausgedrückt ist, eine letzte wirkliche eklatante Verletzung der Neutralität fehle. Bevor Canaris ein Wort gesagt hat, hat Feldmarschall Keitel das Buch auf den Tisch geworfen und gesagt: ›Das verbitte ich mir, wie komme ich überhaupt dazu, eine Verantwortung zu übernehmen für einen politischen Entschluß? In dem Weißbuch stehen Wort für Wort wahr und richtig diejenigen Meldungen, die Sie selbst, Canaris, mir gebracht haben.‹
Daraufhin hat Canaris gesagt: ›Ich bin ganz genau derselben Auffassung. Es ist auch meiner Ansicht nach vollkommen überflüssig, dieses Dokument von seiten der Wehrmacht unterschreiben zu lassen und die Meldungen, die wir hier haben in ihrer Gesamtheit, sind vollkommen ausreichend, um die Neutralitätsverletzungen, die in Holland und Belgien stattgefunden haben, zu begründen.‹
Und er hat dem Feldmarschall Keitel abgeraten, es überhaupt zu unterschreiben. So hat sich das abgespielt. Der Feldmarschall Keitel hat das Buch dann mitgenommen, und ich weiß nicht, wie der weitere Verlauf war...«
Keitel hat das Weißbuch nicht unterschrieben.
Damit ergibt sich im einzigen nachprüfbaren Fall ein klarer Beweis für die Unrichtigkeit der Zeugenaussage Gisevius'.
3. Keitel hat nach der Aussage des Zeugen Gisevius einen ungeheuren Einfluß auf das OKW und die Armee ausgeübt. Diese Worte wirken ohne jede Angabe konkreter Tatsachen aus dem Munde eines Mannes, der mit Keitel keinerlei Berührung hatte, als Phrase. Sie werden durch die Aussagen des Reichsmarschalls Göring, der Großadmirale Dönitz und Raeder widerlegt. Jodl hat diese Behauptung als Redensart bezeichnet.
Soweit der Zeuge von dem ungeheuren Einfluß auf das OKW spricht, muß fraglich erscheinen, was der Zeuge überhaupt meint. Selbstverständlich hatte Keitel im OKW als der Chef des Stabes den Einfluß, der sich aus seiner Dienststellung, die ich schon behandelt habe, ergab. Wie er zu seinen Untergebenen stand, wird noch behandelt. Worauf es aber ankommen muß, ist, ob Keitel auf das Geschehen einen bestimmenden und schuldhaften Einfluß hatte; daß das nicht der Fall war, das hat sogar Gisevius bestätigt, ebenso daß er auf die Wehrmachtsteile ohne bestimmenden Einfluß war; das steht auch durch die Beweisaufnahme fest.
4. Ein besonders verletzender Vorwurf gegen den Angeklagten Keitel war:
»daß er, statt sich vor seine, das heißt die ihm unterstellten Offiziere zu stellen und sie zu schützen, sie bedroht hat, er werde sie der Gestapo übergeben«.
Demgegenüber steht fest, daß in den Jahren bis 1944 kein Amtschef im OKW entlassen wurde, ferner, daß bis zum 20. Juli 1944 – dem Tage des Attentates und des Überganges der Gerichtsbarkeit im Heimatheer an Himmler – kein Offizier des OKW der Polizei überstellt wurde. Der Großadmiral Dönitz hat bestätigt, daß die Wehrmachtsteile und das OKW peinlich darauf bedacht waren, die Gerechtsame der Wehrmacht gegenüber der Polizei aufrechtzuerhalten.
Das Gericht hat hier auch gesehen, wie Generaloberst Jodl über sein Verhältnis zu dem Angeklagten Keitel gesprochen hat. Ich glaube, daß diese Bemerkung ein besonderes Gewicht hat, nicht nur, weil Keitel mit dem dienstlich unterstellten Generaloberst Jodl während der langen Jahre der Zusammenarbeit kameradschaftlich und freundschaftlich verkehrte.
So selbstverständlich das erscheinen mag, so wenig selbstverständlich ist es, wenn man bedenkt, daß Jodl trotz dienstlicher Unterstellung in Wirklichkeit mehr und mehr der alleinige strategische Berater Hitlers wurde. Was das bei dem Übergewicht der operativen Aufgaben im Kriege bedeutet, ist hier durch den Generaloberst Jodl überzeugend dargelegt worden.
Wenn Keitel dies ohne Eifersucht und in uneingeschränkter Anerkennung der Überlegenheit seines Untergebenen Jodl auf diesem Gebiete hinnahm, so beweist dies einen Charakterzug Keitels, der die auf dunkler Quelle beruhenden Informationen des Zeugen Gisevius als unwahr widerlegt.
Unvereinbar mit der entgegenstehenden Behauptung des Zeugen Gisevius ist auch die bezeugte Tatsache, daß Keitel mit dem ihm unterstellten Amtschef Canaris freundschaftlich und kameradschaftlich verkehrte.
Es muß in diesem Zusammenhang auf die nicht von Keitel vorgelegte, sondern ohne seine Zustimmung von Jodl bezeugte Tatsache hingewiesen werden, daß Keitel nach der Verhaftung von Canaris dessen Familie unterstützt und ihr geholfen hat.
Ich weise hierauf nur hin, um den vielleicht schwersten persönlichen Vorwurf zu widerlegen, Keitel habe sich als Vorgesetzter gegen seine Untergebenen unanständig benommen und seine – gerade im militärischen Leben besonders wirksame – Vorgesetztenstellung bis zur Gewaltandrohung mißbraucht.
In Wirklichkeit hat nach der Bekundung von Gisevius der Admiral Canaris nicht nur dienstlich ein Doppelspiel getrieben, sondern auch dem Angeklagten Keitel gegenüber unter Ausnutzung der ihm entgegengebrachten Freundschaft eine gleiche Einstellung zum Ausdruck gebracht, während er offenbar im Kreise seiner Gruppe über Keitel in gehässiger Weise sprach.
Abschließend ist in diesem Zusammenhang noch auf die Aussagen des Zeugen von Buttlar-Brandenfels zu verweisen, aus denen sich ergibt, daß Keitel die Offiziere des Wehrmachtführungsstabes immer wohlwollend behandelte.
Der Zeuge erwähnt einen ihn selbst und den Oberstleutnant von Ziervogel betreffenden Streit mit Himmler, in welchem sich Keitel, dem der Vorfall gemeldet wurde, sofort energisch schriftlich zum Schutz seiner Untergebenen gegen Himmler einsetzte. Auch das Affidavit des Amtschefs im Amt Canaris, Admiral Bürkner, auf das ich Bezug nehme, bezeugt in gleicher Weise die wohlwollende Haltung und Behandlung Keitels gegenüber seinen Untergebenen.
Es muß allerdings zur Klarstellung gesagt werden, daß Keitel manchesmal Veranlassung hatte, mit energischen Worten zu seinen Amts- und Abteilungschefs zu sprechen.
Ich lege dann weiter dar, daß die Offiziere sich gewöhnlich nicht mit Politik befaßten und daß sie erst, als die Lage schlechter wurde, politische Nachrichten zum Gegenstand ihrer Erörterungen machten; hierzu füge ich an, daß Keitel tatsächlich mit Worten seine Stellungnahme klargemacht hat. Diese waren auf der Voraussetzung fundiert, daß die Soldaten im Kriege ihre Treue und ihren Gehorsam bezeugen müßten. Wenn Keitel jemals etwas davon hören würde, würde er diese Offiziere zur Rede stellen.
Dr. Gisevius hat selbst hier ausgesagt, daß es den Offizieren streng verboten war, sich mit politischen Fragen zu befassen. Der Angeklagte Keitel hat bekundet, Hitler habe mehrfach mit Entschiedenheit zum Ausdruck gebracht, daß die Politiker sich nicht mit militärischen Fragen befassen dürften, weil sie nichts davon verstünden, aber ebenso auch die Generale keine Politik zu treiben hätten, weil sie nichts davon verstünden.
Die grundsätzliche Einstellung Hitlers in dieser Frage zeigt sich in der Anordnung 1936 oder Winter 1936/1937, durch welche die politische Berichterstattung an oder für die Wehrmacht untersagt wurde. Hitler wünschte in logischer Durchführung des Führerbefehls Nummer 1 nicht nur die absolute Trennung der Arbeitsgebiete, sondern auch, daß ein Ressort nicht einmal über die Vorgänge in einem anderen Ressort unterrichtet werden sollte. Es war nur folgerichtig, daß Hitler jede Erörterung politischer Fragen durch Offiziere auf das strengste verbot und daß der Angeklagte Keitel in Durchführung dieses Verbots, das Keitel selbst für richtig hielt, seinen Offizieren bei gegebenen Anlässen vorhielt, solche Erörterungen zu unterlassen.
Es liegt auf der Hand, daß es sich hier nicht um die akademische Erörterung politischer Probleme gehandelt hat, sondern um eine erkennbar werdende ablehnende Haltung gegenüber der Einstellung des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht. Solange die Dinge erfolgreich verliefen, gab es das nicht. Seit Stalingrad konnte man Äußerungen feststellen, die damals von Keitel als Äußerungen schwächlicher Naturen bezeichnet wurden.
Entsprechend seiner Grundeinstellung, daß der Soldat im Kriege seine phrasenlose, selbstverständliche Treue gegenüber seinem Volk und Vaterland, repräsentiert durch das Staatsoberhaupt und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, in ganz besonderem Maße dann zeigen müsse, wenn Rückschläge eintreten, war Keitel tatsächlich rücksichtslos in der Verurteilung solcher Äußerungen. Er wünschte auch nicht den Schein aufkommen zu lassen, als sei er anderer Ansicht als sein Vorgesetzter, als habe er persönlich Befürchtungen.
Ich fahre fort auf Seite 90 unten:
Keitel tat dies mit »Worten«. Das soll nicht heißen, daß dies eine Tarnung war und nicht seiner inneren Einstellung entsprach; es soll aber bedeuten, daß die vielleicht manchmal rauhe und schroffe Form, in der der Angeklagte Keitel zu seinen Offizieren sprach, auch nicht in einem Fall dazu geführt hat, daß ein Offizier deshalb bestraft oder gemaßregelt wurde. Dr. Gisevius wollte doch wohl zum Ausdruck bringen, daß Keitel seine Untergebenen im OKW in einer moralisch verwerflichen Weise behandelt habe.
Er selbst hat den Angeklagten Keitel nicht persönlich gekannt, kann also nichts aus eigener Kenntnis sagen, er war auf die Information derjenigen Offiziere angewiesen, die innerlich zu Feldmarschall Keitel in einem unüberbrückbaren Gegensatz standen, ohne daß dieser Gegensatz jemals erkennbar wurde. Man ist zu keiner Zeit an Keitel herangetreten, der Verschwörung beizutreten. Das ist verständlich, da die Verschwörer nach der Kenntnis des Charakters und der soldatischen Einstellung Keitels keinen Erfolg erwarten konnten. Da andererseits Keitel völlig ahnungslos war, was keines Beweises bedarf, ergibt sich das folgende Bild:
Keitel wußte nichts von einer Verschwörertätigkeit; was ihm entgegentrat erschien in einer Form sachlicher Bedenken oder persönlicher Bemerkungen, die Keitel dienstlich behandelte, und zwar wie ein wohlwollender Vorgesetzter, der, wie man bei uns sagt, schnauzt, es aber nicht so meint, und von dem die Untergebenen sagten, er bellt, aber er beißt nicht.
Umgekehrt mußten die sogenannten Verschwörer, in jeder Person, die für das eigene Ziel kein Verständnis hat, einen Feind sehen. Jedes Handeln und jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt und mit kritischster Lupe beurteilt. Da jeder Verschwörer den Erfolg seiner auf den Umsturz gerichteten Tätigkeit erhofft, muß er für die kommende Abrechnung »Material« sammeln. Dies ist eine besonders naheliegende Aufgabe für einen zukunftigen Innen- und Polizeiminister.
Danach ergibt eine objektive Würdigung der durch die Beweisaufnahme belegten Tatsachen, daß die Beschuldigungen, die sich aus der Zeugenaussage Gisevius' ergeben haben, nicht richtig sind.
Das Bild wäre jedoch nicht vollständig, wenn man nicht die Persönlichkeit des Zeugen Gisevius auf Grund seiner eigenen Bekundung beleuchten würde. Diese Beurteilung setzt sich aus den zwei Faktoren zusammen:
1. Die Laufbahn und die Stellung des Zeugen.
2. Die Zuverlässigkeit seiner Berichterstattung.
Ich habe nun auf Seite 92 im einzelnen angeführt, in welchen Funktionen dieser Zeuge Gisevius war. Ich habe nichts hervorgehoben, was ihn etwa von meinem Standpunkt aus beschuldigen könnte, weil er hier ja das bekundet hat, was Sie alle gehört haben. Ich habe objektiv nur folgendes festgestellt:
a) Er hat sich mit den ihm von Oster zur Verfügung gestellten falschen Papieren der Wehrpflicht entzogen.
b) Er hat während der ganzen Zeit ab 1933 in Deutschland gelebt ohne jede Freiheitsbeschränkung und ist im Beamtenverhältnis geblieben bis 20. Juli 1944.
c) Er war Beamter des Deutschen Reiches, und zwar bezahlt, mit Ausnahme der Urlaubszeit von Mitte 1937 bis Anfang 1939.
d) Seit 1943 war er in der Schweiz als Vizekonsul des Reiches im Generalkonsulat in Zürich durch Canaris als Nachrichtenagent eingebaut und wurde selbstverständlich dafür bezahlt. Zur gleichen Zeit stand er mit dem feindlichen Nachrichtendienst in Verbindung.
e) Er hatte ab 1933, als er in der Gestapo tätig war, genaue Kenntnis aller der schrecklichen Vorkommnisse und die Erkenntnis, welche Folgen daraus für das deutsche Volk entstehen konnten.
f) Ein besonderer Umstand, der den Zeugen Dr. Gisevius beleuchtet, ist der Rat oder die Anregung, die Gisevius dem routinierten Bankfachmann Dr. Schacht gegeben hat – Band XII, Seite 208 des Protokolls –, er solle es doch zur Inflation kommen lassen, um dadurch das Heft in seine Hand zu bekommen.
Diese Anregung läßt nur zwei Möglichkeiten zu: Eine völlige Ahnungslosigkeit der volkswirtschaftlichen Bedeutung und sozialen Wirkung einer Inflation oder eine maßlose Skrupellosigkeit, die das Schicksal der Arbeiter völlig unberücksichtigt läßt. Eine bewußt herbeigeführte Inflation kann nur als ein Verbrechen gegen die Allgemeinheit bezeichnet werden. Schacht hat dies als eine Katastrophe bezeichnet. Schacht hat ihm laut Protokoll geantwortet:
»Sie wollen die Katastrophe, ich will sie vermeiden.«
Zur Beurteilung der Zuverlässigkeit des Zeugen Gisevius in seiner Berichterstattung vor diesem Tribunal muß ich auf das hier als Beweisstück vorgelegte Buch des Zeugen »Bis zum bitteren Ende« Bezug nehmen. Denn auch dieses Buch ist eine »Berichterstattung« des Zeugen Gisevius.
Irren ist menschlich, aber wenn im Jahre 1945 – nach dem Zusammenbruch Deutschlands – ein Buch erscheint, in welchem Tatsachen und Ereignisse von geschichtlicher und für die persönlich Beteiligten von moralischer, ja sogar strafrechtlicher Bedeutung mitgeteilt werden, deren Unrichtigkeit inzwischen offenbar geworden ist, dann ist der Irrtum unverzeihlich und die Bezugnahme auf unrichtige Informationen keine Entschuldigung mehr.
Von den vielen Unrichtigkeiten, die das Buch enthält, will ich nur kurz auf die vor diesem Tribunal im Kreuzverhör durch Dr. Kubuschok festgestellten vier Unrichtigkeiten hinweisen, und zwar bezüglich des Angeklagten von Papen. Ich bitte Sie, davon Kenntnis zu nehmen.
1. Dr. Gisevius hat in seinem Buch behauptet, daß von Papen trotz der Ereignisse vom 30. Juni 1934 nicht demissioniert habe.
Es steht fest, daß von Papen demissioniert hat und lediglich die Veröffentlichung erst für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen war.
2. Dr. Gisevius hat ferner behauptet, daß von Papen an der Kabinettssitzung, die er mit genauen Einzelheiten beschreibt, teilgenommen habe, In der das Gesetz beschlossen worden ist, das die Maßnahmen im Zuge des 30, Juni 1934 als staatsnotwendig richtig erklärt.
Tatsächlich hat von Papen an dieser Sitzung überhaupt nicht teilgenommen.
3. Dr. Gisevius hat schließlich behauptet, daß von Papen zu von Hindenburg gereist sei, jedoch keinen genügenden Protest gegen die Maßnahmen erhoben hätte.
Tatsache ist, daß von Papens Versuche, von Hindenburg zu besuchen, vereitelt wurden, so daß er ihn nicht besuchen konnte.
4. Auch die Behauptung in dem Buch Dr. Gisevius', daß von Papen an der Reichstagssitzung teilgenommen hat, in der die Maßnahmen des 30. Juni gebilligt wurden, mußte dieser als unrichtige Informationen zugeben.
Man wird es nicht als einen unbegründeten Vorwurf bezeichnen, wenn man eine solche Darstellung als bedenklich und den Verfasser als nicht zuverlässig bezeichnet.
Es ist für mich als deutschen Verteidiger schwer, dieses Problem leidenschaftslos zu behandeln. Die Aussage Gisevius' enthüllt die ganze Tragödie des deutschen Volkes, sie ist für mich ein Beweis der Schwäche und der Dekadenz bestimmter deutscher Kreise, die mit dem Gedanken des Putsches und des Hochverrats spielten, ohne im Innersten von der Not des Volkes ergriffen zu sein; es war eine Spitzengliederung zukünftiger Minister und Generale ohne den Rückhalt an der breiten Masse unseres Volkes, der Arbeiterschaft, wie Reichsminister Severing hier mit aller Deutlichkeit bekundet hat.
Justice Jackson hat im Zusammenhang mit dem Verhör des Zeugen Gisevius das Wort »Widerstandsbewegung« gebraucht. Wir haben im Laufe dieses Prozesses häufig von den unerschrockenen, tapferen Männern und Frauen gehört, die für ihr Vaterland gekämpft, gelitten haben und gestorben sind. Sie waren unsere Feinde. Aber niemand, der sich bemüht, diese Dinge objektiv zu beurteilen, wird ihnen die Anerkennung ihres Heldentums versagen. Wo aber finden wir dieses Heldentum bei der Gruppe um Gisevius? Wenn man sein Buch »Bis zum bitteren Ende« liest und ihn hier gehört hat, sucht man vergeblich nach einem aufopferungsfreudigen Mann. Selbst die späte Tat eines Stauffenberg entbehrt des Heldentums, weil ihr der Entschluß der Selbstaufopferung fehlt. Gisevius spricht in der Zeit bis 1938 – als es noch Zeit gewesen wäre, das Rad des Schicksals mit Erfolg aufzuhalten – immer von Verhandeln, von Besprechungen; aber alle diese Männer wollen, daß andere – das heißt die Generale – handelten. Wenn man die Kenntnis der Dinge berücksichtigt, die Gisevius als Mitglied der Gestapo und alle seine Freunde hatten, wenn man die Erkenntnis der großen Gefahr in Rechnung stellt, in der das Volk schwebte, dann durfte für patriotische Männer, wie es die Mitglieder der Gruppe für sich in Anspruch nehmen, der Entschluß zu einer Tat keinen Augenblick zweifelhaft sein. Was aber taten sie? Als die Führer des Heeres zögerten oder versagten, dachten sie nicht an die eigene Tat, sondern wandten sich an das Ausland.
Man wird für die Deutschen, die in unerhörter Weise behandelt wurden oder die die Regierung ausgestoßen hatte, Verständnis haben, zumal wenn ihnen Mittel und Wege fehlten, den Weg der direkten Tat zu beschreiten. Aber die Gruppe Gisevius hatte solche Möglichkeiten. Zu ihnen gehörten die Männer in einflußreichsten Schlüsselstellungen, Männer im OKW, in der nächsten Umgebung Hitlers, Männer, die die Möglichkeit des Zutritts zu Hitler und seinen bösen Hintermännern hatten. Keiner von ihnen fand den Mut zur Tat, als es Zeit gewesen wäre. Was taten sie statt dessen? Sie blieben im Amt, sie halten wirksam mit, so daß Verbrechen geschehen konnten, wie sie Gegenstand dieses Verfahrens sind.
Ich möchte keinen Zweifel lassen, daß die Tatsache der Verschwörung an sich für die hier zu behandelnde Frage der Glaubwürdigkeit dieser Personen nicht von Bedeutung ist. Wer Verschwörer aus reinen Motiven ist, wer in Kenntnis der Gefahr, die seinem Lande droht, sein Leben einsetzt, ist nicht nur sauber, sondern verdient den Dank des Vaterlandes.
Wenn Gisevius und seine Freunde, die nach ihren Stellungen über alles orientiert waren, was die meisten Deutschen erst durch diesen Prozeß in seiner ganzen Furchtbarkeit erfahren haben, in uneigennütziger Selbstaufopferung dem Lande gedient hätten, dann wäre uns und der Welt vielleicht viel Unglück und Leid erspart geblieben.
Großadmiral Dönitz, der den Admiral Canaris, den Informator, gut kannte, sagte:
»Der Admiral Canaris war in der Zeit, als er in der Kriegsmarine war, ein Offizier, dem wenig Vertrauen entgegengebracht wurde. Er war ein ganz anderer Mensch wie wir. Wir sagten, er hätte sieben Seelen in seiner Brust.«
Aber, meine Herren, was sagt Dr. Gisevius auf Seite 319 des Buches »Bis zum bitteren Ende« über Canaris?
»Die Nachfolge trat der damalige Kapitän zur See Canaris an, ein ganz kluger Mann und verschlagener als Himmler und Heydrich zusammen.«
Ich habe auf den folgenden Seiten eine Analyse derjenigen Persönlichkeiten gegeben, die von Gisevius als Hauptinformatoren genannt worden sind. Ich möchte hierauf nicht mehr im einzelnen eingehen. Es handelt sich da um Canaris, Thomas und Nebe.
Für die Seiten 96 bis 103 fasse ich kurz zusammen: Bei Canaris habe ich nur noch zu bemerken, daß er in engster und äußerst freundschaftlicher Fühlung mit Himmler, Heydrich und der Gestapo lebte, obwohl er ihr zugegebener, verschworener Feind war. Thomas, der auch von Anfang an ein Mitglied der Gruppe gewesen sein soll, war ein ausgezeichneter Generalstabsoffizier und der vorbildliche Organisator und unermüdliche Arbeiter im Wehrwirtschaftsstab unter Keitel und im späteren Wehrwirtschaftsrüstungsamt im Oberkommando der Wehrmacht. Sie kennen sein Werk, 2353-PS. Dieser Mann war der Geist und der Motor der Wiederaufrüstung, die er, ebenso wie Keitel und andere in dem von ihm mit Energie vertretenen Umfang für erforderlich hielt. Er ist aber auch derselbe Mann, der den Plan »Barbarossa-Oldenburg« organisierte und dann unter dem Vierjahresplan die Leitung des wirtschaftlichen Führungsstabes des Unternehmens Oldenburg hatte. Die Auswirkungen dieses Unternehmens brauche ich hier nicht zu erläutern.
General Thomas, der nach dem sehr überzeugenden äußeren Anschein alle seine Kräfte für die wirtschaftliche Kriegführung einsetzte und nach seinem Ausscheiden aus dem Sektor Speer nicht entlassen wurde, sondern von Keitel zur Archivstellung kommandiert wurde, damit er dort das Werk schrieb, das den Hauptpunkt der Anklage in punkto Wiederaufrüstung bildet, 2353-PS. Wenn es wahr ist, was Dr. Gisevius von Thomas gesagt hat, dann war er seit 1933 ein Doppelspieler und Opportunist, jedenfalls kein Mann, dem man eine objektive Information zutrauen kann.
Die Gestalt von Canaris ist fast mystisch. Es muß dies wohl so sein bei Menschen, die sich mit Dingen befassen, die das helle Licht des Tages nicht vertragen. Seine Stellung war für die Gesamtkriegführung von großer Bedeutung. Es ist klar, daß solche Leute in höchstem Maße das Vertrauen der Führung in der Politik und in der Kriegführung haben müssen. An dem Maß des Vertrauens, das jemand genießt, ist zu prüfen, ob er zuverlässig ist.
Er genoß auch das Vertrauen des Angeklagten Keitel, mit dem er in freundschaftlich kameradschaftlicher Weise verkehrte, wie bewiesen ist, also nicht nur wie ein Untergebener mit einem Vorgesetzten. Jodl sagte aus, Keitel sei viel zu vertrauensselig gewesen. Kann man es für glaubhaft halten, daß ein solches Verhältnis Jahre hindurch bestand, wenn Keitel mit den angeblichen Berichten von Canaris so verfahren wäre, wie der Zeuge Gisevius es hier ausgesagt hat oder wenn er sogar von Keitel einen Mordbefehl erhalten haben soll, wie Lahousen es in den Fällen der Generale Weygand und Giraud glaubhaft machen will?
Wenn nun Canaris ein so großes Vertrauen bei Hitler und Keitel genoß, gleichzeitig aber auch in der Gruppe Gisevius maßgebend mitarbeitete, so muß sein Charakter nicht nur als zwiespältig, sondern auch als unzuverlässig und als unglaubwürdig gelten.
Man kann Verständnis für einen Menschen haben, der vorübergehend ein solch zwiespältiges Wesen zur Schau trägt, wenn es geschieht um eines höheren Zieles willen, um seinem Vaterland zu nützen, um es von einem Tyrannen zu befreien. Aber man sucht hier vergeblich nach einem ernsthaft gewollten Ziel, nach einer Tat, die das Ungesetzliche in einem Licht höheren moralischen Rechts erscheinen läßt. Canaris glaubte, seiner revolutionären Pflicht dadurch zu genügen, daß er in dem Kreis seiner vertrauten Gesinnungsgenossen Bedenken äußerte und schärfste Kritik übte. Er wartete wie andere auf die Tat der Generale – er als Admiral rechnete sich offenbar nicht zu diesem Kreis –, während er selbst das Vertrauensverhältnis zu Hitler und Keitel pflegte. Er duldete – so muß man nach den Aussagen des Zeugen Gisevius annehmen –, daß seine Gesinnungsgenossen die Verbindung mit dem Ausland aufnahmen.
Wann sagte Canaris die Wahrheit? Er war zwangsläufig in die Lüge verstrickt. Mußte er nicht seinen Gesinnungsgenossen etwas sagen, was nach Tätigkeit im Sinne der Gruppe aussah? Mußte er nicht auch etwas darüber berichten, was er Keitel gesagt haben wollte?
Es ist das typische Bild eines überfeinerten, hochintelligenten Salonverschwörers, geschützt durch die Art seiner dunklen Tätigkeit, die bis zu einem hohen Grade unkontrollierbar war, dem aber der Tatwille fehlte.
Keitel hatte solches Zutrauen und solche Zuneigung zu Canaris, daß er die verschiedenen Warnungen Jodls immer wieder überging und sein Vertrauen zu Canaris behielt, sogar bis in die Zeit nach dem 20. Juli 1944.
Obwohl Canaris der schärfste Feind der Gestapo war, arbeitete er mit Himmler und Heydrich eng und erstaunlich freundschaftlich zusammen, sicher nicht aus Überzeugung. Es bestand da eine gewisse Konkurrenz. Himmler hatte eine Nachrichtenzentrale, die sich anfänglich auf das Inland konzentrierte, sich dann aber Schritt für Schritt auf das Ausland ausdehnte. Der Angeklagte Kaltenbrunner hat hierüber ausgesagt. Diese Konkurrenz trug in sich die Möglichkeit von Reibungen, die bei dem auch Canaris bekannten Machthunger Himmlers leicht dahin führen konnte, daß die Abteilung »Abwehr« ganz auf das RSHA überging. Canaris sah sich persönlich und den Kreis der Verschwörer gefährdet. Infolgedessen tat er etwas sehr Schlaues, er organisierte eine Zusammenarbeit mit dem Erfolg, daß Himmler ihn bei verschiedenen zweifelhaften Angelegenheiten deckte. Die Zusammenarbeit ging lange Zeit gut, bis der Fall »Oster« und der »Ankara«-Fall dem inzwischen von Kaltenbrunner ausgebauten »Auslandsnachrichtendienst« des RSHA Gelegenheit gab, die Abwehr im OKW so stark zu diskreditieren, daß Hitler die Abgabe der Abteilung Abwehr verfügte.
Was in diesem Zusammenhang von Bedeutung scheint, ist die Tatsache der eigenen Zusammenarbeit Himmlers mit Canaris und die sich hieraus mit zwingender Logik ergebende Folgerung, daß Canaris niemals einen Bericht vorgelegt haben kann, der Himmler und seine Organisation schwer belastet haben würde. Denn wenn Canaris einen solchen schriftlichen Befehl Keitel vorgelegt hätte, so hätte dieser entweder den Bericht Hitler vorlegen oder bei Himmler beziehungsweise RSHA nachfragen müssen. In beiden Fällen hätte Himmler Kenntnis erhalten. Die Folge wäre klar gewesen: Aus der Zusammenarbeit wäre Feindschaft geworden, und Feindschaft mit Himmler bedeutete höchste Gefahr für Canaris und seinen Kreis.
Ich glaube, daß diese zwingende Logik stärker ist als eine Reportage des Zeugen Gisevius, die sich auf angebliche Angaben von Canaris bezieht.
Dies ist das schillernde Charakterbild eines Mannes, den man beurteilen mag, wie man will, der aber weder ein Verschwörer war noch Glaubwürdigkeit für sich in Anspruch nehmen kann.
2. Für die Beurteilung des Charakters und damit der Glaubwürdigkeit des Generals Thomas sind folgende Dokumente wichtig: Dokument 2353-PS, Dokument EC-270 und Dokument EC-271.
1. Das Dokument 2353-PS, betitelt »Teil A. Die wehr- und rüstungswirtschaftlichen Arbeiten bis zum Beginn der Mobilmachung im Jahre 1939« ist von der Anklage zum Beweis der Aufrüstung vorgelegt. Es enthält diesen Nachweis, der vom Angeklagten Keitel nicht bestritten wird.
Nun hat Thomas nach seiner Gefangennahme zu diesem seinem Werk eine Erklärung abgegeben, die besagt, daß er nach dem 20. Juli 1944 seine Denkschrift über den Aufbau der deutschen Wehrwirtschaft, die höchst kritisch gehalten gewesen sei, so umgearbeitet habe, daß sie im Notfall, das heißt, bei einem Verfahren vor einem deutschen Gericht zu seiner Verteidigung dienen könne.
Seine Erklärung ist dem Dokument 2353-PS vorgeheftet.
Es ergibt sich die Alternative: Entweder ist die Denkschrift 2353-PS unwahr, dann kann sie nicht als Beweismaterial von der Anklagebehörde vorgelegt werden. Oder sie ist wahr, dann ist die Glaubwürdigkeit dieses mittelbaren Zeugen als Informationsquelle von Dr. Gisevius in Frage gestellt.
Die Denkschrift ist im großen und ganzen richtig. Es ist aber auch richtig, daß Thomas mit ganzer Hingabe nicht nur an der Aufrüstung, sondern auch an der Organisation »Oldenburg«, also am Wirtschaftskrieg gegen die UdSSR mitgearbeitet hat. Ich verweise auf das Exhibit US-141 (Besprechung vom 29. April 1941).
Zweck der Zusammenkunft: Einführung in den organisatorischen Aufbau des wirtschaftlichen Sektors des Unternehmens »Barbarossa-Oldenburg«. Es heißt darin:
»Dieser« – der Reichsmarschall – »hat die Aufgabe einem wirtschaftlichen Führungsstab unter dem Chef Wirtschafts-Rüstungs-Amt (Thomas) delegiert.«
Damit war General Thomas dem Reichsmarschall für diese Aufgabe als dem Gesamtleiter dieses Unternehmens beigegeben. Thomas hat den ganzen organisatorischen Aufbau dieses Unternehmens, wie im Affidavit (Dokumentenbuch 2, Exhibit Nummer K-11) dargelegt, vorbereitet und geleitet.
Ist das mit der von Gisevius und jetzt auch von Thomas behaupteten grundsätzlichen Kriegsgegnerschaft und der überzeugten Einstellung gegen Hitler vereinbar? Es war eine klar erkennbare, mit dem bisherigen Völkerrecht unvereinbare Aufgabe, die Thomas hier übernahm und organisierte. Er hat in keinem Zeitpunkt gegen die Übernahme dieses Amtes protestiert.
2. Die Einstellung des Generals Thomas ergibt sich aber auch aus dem Dokument EC-270, von der Anklagebehörde am 6. Mai 1946 vorgelegt. Es ist der Entwurf eines Schreibens des Wehrwirtschaftsstabes (Chef General Thomas) vom 27. April 1938, gerichtet an die Abteilung L (Landesverteidigung im Wehrmachtführungsstab), vom Angeklagten Keitel nicht gezeichnet. Es handelt sich hierbei um den Machtkampf des Generalbevollmächtigten (GBW) Funk und Göring als Leiter des Vierjahresplanes. Aus dem Dokument EC-271 ergibt sich, daß General Thomas das Ziel verfolgte, dem OKW, das heißt, dem von ihm geleiteten Wehrwirtschaftsstab, die ganze Kriegswirtschaft zu unterstellen. Unter der Tarnung einer Auslegung des Erlasses vom 4. Februar 1938 über die »Wehrmachtführung« wollte er verhindern, daß Funk dem damaligen Feldmarschall Göring als Leiter des Vierjahresplanes unterstellt würde, er wollte aber gleichzeitig auch verhindern, daß der GBW autonom wurde. Es sollte (Seite 5 des Dokuments, letzter Absatz des Schreibens)
»festgelegt werden, daß der GBW bei allen Fragen der Versorgung der Wehrmacht den Weisungen des OKW zu entsprechen hat«.
Dieser Plan gelang nicht, Keitel billigte ihn auch nicht. Aber aus dem Dokument EC-270 ergibt sich, wenn man die Ziffer 1 bis 9 (Seite 2 bis 4) berücksichtigt, daß es das Bestreben des Generals Thomas war, seinen Amtsbereich zu einem wirtschaftlichen Generalstab im OKW auszubauen, einen Plan, den Thomas schon seit Jahren im Gegensatz zu Jodl und Keitel verfolgte.
Das Dokument EC-270 trägt an letzter Stelle die Initialen von General Thomas.
Das ist der Mann, der gegen den Krieg und die von ihm als verderblich und völkerrechtswidrig bezeichneten Methoden angekämpft haben will. Opportunist und Doppelspieler.
Der Angeklagte Keitel gibt zu, daß Thomas Berichte gemacht hat, die auf die knappe Rohstofflage hinwiesen, er hat Bedenken geäußert, ob die Rüstung ausreiche, um einen Krieg zu führen. Aber diese Bedenken teilten auch die Generale, insbesondere Keitel. Generaloberst Jodl hat bestätigt (Protokoll vom 6. Juni 1946, vormittags, Band XV, Seite 475), daß diese Berichte von Thomas Hitler vorgelegt worden sind, so daß auch in diesem Punkt die Bekundung von Dr. Gisevius widerlegt ist.
Am schlimmsten steht es aber mit dem Freund Nebe. Ich verweise auf Seite 103.
Der Zeuge Gisevius hat Nebe als einen seiner intimsten Freunde und Gesinnungsgenossen bezeichnet.
Nebe war nach den Aussagen des Dr. Gisevius seit 1933 mit ihm befreundet und über die Einstellung des Zeugen genau orientiert. Er ist in dem hier von vielen Seiten behandelten Reichssicherheitshauptamt bis zum 20. Juli 1944 geblieben und hatte im Jahre 1944 die Befehlsgewalt über das Hauptquartier des Sonderdienstes für die Verhütung von Kriegsgefangenenfluchten. Dies ergibt sich aus dem von der Anklagebehörde vorgelegten Dokument USSR-413.
Zur Charakterisierung dieses Zeugen, von dem Dr. Gisevius nach seinem Ausscheiden aus der Gestapo laufend wesentliche Informationen erhalten haben will, muß darauf hingewiesen werden, daß Nebe von 1933 bis 1944 im Reichssicherheitshauptamt Dienst getan hat, offenbar zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten Himmler, Heydrich und Kaltenbrunner; denn sonst wäre er nicht so lange im Amt geblieben und bis zum Polizeigeneral und SS-Gruppenführer avanciert.
Während er also auf der einen Seite elf Jahre die Aufgaben seiner Dienststelle mit den bekannten Methoden der Himmler unterstellten Gestapo und später Kripo erfüllte, wird er von Dr. Gisevius als sein Freund und überzeugter Gesinnungsgenosse hingestellt. Nun könnte man vielleicht glauben, daß er in seiner Dienststellung Unheil verhütet, vielleicht sogar Befehlsdurchführungen verhindert hätte. Daß Nebe dies nicht getan hat, ergibt das schon erwähnte Dokument USSR-413. In der dazugehörigen Aussage Wielen wird der scheußliche Fall der 50 geflohenen Royal-Air-Force-Flieger behandelt, an dem der Polizeigeneral Nebe und Freund des Dr. Gisevius beteiligt war.
Wielen sagt hierüber folgendes aus:
»In dieser Zeit erhielt ich eines Tages um die Mittagszeit einen telegraphischen Befehl von General Nebe, mich sofort nach Berlin zu begeben, um mit einem Geheimbefehl vertraut gemacht zu werden. Als ich am gleichen Abend in Berlin ankam, sprach ich bei General Nebe in seinem Büro am Wendischen Markt 5-7 vor. Ich erstattete ihm einen gedrängten Bericht über den damaligen Stand der Angelegenheit. Er zeigte mir dann einen fernschriftlichen, von Kaltenbrunner unterzeichneten Befehl, der besagte, daß auf ausdrücklichen persönlichen Befehl des Führers über die Hälfte der von Sagan entkommenen Offiziere nach Wiederergreifung zu erschießen seien. General Nebe schien selbst entsetzt über diesen Befehl. Er war in großer Sorge. Ich hörte später, daß er die ganze Nacht nicht ins Bett gegangen sei, sondern auf dem Sofa in seinem Büro zugebracht habe. Ich selbst war gleichfalls erschüttert über den furchtbaren Schritt, der getan werden sollte, und widersprach seiner Ausführung. Ich sagte, daß dies gegen das Kriegsrecht sei und daß es unausweichlich zu Repressa lien gegen diejenigen unserer eigenen Offiziere führen müsse, die in englischen Lagern als Kriegsgefangene wären und daß ich schlankweg ablehne, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen. General Nebe erwiderte, daß ich in diesem Fall keinerlei Verantwortung trage, da die Staatspolizei völlig unabhängig handeln werde, und daß schließlich die Befehle des Führers ohne Widerspruch ausgeführt werden müßten.
Nebe fügte dann noch hinzu, daß ich meinerseits selbstverständlich unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit stehe und daß er mir den Originalbefehl gezeigt habe, damit ich gegenüber der Staatspolizei keinerlei Schwierigkeiten mache.«
Jeder Kommentar erscheint überflüssig. Die Persönlichkeit Nebes ist hierdurch gekennzeichnet. Die Glaubwürdigkeit eines Menschen ist ein untrennbarer Teil seiner Gesamtpersönlichkeit. Informationen eines Menschen, der über ein Jahrzehnt eine solch scheußliche Doppelrolle gespielt hat wie Nebe, können keinen Glauben beanspruchen.
Ich glaube, diese Analyse der Aussagen des Zeugen Dr. Gisevius und der Männer seiner Gruppe gibt mir das Recht zu sagen, daß die Beschuldigungen des Angeklagten Keitel durch den Zeugen keine geeignete Grundlage für die Beweisführung der Anklage sein können; daß nämlich der Angeklagte Keitel
1. einen Ring um Hitler gebildet habe,
2. daß der Einfluß auf das OKW und die Wehrmacht ungeheuer gewesen sei,
3. daß er Berichte über Greuel und Verbrechen Hitler nicht vorgelegt habe,
4. daß er seine Untergebenen nicht geschützt, sie sogar mit der Gestapo bedroht habe.
Richtig ist demgegenüber, daß die effektive Stellung Keitels, so bedeutsam sie auch nach außen scheinen möchte, in Bezug auf die Bedeutung sowohl für das Gesamtgeschehen als auch für die grundsätzlichen und wichtigen Entscheidungen Hitlers weder entscheidend noch kausal war. Man wird der tatsächlichen Bedeutung der Tätigkeit gerecht, wenn man sagt, sie war ungeheuer, weil sie physisch und seelisch über die Kraft eines Menschen ging; weil sie den Angeklagten dauernd in ein Dilemma zwischen seiner soldatischen Auffassung und dem unbeugsamen Willen Hitlers brachte, dem er treu, allzu treu, ergeben war. Physisch, weil sie fast unlösbar war, denn sie hatte keinen festumrissenen, klaren Inhalt, sondern bestand im ewigen Ausgleich sachlicher Differenzen, im Vermitteln persönlicher Empfindlichkeiten, im »Sich- wehren« gegen Übergriffe der einzelnen Dienststellen untereinander oder gegenüber dem OKW, im Lavieren, wenn Hitler in einer explosiven Reaktion auf unangenehme Meldungen maßlose Befehle erteilen wollte, in der Erledigung aller unangenehmen Dinge, die Hitler nicht persönlich erledigen wollte.
Es war eine ungeheuer trostlose Tätigkeit, die nur einen sehr geringen Ausgleich durch die schillernde Stellung in der unmittelbaren Umgebung des Staatsoberhauptes, in der dekorativen Teilnahme an allen Ereignissen, die man Weltgeschichte nennt, erhielt, in der repräsentativen Verwendung des »Feldmarschalls«.
War Keitel ein politischer General? Der Angeklagte Keitel ist beschuldigt, beteiligt zu sein, geholfen und Vorschub geleistet zu haben beim Planen, Vorbereiten und Anregen von Angriffskriegen unter Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Zusicherungen.
Der Angeklagte hat sich hierzu auf dem Zeugenstand geäußert.
Soweit es sich um die Kenntnis oder Erkenntnis der Angriffsabsicht handelt, komme ich darauf in einem anderen Zusammenhang zurück. Die Tatsachen als solche sind vom Angeklagten Keitel dargelegt.
Soweit es sich um die Begründung und die Durchführung strategischer Maßnahmen handelt, wird die Verteidigung des Generaloberst Jodl diese Frage behandeln.
Ich möchte hier nur ein Ereignis erörtern, das eine geschichtliche und für den Angeklagten Keitel eine persönliche Bedeutung in diesem Prozeß gewonnen hat: Die Besprechung zwischen Hitler und von Schuschnigg auf dem Obersalzberg am 12. Februar 1938. Es war das Wetterleuchten, das Hellsichtigen das kommende Wetter erkennbar werden lassen konnte. Keitel, seit einer Woche Chef OKW, bis dahin ohne Berührung mit den Ereignissen der hohen Politik, erkannte die Wetterzeichen nicht. Hitler, der nach dem Revirement vom 4. Februar 1938 sofort zum Obersalzberg gefahren war, rief Keitel zum ersten Male zu sich ohne Angabe der Gründe. Keitel kam, ohne zu wissen, was Hitler wollte oder was auf dem Obersalzberg vor sich gehen sollte. Erst im Laufe des Tages kam ihm zum Bewußtsein, daß seine Anwesenheit mit der Anwesenheit Schuschniggs und der Besprechung der österreichischen Frage eine Beziehung haben könne. An irgendwelchen Besprechungen, insbesondere mit von Schuschnigg oder Dr. Schmidt, nahm er nicht teil, wie die Beweisaufnahme ergeben hat. Es kam ihm aber zum Bewußtsein, daß seine Anwesenheit, ebenso wie die der Generale von Reichenau und Sperrle, für die Besprechung mit von Schuschnigg eine Bedeutung haben sollte; denn da Hitler mit ihm über militärische Angelegenheiten überhaupt nicht sprach, mußte er zu der Überzeugung kommen, daß die Vertreter des OKW, des Heeres und der Luftwaffe gebeten waren, um von Schuschnigg die Wehrmacht des Reiches vor Augen zu führen.
Die Dinge lagen danach so, daß Hitler beabsichtigte, die Vertreter der Wehrmacht als ein Druckmittel zur Erreichung seiner politischen Pläne zu benutzen, daß diese selbst davon vorher nichts wußten und erst später diese Absicht erkannten.
Diese Zusammenkunft auf dem Obersalzberg wird nun von der Anklagebehörde zur Begründung der Beschuldigung benutzt, Keitel sei ein politischer General gewesen.
Als weitere, hierfür als symptomatisch angesehenen Ereignisse sind von der Anklagebehörde die Besprechung Hitlers mit Hacha und Tiso angeführt worden, bei denen der Angeklagte Keitel auch anwesend war.
Diese Beweisführung erscheint nicht überzeugend, wenn man daraus ableiten will, daß Keitel sich auch an den politischen Besprechungen aktiv beteiligt habe.
Wenn der Angeklagte Keitel an Staatsbesuchen und Besprechungen mit fremden Staatsmännern teilnahm, so war er an den Aussprachen nicht beteiligt, sondern er war anwesend.
Hitler liebte es, Keitel in seiner Begleitung als Repräsentanten der Wehrmacht in Erscheinung treten zu lassen. So war Keitel auch in Godesberg anwesend, als Ministerpräsident Chamberlain dorthin kam, ebenso in München am 30. September 1938 und bei dem Molotow-Besuch im November 1940. Ebenso war er zugegen bei den Begegnungen Hitlers mit Marschall Pétain, mit General Franco, dem König Boris, mit dem Reichsverweser von Horthy und mit Mussolini.
Diese Funktion Keitels kann aber nicht ausreichen, um den Angeklagten Keitel zu einem General zu machen, der an der Gestaltung der Politik kausal beteiligt gewesen sein soll.
Wie wenig diese Behauptung gerechtfertigt ist, ergibt sich auch aus der von Admiral Bürckner bezeugten Tatsache, daß Keitel äußerst darauf bedacht war, sich in die Angelegenheiten des Auswärtigen Amtes nicht einzumischen und seinen Offizieren den Befehl gab, sich nicht mit außenpolitischen Angelegenheiten zu befassen.
In der Innenpolitik ergab sich die Ausschaltung des Chefs OKW durch die schon behandelte Beseitigung des Reichskriegsministers und die dadurch beabsichtigte und erreichte Aufhebung der politischen Vertretung der Wehrmacht im Kabinett.
Es ist selbstverständlich und auch schon vorgetragen worden, daß die Stellung des Angeklagten Keitel als Chef OKW es mit sich brachte und im Kriege in verstärktem Maße mit sich bringen mußte, daß er mit allen Ministerien und höchsten Dienststellen in irgendeine Berührung kam und als Vertreter des OKW, das heißt Hitlers, verhandelte.
Damit wurde Keitel aber kein Politiker, das heißt ein Mann, der an den Zielsetzungen der Regierung beratend beteiligt war und darauf Einfluß hatte.
Er arbeitete in seiner hohen Dienststellung natürlich an der Durchführung dieser Zielsetzung mit und trägt insoweit auch eine Verantwortung, nicht aber als politischer General.
Herr Präsident! Ich fange jetzt ein großes Kapitel an. Soll ich das noch beginnen?
VORSITZENDER: Lesen Sie nur weiter bis 5.00 Uhr.
DR. NELTE: 1. Der Gedanke des Krieges gegen Rußland wurde von Keitel abgelehnt. Dies hat seinen sichtbaren Ausdruck gefunden in der Denkschrift, die Feldmarschall Keitel verfaßte, mit von Ribbentrop besprach und Hitler übergab. Die Gründe waren nach seiner eidlichen Bekundung:
a) militärische Überlegungen,
b) der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion vom 23. August 1939.
Trotz persönlicher Vorstellungen hatte die Denkschrift keinen Erfolg. Hitler lehnte, wie immer bei Fragen strategischer Art, die Stellungnahme Keitels als nicht überzeugend ab.
In diesem Zusammenhang und infolge der krassen Ablehnung Hitlers bat Keitel um Ablösung und Frontversetzung. Es ist dies der Fall, den Reichsmarschall Göring in seiner Vernehmung bestätigt hat. Hitler lehnte ab, indem er in schärfster Weise die Manier der Generale kritisierte, um Ablösung zu bitten oder den Rücktritt anzubieten, wenn er ihre Ansichten oder Vorschläge nicht billige.
Damit war für Keitel die Entscheidung gefallen: Er blieb in seiner Stellung, er tat seinen Dienst und erfüllte seine Pflicht, indem er die ihm im Rahmen der weiteren Vorbereitungen zufallenden Aufgaben ausführte. Auch hier hat Keitel, wie es seiner Dienstauffassung entsprach, nach außenhin seine grundsätzlich ablehnende Einstellung zum Rußlandkrieg nicht bekanntgegeben, nachdem Hitler entschieden hatte.
Dieser Fall ist in verschiedener Hinsicht typisch für Keitel und seine Beurteilung durch andere. Wir wissen – es ist durch die Beweisaufnahme erwiesen –, daß auch andere Generale gegen einen Krieg mit der Sowjetunion waren. Auch ihre Bedenken wurden von Hitler zerstreut oder abgelehnt. Auch diese nahmen die Entscheidung des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht entgegen, taten weiter ihren Dienst und führten die ihnen gegebenen Befehle aus.
Aber ein grundlegender Unterschied bestand: Diese anderen Generale gingen nach der Aussprache zurück in ihr Hauptquartier. Dort sprachen sie im Kreise der Offiziere ihrer Umgebung über die von Hitler getroffene Entscheidung. Man diskutierte sie selbstverständlich, aber man handelte danach.
Da nun Feldmarschall Keitel aus der schon dargelegten militärischen Auffassung heraus seine eigene, auch abweichende Auffassung den Generalen, als sie zur Rücksprache im Führerhauptquartier erschienen, nicht offenbarte, mußte naturgemäß der Eindruck erweckt werden, als sei Feldmarschall Keitel völlig einig mit Hitler und unterstütze die Bedenken der Wehrmachtsteile nicht.
VORSITZENDER: Dr. Nelte! Ich denke, hier könnten Sie aufhören.