[Das Gericht vertagt sich bis
9. Juli 1946, 10.00 Uhr.]
Einhundertvierundsiebzigster Tag.
Dienstag, 9. Juli 1946.
Vormittagssitzung.
OBERST CHARLES W. MAYS, GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Die Angeklagten Heß und Fritzsche sind abwesend.
DER VORSITZENDE, LORD JUSTICE SIR GEOFFREY LAWRENCE: Ich habe eine Anordnung mitzuteilen.
Der Gerichtshof ordnet an:
1. Anträge auf Zeugen für die Organisationen, die vom Gerichtshof gemäß Paragraph 5 der Anordnung des Gerichtshofs vom 13. März 1946 in öffentlicher Sitzung gehört werden sollen, müssen dem Generalsekretär sobald als möglich unterbreitet werden, und zwar spätestens bis zum 20. Juli.
2. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß bereits so viel Beweismaterial entgegengenommen und ein so weites Gebiet behandelt worden ist, daß für jede Organisation nur sehr wenige Zeugen aufgerufen zu werden brauchen.
Das ist alles.
DR. OTTO NELTE, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN KEITEL: Herr Präsident! Meine Herren Richter!
Ich behandelte gestern zuletzt das Problem Keitel und den Rußlandfeldzug. Hier erinnere ich an das, was der Angeklagte Keitel auf dem Zeugenstand zu den sogenannten weltanschaulichen Befehlen gesagt hat:
»Ich kannte ihren Inhalt, ich habe sie, trotz innerer Ablehnung weitergegeben, ohne mich durch die Möglichkeit der schweren Folgen beirren zu lassen.«
Ich wollte das vorausschicken, um das, was ich jetzt zu sagen habe, verständlich zu machen, vor allen Dingen in seiner Ausdehnung.
Es entstand im Laufe der Zeit die Meinung und wurde in der ganzen Armee verbreitet, Feldmarschall Keitel sei ein »Ja-Sager«, ein Werkzeug Hitlers, er verrate die Interessen der Wehrmacht. Daß dieser Mann Tag um Tag bei allen möglichen Problemen im steten Kampf mit Hitler und den Kräften lag, die von allen Seiten auf ihn einwirkten, sahen diese Generale nicht, interessierte sie auch nicht.
Dieses Bild, das, wie hier eingehend dargelegt worden ist, besonders auf dem Gebiete der strategischen Operationen – Planung und Ausführung – auf Keitel durchaus nicht zutraf, wurde ein Zerrbild, das bis in diesen Prozeß seine Wirkung behalten hat. Vielleicht nicht ohne Schuld des Angeklagten Keitel. Über die Berechtigung seiner Dienstauffassung läßt sich grundsätzlich nicht streiten, sie ist hier von dem Admiral Schulte-Mönting auch für den Angeklagten Großadmiral Raeder geltend bestätigt worden. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auch die übrigen Admirale und Generale grundsätzlich denselben Standpunkt vertraten, daß es im militärischen Bereich unmöglich ist, die Entscheidung eines Vorgesetzten, die in einem Befehl Ausdruck findet, vor Untergebenen zu kritisieren, auch wenn man selbst Bedenken gegen den Befehl geltend gemacht hat. Man wird sagen können, daß jedes Prinzip, jeder Grundsatz vernünftig ausgelegt und angewandt werden müsse, daß jede Überspannung eines guten Prinzips seine Entwertung bedeutet. Diese Einwendung rührt im Falle Keitel an das Problem seiner Verantwortung und Schuld überhaupt:
Ist das Nichterkennen des Punktes, an dem ein an sich richtiges Prinzip überspannt wird und dadurch die Güter gefährdet, zu deren Schutz es aufgestellt ist, eine Schuld? Im Falle Keitel müssen wir diesen Kernsatz für den soldatischen Sektor betrachten. Die Gedanken und Vorstellungen, die der Angeklagte Keitel in dieser Beziehung hatte, waren folgende:
Es ist unbestritten, daß für jede Wehrmacht das Prinzip des Gehorsams notwendig ist; man darf sagen, daß der Gehorsam – im zivilen Leben eine Tugend und deshalb in ihrer Anwendung mehr oder weniger labil – das essentielle Element des soldatischen Charakters sein muß, und zwar deshalb, weil ohne diesen Gehorsamsgrundsatz der Zweck, der durch die Wehrmacht erreicht werden soll, nicht erreicht werden könnte.
Dieser Zweck – die Sicherheit des Landes, der Schutz des Volkes, die Erhaltung der höchsten nationalen Güter – ist so heilig, daß man die Bedeutung des Gehorsamsgrundsatzes nicht hoch genug einschätzen kann. Hieraus erwächst für diejenigen, die berufen sind, das nationale Instrument der Wehrmacht im Sinne seiner höheren Aufgabe zu erhalten, die Pflicht, auf die Bedeutung des Gehorsams hinzuweisen. Was der General aber von dem Soldaten verlangt, weil es unerläßlich ist, muß er selbst auch für sich gelten lassen. Es gilt dies auch für den Grundsatz des Gehorsams.
Nun wäre es gefährlich, einen Befehl oder gar einen wesentlichen Grundsatz dadurch zu lockern, daß man etwa von vornherein auf Überspannungen hinweist und sie in Betracht zieht. Eine solche Lockerung würde den Grundsatz der Entscheidung des einzelnen, also seinem Ermessen überlassen. Es kann solche Fälle geben, wenn die Entscheidung von tatsächlichen Gegebenheiten abhängt oder abhängig gemacht werden muß. Im Prinzipiellen würde eine solche Lockerung zur Entwertung, ja zur Aufhebung des Grundsatzes führen. Um dieser Gefahr vorzubeugen und jeden Zweifel an der absoluten Bedeutung auszuschalten, hat man den Grundsatz des Gehorsams im Soldatischen zu einem »unbedingten Gehorsam« ausgestaltet und in den Fahneneid aufgenommen. Auch das gilt für den General wie für den einfachen Soldaten.
Der Angeklagte Keitel ist nicht nur in diesen Gedankengängen aufgewachsen, er war bis 1938 in 37 Jahren seiner militärischen Dienstzeit, darunter im ersten Weltkrieg, zu der Überzeugung gekommen, daß dieser Grundsatz des Gehorsams die stärkste Säule ist, auf der die Wehrmacht und somit die Sicherheit des Landes ruht.
Tief durchdrungen von der Bedeutung seines Berufes hatte er nach diesem Grundsatz dem Kaiser, Ebert und von Hindenburg gedient. Während diese aber als die Repräsentanten des Staates für Keitel gewissermaßen unpersönlich und symbolhaft wirkten, trat ab 1934 Hitler zunächst anscheinend in gleicher Weise ihm gegenüber, das heißt auch ohne persönliche Berührung – trotz der Namensnennung im Fahneneid –, nur als Repräsentant des Staates. 1938 trat Keitel als Chef OKW in unmittelbare Umgebung und in den persönlichen Wirkungskreis Hitlers. Es erscheint für die weitere Entwicklung und für die Beurteilung des Angeklagten Keitel bedeutsam, sich zu vergegenwärtigen, daß Keitel infolge der dargelegten, bei ihm besonders entwickelten soldatischen Pflichtauffassung und bei dem ausgeprägten Gefühl für soldatischen Gehorsam, nunmehr den unmittelbaren Einwirkungen der Persönlichkeit Hitlers ausgesetzt war. Ich neige zu der Annahme, daß Hitler in den Vorbesprechungen mit Keitel, die zu dem Führererlaß vom 4. Februar 1938 führten, klar erkannt hat, daß Keitel eine Persönlichkeit war, wie er sie in seine Berechnung eingesetzt hatte:
Ein Mann, auf den er als Soldat jederzeit rechnen konnte, der ihm in überzeugter soldatischer Treue ergeben war, der die Wehrmacht in seiner Umgebung äußerlich, das heißt zu Repräsentationszwecken würdig vertreten konnte, der auf Grund seiner bisherigen Beurteilung – nach Bericht des Feldmarschalls von Blomberg – eine außerordentliche Arbeitskraft in organisatorischer Beziehung war... Daß Hitler diesen Mann, der ihn ehrlich bewunderte, in der Folge stark beeinflußte und ihn völlig in seinen Bann zog, ist eine Tatsache, die Keitel selbst zugegeben hat.
Man muß sich dies vor Augen halten, wenn man verstehen will, wie es kommen konnte, daß Keitel Befehle Hitlers ausfertigte und weitergab, die mit der traditionellen Auffassung eines deutschen Offiziers unvereinbar waren, wie zum Beispiel die von der sowjetrussischen Anklagebehörde vorgetragenen Befehle C-50, 447-PS und andere.
Hitler hat es verstanden, unter Ausnutzung der bei allen Generalen selbstverständlich vorausgesetzten Einsatzbereitschaft für Deutschland seine parteipolitisch bedingte Zielsetzung mit der Verteidigung nationaler Interessen zu tarnen und den bevorstehenden Kampf mit der Sowjetunion als eine unabwendbare Auseinandersetzung hinzustellen, noch dazu als einen durch positive Nachrichtenangaben aufgezwungenen Verteidigungskrieg, bei dem es sich um Sein oder Nichtsein Deutschlands handelte. Hitler stellte damit die Schicksalsfrage. Daß trotzdem bei Keitel das Gewissen des alten Offiziers schlug, indem er wiederholt, wenn auch ohne Erfolg, gegen die Befehlsentwürfe Einwendungen und Gegenvorstellungen erhob, hat Generaloberst Jodl hier auf dem Zeugenstand bestätigt. Der Angeklagte Keitel hat im Kreuzverhör mit dem Herrn amerikanischen Anklagevertreter offen erklärt, daß er sich des rechtswidrigen Charakters dieser Befehle bewußt gewesen sei, aber geglaubt habe, sich den Anweisungen des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht und im besonderen des Staatsoberhauptes nicht entziehen zu können, dessen letztes Wort gegenüber allen Einwendungen war: »Ich weiß nicht, warum Sie sich Gedanken machen und sich sträuben, Sie haben doch keine Verantwortung. Diese trage ich allein gegenüber dem deutschen Volk.«
Das ist die Analyse für Keitels Verhalten gegenüber den sogenannten weltanschaulich bedingten Befehlen Hitlers.
Keitels letzte und in vielen Fällen begründete Erwartung war, daß die Oberbefehlshaber und nachgeordneten Befehlshaber der Wehrmacht im Rahmen ihres Ermessens und ihrer Verantwortung diese harten, ja unmenschlichen Befehle in der Praxis überhaupt nicht oder maßvoll zur Anwendung bringen würden. Keitel hatte in dieser Stellung nur die Wahl des militärischen Ungehorsams durch Verweigerung der Weitergabe oder der Ausführung der Anweisung, die Befehle weiterzugeben. Ob und was er sonst hätte tun können oder sollen, werde ich in anderem Zusammenhang untersuchen. Hier handelt es sich darum, klarzustellen, wie es dahin gekommen ist, daß Keitel Befehle, die unbestreitbar gegen das Kriegsrecht und gegen die Menschlichkeit verstießen, weitergegeben hat und daß er den Punkt, an dem auch die streng auszulegende Gehorsamspflicht des Soldaten ein Ende finden muß, nicht erkannt hat: auf Grund seiner Gehorsamspflicht, seiner beschworenen Treue zum Obersten Befehlshaber und der Tatsache, daß er in dem Befehl des Staatsoberhauptes eine Freistellung von eigener Verantwortung sah.
Alle Soldaten, die hier als Angeklagte oder als Zeugen aufgetreten sind, haben sich auf die Treuepflicht berufen. Sie alle, auch soweit sie früher oder später zu der Erkenntnis gekommen sind, daß Hitler sie selbst und die Wehrmacht in sein egozentrisches Vabanquespiel hereingezogen hat, haben den Treueid als ihrem Land gegeben angesehen und geglaubt, auch ihre Pflicht unter Umständen weiter erfüllen zu müssen, die uns und ihnen selbst nach Kenntnis des entstandenen Unheils unbegreiflich erscheinen muß. Nicht nur Soldaten wie Raeder, Dönitz und Jodl, auch Paulus haben ihre Stellungen behalten und sind auf ihrem Posten geblieben, auch von anderen Angeklagten haben wir das gleiche gehört. Erschütternd war die Darstellung der Angeklagten Speer und Jodl zu diesem Punkt.
Es wird zu prüfen sein, ob diese Tatsache den Angeklagten Keitel hier von einer strafbaren Verantwortung freistellen wird.
Keitel bestreitet nicht, daß ihn eine schwere moralische Verantwortung trifft. Er hat erkannt, daß, wer in diesem furchtbaren Drama auch eine noch so kleine Rolle gespielt hat, sich nicht von der moralischen Schuld freifühlen kann, in die er verstrickt wurde.
Wenn ich dennoch auf rechtliche Gesichtspunkte hinweise, so geschieht dies, weil Justice Jackson in seiner Anklagerede sich ausdrücklich auf das Recht als Grundlage Ihres Urteilsspruches berufen hat – das Völkerrecht, das Recht der Einzelstaaten und das Recht, das die Siegermächte in dem Statut gesetzt haben.
Ich unterstelle hierbei, daß der Angeklagte Keitel erkannt hat, daß Befehle Hitlers gegen das Völkerrecht verstießen. Das Statut hat bestimmt, daß ein Soldat sich nicht auf einen Befehl eines Vorgesetzten oder einer Regierung zu seiner Freistellung berufen kann. Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen gebeten nachzuprüfen, ob unabhängig von den Bestimmungen des Statuts der Grundsatz unantastbar ist, daß der Maßstab für das, was Recht oder Unrecht ist, nur national bedingt sein kann.
VORSITZENDER: Herr Dr. Nelte! Ich sehe, daß Sie auf den nächsten Seiten auf das Gebiet der Metaphysik übergehen. Glauben Sie nicht, daß Sie es dem Gerichtshof überlassen können, das allein zu lesen?
Sie müssen bedenken, daß Sie Ihre Rede bereits gestern vor der Vormittagspause begonnen und noch 70 Seiten Ihrer Rede zu verlesen haben.
DR. NELTE: Ich habe sie beschränkt und werde bis zum Mittag fertig sein.
VORSITZENDER: Gut. Glauben Sie, daß es nötig ist, diese Seiten über Metaphysik vorzulesen?
DR. NELTE: Ich will mit diesen Seiten darlegen, daß es eben nicht metaphysische Kräfte sind und daß der einzelne sich nicht durch metaphysische Kräfte freistellen kann. Ich werde auf Seite 121 wieder beginnen, nachdem ich mich gerade vorher auf das Charakterbild Hitlers bezogen habe. Ich darf vielleicht gerade von der Seite 120 unten noch sagen...
VORSITZENDER: Gut, wenn Sie dem Gerichtshof erklären, daß Sie Ihre Rede gekürzt haben – ich glaube, Sie begannen gestern um 12.15 Uhr –, fahren Sie fort, wie Sie es für richtig erachten, aber beschränken Sie sich soweit wie möglich, und wenden Sie sich jetzt Seite 120 zu.
DR. NELTE: Der französische Herr Anklagevertreter de Menthon hat auf das »dämonische« Unternehmen Hitlers hingewiesen und damit ein Wort ausgesprochen, das zwangsläufig in einer Erörterung fallen mußte, die der Nachprüfung von Geschehnissen gewidmet ist, die Hintergrund dieses Prozesses sind. Es ist das natürliche Bestreben denkender Menschen, die letzten Gründe aufzuklären für Ereignisse, die das Schicksal der Menschen dieser Tage tief berührt haben. Wenn diese Ereignisse von dem normalen Geschehen und dem natürlichen Ablauf der Dinge soweit abweichen, daß sie über unser Vorstellungsvermögen herausgehen, so nehmen wir unsere Zuflucht zu übersinnlichen Kräften. Ich bitte, den Hinweis auf solche metaphysischen Kräfte nicht als den Versuch einer Flucht aus der Verantwortung aufzufassen. Wir alle stehen noch unter dem Eindruck des Versuchs eines Mannes, die Welt aus den Angeln zu heben. Ich möchte nicht mißverstanden werden: »Das Dämonische« ist eine unfaßbare, aber doch äußerst reale Macht. Viele nennen es »Schicksal«. Wenn ich von schicksalsmäßigen, metaphysischen Kräften spreche, so meine ich nicht das Schicksal der Antike und des vorchristlichen Germanentums, dem selbst die Götter zwingend ausgeliefert sind.
Ich möchte ganz klar machen: Das Dämonische, von dem ich in diesem Zusammenhang spreche, schaltet nicht die innere Freiheit des Menschen aus, das Böse zu erkennen; allerdings glaube ich, daß das Dämonische, wenn es wirksam werden kann, die Erkenntnisfähigkeit beeinträchtigt. Principiis obsta. Im Germanentum heißt es: »Den Anfängen sollst du begegnen, zu spät wird bereitet der Heiltrunk.«
Schicksal und Schuld sind nicht Pole, deren Wirkung sich gegenseitig ausschließt, es sind vielmehr Kreise, die sich überschneiden, so daß es Lebensbezirke gibt, in denen die beiden Kräftegruppen wirksam sind. Es kann hier nur mit kurzen Worten angedeutet werden, welche Kräfte individuell als schicksalsmäßig anzusehen sind: die Volkszugehörigkeit, ihre historischen und traditionellen Gegebenheiten, die individuelle Abstammung, das Milieu des Berufs.
Die jetzige Menschheit kann den Unterschied zwischen den schicksalsmäßigen als metaphysischen Kräften, die wirksam geworden sind, und den Personen, die vielleicht als Werkzeug dieser Kräfte in Erscheinung getreten sind, noch nicht erkennen. Deshalb sind für sie die Menschen, die als handelnde Akteure auf der Bühne dieses furchtbaren Dramas auftraten, »Schuldige«. Je weiter sich die Menschheit von den Geschehnissen entfernt, je weniger sie die folgen sieht oder fühlt, um so mehr wird die Beurteilung – der Aktualität und den subjektiven Trieben entkleidet – im Rahmen der Entwicklungsgeschichte der Menschheit objektiviert. Damit werden die tragenden Gestalten und ihr Anteil an dem Geschehen richtiger erkannt. Solange wir aber noch unter dem frischen Eindruck der Geschehnisse stehen, fühlen wir zwar die Grenzscheide zwischen »Schuld« und »Schicksal«, aber wir können sie noch nicht klar erkennen.
Kein Geringerer als Marschall Stalin hat im Februar 1946 darauf hingewiesen, daß dieser zweite Weltkrieg nicht so sehr das Ergebnis von Fehlern einzelner Staatsmänner als vielmehr die Folge der Entwicklung wirtschaftlicher und politischer Spannungen auf der Grundlage des bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystems gewesen sei.
Ich beginne auf Seite 120 mit Absatz 3:
Hitler war Exponent einer Idee. Er war nicht nur der Vertreter eines parteipolitischen Programms, sondern einer Weltanschauung, die ihn und das deutsche Volk von der Ideologie der übrigen Welt trennte. Überzeugter Feind der parlamentarischen Demokratie, besessen von der Richtigkeit seiner Weltanschauung, war ihm jede Toleranz, jeder Kompromiß fremd. Dies führte zu einer egozentrischen Weltanschauung, die nur seine eigene Idee und seinen eigenen Entschluß als richtig anerkannte. Sie führte zum »Führerstaat«, in welchem er als die Inkarnation dieses Glaubens auf einsamer Höhe thronte, unnahbar für alle Bedenken und Einwände, mißtrauisch gegenüber allen, von denen er annahm, daß sie seiner Macht gefährlich werden konnten, und brutal, wenn etwas seinen weltanschaulichen Weg kreuzte.
Dieses, durch die Beweisaufnahme belegte Charakterbild steht in unvereinbarem Widerspruch zu der Annahme der Anklagebehörde, daß zwischen Hitler und dem Angeklagten eine Gemeinschaft bestanden haben könnte. Es gab zwischen Hitler und den Männern, die seine Berater hätten sein sollen, keine Gemeinschaft und kein gemeinsames Planen. Die Hierarchie des Führerstaates in Verbindung mit dem Führerbefehl Nummer 1, der die Arbeitstrennung in ihrer krassesten Form zum Ausdruck bringt, läßt nur den Schluß zu, daß die sogenannten Mitarbeiter lediglich ausführende Organe oder Werkzeuge eines übermächtigen Willens waren, nicht aber Menschen, die einen eigenen Willen in die Tat umsetzten. Es kann daher nur die Frage aufgeworfen werden, ob diese Menschen sich damit schuldig machten, daß sie sich einem solchen System zur Verfügung stellten und sich dem Machtwillen eines Menschen wie Hitler beugten.
Dieses Problem bedarf für die Soldaten einer besonderen Prüfung; denn »dieses sich beugen unter einen Willen«, das dem freien Menschen fernliegt, ist bei dem Soldaten das grundlegende Element seines Berufes: des Gehorsams und der Treuepflicht, die für den Soldaten in allen politischen Systemen besteht.
Das Rechtsproblem der Conspiracy im Sinne der Anklage ist von Herrn Kollegen Dr. Stahmer und auch von Herrn Dr. Horn behandelt. Ich möchte nur für den speziellen Fall des Angeklagten Keitel auf zwei Sätze des Vortrags als Ausgangspunkt meiner Ausführungen hinweisen:
1. Es genügt nicht, daß der Plan ihnen allen gemein ist, sie müssen Kenntnis haben von dieser Gemeinsamkeit und jeder muß den Plan freiwillig als den seinigen akzeptieren.
2. Darum ist eine Verschwörung mit einem Diktator an der Spitze ein Widerspruch in sich selbst. Der Diktator verschwört sich nicht mit seinen Gefolgsleuten, er schließt kein Agreement mit ihnen, er diktiert.
Dr. Stahmer hat darauf hingewiesen, daß der unter oder auf Druck Handelnde deshalb kein Konspirant sein könnte. Ich möchte dies für den Bereich, dem der Angeklagte Keitel angehört hat, modifizieren. Es würde den wirklichen Sachverhalt nicht zutreffend wiedergeben, wenn man sagen wollte, die dem militärischen Sektor angehörenden Angeklagten hätten auf Druck oder unter Druck gehandelt. Richtig ist es zu sagen, Soldaten handeln nicht freiwillig, das heißt aus freiem Willen. Sie müssen tun, was ihnen befohlen wird, ohne daß es darauf ankommt, ob sie es billigen oder nicht. Danach ist bei dem, was Soldaten tun, ihre Willensbildung oder jedenfalls die Berücksichtigung einer Willensbildung ausgeschaltet; sie wird nach der Natur militärischer Berufsausübung stets und überall ausgeschaltet sein und kann bei Anwendung des absoluten Führerprinzips in der Wehrmacht als kausaler Faktor der Befehlsentstehung und Befehlsausführung nicht in Erscheinung treten. Es handelt sich in diesem militärischen Bereich also nicht um eine begriffliche und damit theoretische Deduktion, sondern um eine sich aus dem Wesen und aus der Praxis der militärischen Betätigung ergebende zwingende Schlußfolgerung, wenn ich sage:
Die Tätigkeit des Angeklagten Keitel beruhte auf der militärischen Befehlsgrundlage.
Die Tätigkeit des Angeklagten Keitel in Bezug auf die Entstehung der Befehle, Anordnungen und sonstigen Maßnahmen Hitlers, auch soweit diese verbrecherisch sind, kann deshalb nicht als Gemeinschaftsarbeit, das heißt als Ergebnis einer gemeinsamen Planung im Sinne der Conspiracy angesehen werden. Die Tätigkeit Keitels in Bezug auf die Verwirklichung der Befehle ist im Kriegführungssektor befehlsmäßige Weiterleitung, in der Kriegsverwaltung, das heißt im sogenannten ministeriellen Sektor, befehlsmäßige Durchführungstätigkeit.
Wie auch immer diese Tätigkeit an sich strafrechtlich zu qualifizieren ist, es ist, wie ich glaube, von der Anklagebehörde bisher nichts vorgetragen worden, was diese Überlegung hinsichtlich der Conspiracy widerlegen könnte.
Dieses Prinzip ist soldatisch und gilt überall dort, wo das militärische Befehlssystem gilt. Die Bedeutung dieser Feststellung ist besonders im Fall des Angeklagten Keitel wichtig. Man könnte nämlich einer solchen Beweisführung entgegenhalten, daß der Angeklagte Keitel nicht als Soldat oder jedenfalls nicht als Nur-Soldat tätig gewesen ist, und daß demgemäß die aus dem reinen Befehlssystem sich ergebenden Folgerungen nicht von ihm in Anspruch genommen werden können. Die unglückliche Struktur der Stellung und die vielfältigen, wenn auch nicht immer systematisch erfaßbaren Aufgaben des Chefs OKW trüben die Erkenntnis der primären, für den Angeklagten Keitel geltenden Feststellungen, nämlich: was Keitel auch immer tat, mit welcher Dienststelle oder Organisation er auch immer verhandelte oder in Berührung kam, immer war es seine Funktion als Soldat, war es der allgemein geltende oder speziell ausgesprochene Befehl Hitlers, der ihn in Erscheinung treten und tätig werden ließ.
Es scheint mir, daß der Tatbestand der Conspiracy begrifflich und logisch mit den Aufgaben eines Soldaten und der Stellung Keitels als Chef OKW unvereinbar ist.
In allen Fällen, die in den Ausführungen der Anklagebehörde über Conspiracy als Präjudiz erwähnt sind, handelt es sich bei dem Zweck der Conspiracy um eine Tätigkeit, die die Mitglieder der Verschwörung übernehmen, um Handlungen zu begehen, die von ihrer normalen privaten Tätigkeit abweichen. Daraus ergibt sich e contrario, daß wenn jemand eine Tätigkeit ausübt, die er kraft seines Berufs, seiner Dienststellung ausüben muß, diese Tätigkeit keine Verschwörertätigkeit sein kann. Bei einem Soldaten kommt hinzu, daß er nicht frei handelt, sondern auf Befehl. Ein Soldat kann also wohl einer Verschwörung angehören, die sich gegen seine Pflichten richtet, die er als Soldat übernommen hat, niemals aber kann man seine Tätigkeit im Rahmen seiner soldatischen Funktion als eine Verschwörertätigkeit bezeichnen.
Die Führung des Krieges im Osten berührte das OKW einschließlich des Wehrmachtführungsstabes verhältnismäßig wenig. Wenn ich hier OKW sage, meine ich den Stab OKW. Daß Hitler selbst als OKW, das heißt als Oberkommandierender der Wehrmacht sich mit allen Dingen der Führung dieses, seines weltanschaulichen Krieges befaßte und darin eingriff, ist bekannt. Das Heer führte Hitler, stand aber laufend in enger Zusammenarbeit mit dem Oberbefehlshaber des Heeres und seinem Generalstabschef, bis er nach seiner Übernahme des Oberbefehls über das Heer im Dezember 1941 auch die unmittelbare Führung übernahm.
Aus dieser Personalunion des Oberkommandierenden der Wehrmacht mit dem Oberbefehlshaber des Heeres sind offenbar die vielen Irrtümer entstanden, die zu einer schweren Belastung des OKW als Stab OKW und seines Stabschefs Keitel geführt haben.
Keitel fühlt sich durch das, was er auf dem Zeugenstand zu dem ganzen Komplex des Rußlandkrieges offen ausgesagt hat, schwer genug belastet. Es ist daher nicht nur verständlich, sondern auch Pflicht der Verteidigung, in diesem Gesamttatbestand schrecklichster Greuel und unvorstellbarer Entartung die Verantwortlichkeit Keitels klarzustellen.
Zur Erleichterung des Verständnisses der oft nicht einfachen Zuständigkeiten nehme ich Bezug auf das dem Tribunal überreichte Affidavit Keitel Nummer K-10. Als wesentlich erscheint mir nur, darauf hinzuweisen, daß der Krieg gegen die Sowjetunion von Anfang an unter drei Wirkungsfaktoren lag:
1. operativ und befehlsführend: OKH,
2. wirtschaftlich: Vierjahresplan,
3. weltanschaulich: SS-Organisationen.
Das OKW (Keitel) hatte auf diese drei Faktoren keinen zuständigkeitsgemäßen Einfluß und keine Befehlsgewalt. Daß nichtsdestoweniger bei der früher schon erwähnten, geradezu anarchischen Arbeitsweise Hitlers, in dessen Person letzten Endes alle Fäden zusammenliefen, das OKW und Keitel auch hie und da zur Weitergabe von Weisungen Hitlers benutzt wurden, kann nicht bestritten werden, ist aber auch nicht geeignet, die grundsätzliche Verantwortung zu ändern. Bei dem sehr großen Umfang des Materials, das die Sowjetrussische Anklagebehörde vorgelegt hat, kann ich im Rahmen dieses Vortrags nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Dokumente behandeln und werde die auf Seite 126 bis 133 einzeln behandelten und belegten Dokumente wie folgt kurz zusammenfassen:
Ich habe zunächst auf die Einzeldokumente USSR- 90, 386, 364, 366, 106 und 407 hingewiesen und im einzelnen nachzuweisen versucht, daß die Anklagen gegen OKW und Keitel als Schuldige in diesen Dokumenten keine Beweiskraft finden kann. Ich habe dann auf Seite 130 auf eine Kategorie von Beweisdokumenten verwiesen, mit denen ich mich schon früher im Teil 2 meines Vortrags über die amtlichen Dokumente befaßt habe. Wenn ich in diesem Zusammenhang über die amtlichen Berichte der Untersuchungskommission spreche, so geschieht dies nicht wegen ihres sachlichen Inhalts, sondern weil sie zur Belastung Keitels vorgelegt sind, tatsächlich aber aus sich den Nachweis erbringen, daß die Beschuldigungen Keitels und des OKW als Stab in diesen schwerwiegenden Anklagetatbeständen nicht begründet sind. Aus der großen Anzahl der hierauf bezüglichen Urkunden habe ich behandelt USSR-40, 35 und 38. Es fehlt in diesen amtlichen Berichten, die das Oberkommando der Wehrmacht belasten, jede konkrete Angabe, die auf den Stab OKW und Keitel als Täter oder Urheber der Verbrechen hinweisen. Ich nehme zu dem sachlichen Inhalt der Urkunden keine Stellung, es wird lediglich darauf hingewiesen, daß Keitel in seiner Dienststellung weder die Befugnis noch die Möglichkeit hatte, Befehle zu erteilen, die zu den festgestellten Verbrechen geführt haben.
Ich will zunächst die Dokumente USSR-90, 386, 364, 366, 106, 407 behandeln, die von der Anklagebehörde ausdrücklich zum Beweis für die Verantwortlichkeit Keitels vorgelegt worden sind.
Es wird sich zeigen, daß es sich in keinem einzigen Fall um Befehle, Anweisungen und Richtlinien des OKW (Keitel) handelt, daß dieses aber auch nicht einmal nachweislich nachrichtlich unterrichtet wurde.
1. Das Dokument USSR-90 ist ein Kriegsgerichtsurteil gegen die deutschen Generale Bernhard und Hamann und enthält folgenden Satz:
»Während der zeitweiligen Besetzung des Orlover-Gebietes... haben die deutsch-faschistischen Eindringlinge auf direkte Anweisung der räuberischen Hitler-Regierung und des deutschen Wehrmachtskommandos die durch das Internationale Recht festgesetzten Regeln der Kriegführung verletzenden massenhaften bestialischen Gewalttaten an der friedlichen Bevölkerung und an Kriegsgefangenen verübt...«
In der Begründung des Urteils befindet sich kein Beweis für die Feststellung, daß das »Deutsche Wehrmachtskommando«, wenn damit OKW und der Angeklagte Keitel gemeint sein sollten, Befehle zu den Verbrechen gegeben hat, die in dem kriegsgerichtlichen Urteil behandelt werden. Es ist wiederum eine der häufigen Verwechslungen und die irrige Gleichstellung des Oberkommandos des Heeres mit dem Oberkommando der Wehrmacht. Das scheint sich aus den Ausführungen auf Seite 2 des Urteils zu ergeben, wo es heißt:
»Der Angeklagte Generalleutnant Bernhard... haben nach Plänen und Anweisungen des Ob.d.H. gehan delt...«
Dieses Dokument kann daher nicht Anspruch auf Beweiskraft für die Behauptung der Anklage erheben, daß der Angeklagte Keitel in einer Beziehung zu dem Verbrechen steht, das den Gegenstand des Dokuments USSR-90 bildet.
2. Zur Belastung Keitels mit dem Tatbestand »Zwangsarbeit« hat die Anklagebehörde das Dokument USSR-36 vorgelegt, einen Brief des Reichsmarschalls Göring, der für diesen sachlichen Bereich – Unternehmen Barbarossa-Oldenburg – die allgemeine Vollmacht Hitlers im Rahmen des Vierjahresplanes hatte, wie aus der »Grünen Mappe« hervorgeht.
3. Auch das Protokoll über die Besprechung des Wirtschaftsstabes-Ost vom 7. November 1941 (USSR-386) berührt die Zuständigkeit und Verantwortung des OKW nicht; denn der Wirtschaftsstab- Ost hatte mit dem OKW und dem Angeklagten Keitel nichts zu tun. Auch dies ergibt sich aus der »Grünen Mappe«, aus dem Thomas-Dokument 2353-PS und aus dem Affidavit Keitel, Dokumentenbuch 2, Exhibit K-11.
Die Schlußfolgerung der Sowjetrussischen Anklagebehörde
»Die Rolle des Befehlshabers OKW ist erwiesen als Hauptverantwortlicher für die Mobilisation der Arbeitskräfte für das Reich«,
ist damit irrig, wenn damit eine Verantwortung des Angeklagten Keitel behauptet werden soll. Sollte dagegen mit dem Befehlshaber Hitler gemeint sein, so kann dem nicht widersprochen werden.
4. Das Dokument USSR-364 ist eine Urkunde des OKH und unterzeichnet von dem Generalquartiermeister des Heeres Wagner. Aus dem Verteiler zu dieser Urkunde ergibt sich, daß das OKW nicht einmal nachrichtlich unterrichtet wurde.
5. In dem vorgelegten Dokument USSR-366 ist der Name des Angeklagten erwähnt, daß er sich darüber beschwert habe:
»daß die OT-Einheiten in der Umgebung von Lemberg an ortsansässige Arbeiter einen Tageslohn von 25 Rubel auszahlten und daß die OT einheimische Fabriken in Anspruch nähmen«.
Die Anklagebehörde hat ausgeführt: »Keitel schreibt an Minister Todt...« Aus der vorgelegten Urkunde ist dies nicht zu entnehmen, denn die Urkunde enthält keine Bezugnahme auf ein solches Schreiben. Beim OKW gab es keine sachbearbeitende Stelle für diesen Fragenkomplex, nachdem die gesamte Wirtschaftsführung und die Ausnützung der Ostgebiete dem Vierjahresplan übertragen worden waren. Dies ergibt sich aus der eben erwähnten »Grünen Mappe«: aus dem Führerbefehl zum Plan Barbarossa-Oldenburg.
Es besteht die Möglichkeit, daß Keitel, nachdem die zugrunde liegende Frage bei der Lagebesprechung erörtert worden war, wieder einmal von Hitler den Befehl erhielt, sich mit dem Reichsminister Todt in Verbindung zu setzen. Es war das einer der Fälle, in welchem der Angeklagte lediglich dazu benutzt wurde, einen Befehl Hitlers der zuständigen Stelle zu übermitteln, ohne daß es sich um ein Sachgebiet des OKW handelte.
Im übrigen ist aus der in der Urkunde enthaltenen Mitteilung nicht zu ersehen, inwieweit diese eine Belastung Keitels für diesen Fragenkomplex sein soll.
6. Die Urkunde USSR-106 ist ein Führerbefehl vom 8. September 1942 und betrifft den Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen und die Durchführung von Stellungsarbeiten hinter der Front.
Der Kopf dieses Führerbefehls lautet: »›Der Führer‹ OKH. Gen. Stab des Heeres – op. Abt. I«.
Der Befehl ist von dem Generalstab des Heeres gezeichnet und von Halder herausgegeben. Es ergibt sich also eindeutig, daß der Angeklagte Keitel oder das OKW nicht beteiligt sind.
7. Ebensowenig kann das Dokument USSR-407 zum Beweis für eine Beteiligung des Angeklagten herangezogen werden. Es handelt sich in diesem Dokument um den Befehl eines Ortskommandanten, der sich darin auf angebliche OKW-Bestimmungen bezieht.
Es ist schon mehrfach betont, daß OKW nicht Keitel bedeutet. Es ist aber auch, da in der Urkunde USSR-407 ein Datum der angeblichen OKW-Bestimmung nicht erwähnt ist, leicht möglich, daß hier eine der zahlreichen Verwechslungen vorliegt, zumal selbst in Wehrmachtskreisen die exakte Begriffsbestimmung OKW nicht bekannt war.
Jedenfalls ist die abschließende Feststellung der Sowjetrussischen Anklagebehörde nach Vorlage dieser Urkunde;
»OKW und Keitel haben nicht nur die Mobilisierung der Arbeitskräfte aus dem besetzten Rußland angeordnet, sondern unmittelbar an der Durchführung gearbeitet«
nicht richtig, auch nicht bewiesen.
Nun gibt es noch eine Kategorie von Beweisdokumenten, die amtlichen Mitteilungen der außerordentlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich habe schon früher die Bedeutung der amtlichen Dokumente in der Beweisführung behandelt und auf den begrenzten Beweiswert hingewiesen.
Wenn ich in diesem Zusammenhang über die amtlichen Berichte der Untersuchungskommission spreche, so geschieht dies, weil sie zur Belastung Keitels vorgelegt sind, tatsächlich aber aus sich den Nachweis erbringen, daß die Beschuldigung Keitels und des OKW (Stab) in diesen sehr schwerwiegenden Anklagetatbeständen nicht begründet ist.
Aus der großen Anzahl der hierauf bezüglichen Dokumente nehme ich auf folgende Bezug:
Das Dokument USSR-4 ist zum Beweis dafür vorgelegt worden, daß die sowjetrussische Bevölkerung durch absichtliche Ansteckung mit Flecktyphus ausgerottet wurde und daß es sich um eine planmäßige Ausbreitung von Typhusepidemien unter der Sowjetbevölkerung gehandelt hat.
Hierfür werden als Schuldige (Seite 10 des Dokuments) unter anderem bezeichnet: »Die Hitler-Regierung und das Oberste Kommando der Wehrmacht.«
Auch hier ist wiederum aus der Urkunde selbst nicht zu erkennen, auf welche konkreten Tatsachen die Kommission die Schuld des »Obersten Kommandos der Deutschen Wehrmacht« stützt und welche militärische Dienststelle mit den Worten »Oberstes Kommando der Deutschen Wehrmacht« gemeint ist. Auf keiner Stelle dieses langen Dokuments werden Befehle des »Obersten Kommandos der Deutschen Wehrmacht« erwähnt. Da aber die Anklagebehörde diese Urkunde zum Nachweis einer Schuld des Angeklagten Keitel und des OKW vorgelegt hat, stelle ich fest, daß dieses Dokument nicht als Beweismittel für den Angeklagten Keitel in diesem furchtbaren Tatbestand gelten kann.
Das Dokument USSR-9 trägt die Überschrift:
»Mitteilung der Außerordentlichen staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung der Schandtaten der faschistischen deutschen Eindringlinge und des Schadens, den sie Bürgern, Kollektivwirtschaften, gesellschaftlichen Organisationen, Staatsbetrieben und Institutionen der Sowjetunion zugefügt haben.
Über die Zerstörung und Bestialitäten, die die faschistischen deutschen Eindringlinge in Kiew begangen haben.«
Auf Seite 4 heißt es:
»Auf Befehl des deutschen Oberkommandos plünderten, sprengten und zerstörten deutsche Heeresabteilungen das alte Kulturdenkmal, die Lavra von Kiew.«
Als verantwortlich werden bezeichnet: »Die Deutsche Regierung und das deutsche Oberkommando und alle namentlich aufgeführten Offiziere und Beamten.«
Aus dem Vortrag des Anklagevertreters und auch aus der Zusammenstellung: »Die Deutsche Regierung und das deutsche Oberkommando« ergibt sich, daß das Oberkommando der Wehrmacht und Keitel als verantwortlich beschuldigt werden sollen.
Es fehlt jede tatsächliche Angabe in dieser Urkunde, worauf die Untersuchungskommission dieses Urteil stützt.
Es ergibt sich auch hier, daß das Urteil der Untersuchungskommission – jedenfalls bezüglich des Angeklagten Keitel – sachlich nicht begründet ist.
Das Dokument USSR-35 ist ein Bericht über den Materialschaden, den die faschistischen deutschen Eindringlinge Staatsbetrieben und Institutionen, Kollektivwirtschaften und Bürgern der Sowjetunion zufügten.
Es heißt in diesem Dokument:
»Die deutschen Armeen und Besatzungsbehörden, die die Direktiven der verbrecherischen Hitler-Regierung und des Oberkommandos der Wehrmacht durchführten, zerstörten und plünderten die von ihnen besetzten Sowjetstädte...«
Hierzu ist zu sagen:
1. Der Inhalt dieses Dokuments enthält keine einzige konkrete »Direktive« des OKW oder Keitels.
2. Das OKW (Keitel) hatte keine Befehlsgewalt, konnte also auch keine Direktiven geben.
3. Deshalb kann das Urteil der Staatlichen Untersuchungskommission, das aus formellen Gründen für das Tribunal nicht bindend wäre, auch nicht als gerechtfertigt angesehen werden, soweit das OKW und Keitel in Betracht kommen.
4. Damit wird zu dem sonstigen Inhalt der Berichte keine Stellung genommen.
Das Dokument USSR-38 ist bezeichnet:
»Mitteilung der Außerordentlichen staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung der Schandtaten der faschistisch-deutschen Eindringlinge und ihrer Helfershelfer. Über die Schandtaten der faschistisch- deutschen Eindringlinge in der Stadt Minsk.«
In diesem Dokument heißt es auf Seite 1:
»Instruktionen befolgend, die direkt von der Deutschen Regierung herausgegeben wurden, zerstörten die hitlerischen Militärbehörden schonungslos wissenschaftliche Forschungs-Institute usw.... sie rotteten Tausende von sowjetischen friedliebenden Bürgern und auch Kriegsgefangene aus.«
Auf Seite 13 wird gesagt:
»Verantwortlich für die von den Deutschen in Minsk begangenen Verbrechen... ist die Hitler-Regierung und das Oberkommando der Wehrmacht.«
An keiner Stelle dieses Dokuments sind konkrete, nachprüfbare Instruktionen oder Befehle des Angeklagten Keitel oder des OKW angeführt.
Seite 134, Absatz 1: In den bisher angeführten Dokumenten ist Keitel oder das OKW wenigstens als verantwortlich genannt. Es gibt aber auch viele solcher amtlichen Berichte, die im Vortrag der Anklagebehörde als Beweis für das Verschulden Keitels angeführt worden sind, in denen nicht einmal der Name des Angeklagten oder das OKW erwähnt sind.
Ich verweise diesbezüglich auf die Dokumente: USSR-8, 39, 45, 46 und 63. Ich kann das Tribunal nur bitten, auch die übrigen Dokumente daraufhin zu prüfen, ob sie im Zusammenhang mit Keitel und OKW vorgelegt, eine Schlußfolgerung zulassen auf seine Schuld oder ob dies, wie Ihnen vorgelegt, in den besprochenen Dokumenten nicht der Fall ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch sagen, daß ich die Bemerkungen von Seite 134 unten an (USSR-3) nicht verlese und nicht darauf Bezug nehme. Ich bitte, nun die Ausführungen über die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Gebiete, Seite 137 bis 142, entgegenzunehmen, ohne daß ich sie vortrage. Nachdem die Verteidigung des Reichsmarschalls Göring dieses Problem schon behandelte und die Zuständigkeit und Verantwortung klargestellt hat, würde es im wesentlichen eine Wiederholung sein, wenn ich auch darüber sprechen wollte. Ich nehme aber auf den Inhalt meiner Ausführungen Bezug und bitte auch Sie, davon Kenntnis zu nehmen.
Im Kriege gegen Polen, ebenso wie später im Westen (auf Grund der Erfahrungen in Polen noch erweitert), wurden den Heeresgruppen und Armeeoberkommandos wehrwirtschaftlich vorgebildete Fachkräfte aus der Wehrmachtswirtschaft in Form kleiner Stäbe und Kommandos zugewiesen, als Fachberater und Helfer in allen wehrwirtschaftlichen Fragen, die sich bei der Eroberung und Besetzung wirtschaftlich industriell wertvoller Gebiete ergaben.
Die Organisation dieser Fachgruppen und der technischen Kommandos bereitete das Wirtschafts-Rüstungsamt organisatorisch zusammen mit OKW vor.
Im großen bestand sie aus:
a) Fachberatern bei den Truppenstäben (zuerst Verbindungsoffizier des OKH-Wirtschafts-Rüstungsamts genannt),
b) Erkundungsstäbe für kriegswirtschaftlich wichtige Betriebe und Rohstoffe,
c) technische Kommandos und Formationen für Sicherung und Instandsetzung und Schutz von Zerstörungen der kriegs- und lebenswichtigen Betriebe und Versorgungseinrichtungen.
Diese Organisationen wurden deshalb vom OKW (Wirtschafts-Rüstungsamt) vorbereitet, weil sie sich auf fachkundiges Personal aus allen drei Wehrmachtsteilen und der zivilen Wirtschaft, sowie der »technischen Nothilfe« stützte. Die Aufstellung selbst vollzog das Heer.
Die Organisation wurde den befehlsführenden Truppenbefehlshabern unterstellt. Der Einsatz erfolgte ausschließlich nach den Befehlen der Truppenführung, wofür die Fachberater bei den Truppenstäben die Vorschläge jeweils unterbreiteten (dem Generalstab Ib oder Oberquartiermeister).
Die Aufgaben dieser technischen Kommandos waren:
a) Beratung der Führung über die Wichtigkeit und Bedeutung von industriellen Betrieben und Versorgungsbetrieben (Kraft, Wasser, elektrischer Strom. Reparaturbetriebe, Bergwerke und so weiter),
b) Sicherung dieser Einrichtung vor Zerstörung durch Feind und eigene Truppe und Bevölkerung,
c) Nutzbarmachung für die Zwecke der eigenen Kriegführung, für die eigene Truppe und Bevölkerung,
d) Erkundung der kriegs- und lebenswichtigen Betriebe und Ermittlung ihrer Leistungsfähigkeit für eigene Nutzbarmachung,
e) Feststellung der Rohstoffvorräte an Metallen, Erzen, Kohlen, Treibstoffen et cetera für die Wiederinbetriebnahme oder zur eigenen Verwertung für die eigene Kriegführung.
Bis auf die unter d) und e) genannten Aufgaben dienten alle sonstigen Funktionen lediglich der Versorgung der kämpfenden Truppe, der Besatzungstruppe und der ansässigen Bevölkerung.
Die statistischen Erhebungen d) und e) wurden auf dem Truppendienstwege an die zuständigen Stellen der Heimat (Generalbevollmächtigter für die Wirtschaft, Vierjahresplan, Rüstungsminister) berichtet, die über die Verwertung und Nutzbarmachung zu verfügen hatten. Die Wehrmacht selbst hatte kein selbständiges Zugriffsrecht.
Es trifft zu, daß (nach Buch Thomas 2353-PS) Rohstoffe und auch Maschinen für Kriegsgerätefertigung nach Deutschland abtransportiert worden sind, wie die Anklagebehörde vorbringt, da beide der feindlichen Kriegführung gedient hatten und die Fertigung hatten einstellen müssen.
Den Abtransport nach Deutschland hatte eine militärische Dienststelle nicht zu befehlen, weil sie gar kein Verfügungsrecht über »Beute« dieser Art hatte. Ganz allein die genannten drei Obersten Reichsbehörden konnten auf Grund einer allgemeinen Führerermächtigung oder eines speziellen Befehls Hitlers an den Obersten Befehlshaber des Heeres den Abtransport veranlassen. Das OKW und Chef OKW ebenso wie Wirtschafts-Rüstungsamt hatten außerhalb des eigenen Bereichs kein Verfügungs- und Befehlsrecht, ebensowenig bestand ein eigener Befehlsweg des OKW-Wirtschafts-Rüstungsamts zu diesen Kommandos und so weiter.
Der Melde- und Berichtsweg ging über die Truppenstäbe an OKH-Generalquartiermeister, bei dem im Verwaltungsstabe die Obersten Reichsbehörden (Ernährungs-, Wirtschafts-, Rüstungs-Ministerium, Vierjahresplan) Vertreter hatten und ihren Ressortchefs berichteten.
Befehle des Angeklagten Keitel als Chef OKW über Ausnützung, Verwertung oder Beschlagnahme von Wirtschaftsgütern sind nicht gegeben worden; das geht aus Dokument 2353-PS hervor.
Durch den Führererlaß vom 16. Juni 1940 wurde dann die einheitliche Führung der gesamten Kriegswirtschaft in Frankreich und Belgien auf Reichsmarschall Göring als Beauftragten des Vierjahresplanes übertragen.
Für die Beurteilung der Verantwortlichkeit ist von Bedeutung, daß der Stab des Wirtschafts-Rüstungsamtes die Probleme, die die Rüstungswirtschaft und Ausnutzung der Wirtschaft in den besetzten Gebieten betrafen, geprüft hat. Die rechtlichen Gesichtspunkte, die hierfür als maßgebend angesehen wurden, sind in dem Dokument EC-344 zusammengestellt, und zwar vom Amt Ausland im OKW(Amtschef Admiral Canaris). Unter Bezugnahme auf die Artikel 52, 53, 54 und 56 des Haager Landkriegs-Abkommens ist mit Berufung auf die totale Kriegführung ausgeführt, daß die »wirtschaftliche Aufrüstung« als zur »Kriegsunternehmung« gehörend anzusehen sei und demgemäß alle industriellen Vorräte an Rohstoffen, Halb- und Fertigfabrikaten, schließlich auch die Maschinen und so weiter als den Kriegsunternehmungen dienend anzusehen sind. Nach Ansicht des Verfassers dieses Gutachtens unterliegen daher alle diese Werte – gegen Entschädigung nach Friedensschluß – der Beschlagnahme und Verwertung.
Es wird ferner das Problem der Kriegsnotwendigkeit untersucht und schon – im damaligen Zeitpunkt – die wirtschaftliche Notstandslage Deutschlands bejaht.
Für die Beurteilung des Angeklagten Keitel ist dieses Gutachten insofern von Bedeutung, als das bekannte Amt Ausland unter der verantwortlichen Leitung des Admirals Canaris noch im November 1941 ein Gutachten praktisch begründet, das die wirtschaftliche Ausnutzung der besetzten Länder rechtfertigt. Das war das Amt, das im OKW die völkerrechtlichen Probleme bearbeitete und dem der Angeklagte Keitel sein Vertrauen entgegenbrachte.
Für Rußland ist auf Grund der Westerfahrung von Reichsmarschall Göring durch Generalvollmacht des Führers eine über die bisherige Organisation weit herausreichende Organisation für alle wirtschaftlichen Belange geschaffen worden.
Diese Organisation hat der Chef Wirtschafts-Rüstungsamt mit dem Staatssekretär Körner dem Reichsmarschall Göring vorbereitet – ohne Beteiligung des Chef OKW.
Chef OKW hat hierzu den General Thomas dem Reichsmarschall Göring zur Verfügung gestellt. Der Chef OKW hat auf diese Organisation keinerlei Einfluß gewonnen und das OKW und sich dabei ausgeschaltet, nachdem Reichsmarschall Göring Generalvollmacht erhalten hatte und das OKW Thomas zur Verfügung gestellt hatte.
General Thomas handelte also hier allein im Auftrage des Reichsmarschalls Göring. Das OKW und der Angeklagte Keitel unterstanden weder dem Reichsmarschall Göring, noch waren sie an seine Weisungen gebunden. Der Angeklagte Keitel war nicht im Wirtschafts-Stab Görings vertreten und hatte mit dem Wirtschafts-Stab OST nichts zu tun. (Siehe Buch Thomas Seite 366.)
Die Durchführung der Aufgabe wurde zentral von dem wirtschaftlichen Führungsstab in Berlin geleitet als Teil des Vierjahresplanes. Die örtliche Oberleitung im Ostgebiet unterstand dem Wirtschafts-Stab OST.
An dieser Organisation wurde auch die Sicherstellung der Truppenbedürfnisse angegliedert.
Das OKW und der Angeklagte Keitel als Chef OKW hat niemals Befehle oder Anordnungen über die Ausnützung, Verwaltung oder Beschlagnahme von Wirtschaftsgütern im besetzten Gebiet gegeben. Dies ergibt das von der Anklagebehörde vorgelegte Buch, Dokument 2353-PS. Thomas hat darin auf Seite 386 zusammenfassend richtig folgendes gesagt:
»Verantwortlich für die wirtschaftliche Gesamtleitung des Ostraumes war der Wirtschafts-Führungs-Stab OST unter dem Reichsmarschall, beziehungsweise Staatssekretär Körner, verantwortlich für die Fachweisungen waren die Staatssekretäre, verantwortlich für den Aufbau der wirtschaftlichen Organisation das Wirtschafts- Rüstungsamt, verantwortlich für die Durchführung aller Maßnahmen der Wirtschafts-Führungs-Stab OST.«
Dasselbe ergibt sich auch aus dem Dokument USSR-10:
»Richtlinien« – des Reichsmarschalls Göring – »zur einheitlichen Leitung der Wirtschaftsverwaltung im Operationsgebiet und in später einzurichtenden politischen Verwaltungsgebieten.«
Damit dürfte erwiesen sein, daß das OKW und Keitel für die mit der Durchführung der Maßnahmen im Rahmen der Unternehmung Barbarossa-Oldenburg eingetretenen Folgen keine Verantwortung trifft.
Auf Seite 143 ff.: Ich spreche nun über den von der Französischen Anklagebehörde behaupteten Anteil des OKW und Keitels an den Fällen Oradour und Tulle. Die Französische Anklagebehörde hat den Angeklagten Keitel persönlich mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit belastet. Es handelt sich insbesondere um die Beschuldigung der Tötung französischer Zivilpersonen ohne Urteil. Hierbei wurden die Fälle Oradour und Tulle besonders hervorgehoben. Sie sind in einem Bericht der Französischen Regierung (Dokument F-236) niedergelegt. Die Französische Anklagebehörde hat erklärt:
»Die Schuld Keitels in allen diesen Dingen ist gewiß.«
Es ist in diesem Zusammenhang nicht meine Aufgabe, die schrecklichen Geschehnisse von Oradour und Tulle zu behandeln. Als Verteidiger des Angeklagten Keitel habe ich zu prüfen, ob die Behauptung der Anklagebehörde begründet ist, daß den Angeklagten Keitel eine Schuld oder Verantwortung an diesen grausigen Ereignissen trifft.
Sie werden verstehen, daß der Angeklagte Keitel ein besonderes Gewicht darauf legt, den Nachweis zu führen, daß er für diese furchtbaren Ereignisse nicht verantwortlich ist und ferner, daß er, wenn ihm solche Dinge zur Kenntnis kamen, dafür Sorge getragen hat, daß sie aufgeklärt wurden, damit die tatsächlich Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden konnten.
Es ist unstreitig, daß Keitel an diesem Verbrechen unmittelbar nicht beteiligt war. Es kann also nur eine Verantwortlichkeit und Schuld des Angeklagten aus seiner Dienststellung abgeleitet werden.
Von der Anklagebehörde sind keinerlei Befehle vorgelegt worden, die Keitels Unterschrift tragen, so daß, wer auch immer der Schuldige ist, Keitel jedenfalls nicht zum Kreis der unmittelbar Verantwortlichen gehört.
Die schrecklichen Leiden, die eine große Anzahl französischer Dörfer erduldet haben, sind in den Noten des Generals Berard vom 6. Juli und 3. August 1944 enthalten. Ich habe schon bei Vorlage dieser Urkunde darauf hingewiesen, daß die Vorlage dieser Beschwerdenoten allein, das heißt ohne gleichzeitige Vorlage der auch im Besitz der Anklagebehörde befindlichen Antwortnoten, kein objektives Bild des Tatbestandes zur Beurteilung der Schuld des Angeklagten Keitel ergeben können, denn da der Angeklagte Keitel mangels Befehlsbefugnis niemals als Urheber der Befehle in Betracht kommen kann, die zu den Beschwerden führten, kann eine Verantwortung und Schuld Keitels nur dadurch bewiesen werden, daß er nach Kenntniserlangung durch die deutsche Waffenstillstandskommission nicht die erforderlichen Schritte veranlaßt hat. Was Keitel getan oder unterlassen hat, kann sich nur aus Antwortnoten und Anordnungen des OKW an die deutsche Waffenstillstandskommission ergeben. Ich lasse den nächsten Satz aus. Der Gegenbeweis wäre für den Angeklagten Keitel auch in diesem Falle unmöglich, wenn nicht die Französische Anklagebehörde selbst eine Urkunde (F-673) vorgelegt hätte, die zum Nachweis der individuellen Schuld Keitels dienen sollte. Diese Urkunde ist schon von der Französischen Anklagebehörde in der Sitzung vom 31. Januar 1946 verlesen worden:
»Oberkommando der Wehrmacht
F.H.Qu., den 5. März 1945
WFSt./Qu.2 (I) Nr. 01487/45g
GEHEIM
Betr.: Angebliche Tötung französischer Staatsangehöriger ohne Urteil Deutsche Waffenstillstandskommission
1. Deutsche Waffenstillstandskommission
Gruppe Wa/Ib Nr. 5/45 g
2. Ob.West
Eingang 17. März 1945
Im August 1944 hat die französische Abordnung der deutschen Waffenstillstandskommission sich an die D.W.St.K. mit einer Note gewandt und in einer ausführlichen Schilderung Vorfälle über angebliche unrechtmäßige Erschießung von Franzosen in der Zeit vom 9.-23. Juni 1944 behauptet. Die Angaben der französischen Note waren zum größten Teil so eingehend, daß deutscherseits eine Nachprüfung ohne weiteres möglich war.
Das Oberkommando der Wehrmacht hat am 26. September 1944 die deutsche Waffenstillstandskommission mit der Bearbeitung der Angelegenheit beauftragt. Die D.W.St.K. hat daraufhin Ob.West um Untersuchung der Vorfälle und Stellungnahme zu den in den französischen Noten gegebenen Sachdarstellungen gebeten.
Am 12. Februar 1945 erhielt die D.W.St.K. von der Heeresgruppe B. Heeresgruppenrichter, den Bescheid, daß sich der Vorgang seit November 1944 beim Pz.AOK 6/Armeerichter befände, sowie daß das Pz.AOK 6 und die 2. SS-Panzerdivision ›Das Reich‹ inzwischen aus der Heeresgruppe ausgeschieden seien.
Zu der Art der Bearbeitung dieser Angelegenheit ist zu bemerken:
Die Franzosen und die Abordnung der Vichy-Regierung hat mit dieser Note der deutschen Wehrmacht den schweren Vorwurf zahlreicher, durch die Kriegsgesetze nicht gerechtfertigter Tötungen französischer Staatsangehöriger, also Mord, gemacht. Es lag im deutschen Interesse, so bald als möglich auf diese Vorwürfe zu antworten. In der langen Zeit, die seit der französischen Note vergangen ist, hätte es auch bei dem weiteren Gang der militärischen Ereignisse und den damit verbundenen Truppenverlegungen möglich sein müssen, wenigstens einen Teil der vorwürfe herauszugreifen und durch tatsächliche Nachprüfung zu widerlegen. Wäre auch nur ein Teil dieser Vorwürfe alsbald widerlegt worden, hätte man den Franzosen zeigen können, daß ihre gesamten Angaben auf zweifelhaftem Material beruhen; dadurch aber, daß deutscherseits überhaupt nichts geschehen ist, muß auf der Gegenseite der Eindruck entstehen, daß wir nicht in der Lage sind, auf diese Vorwürfe zu antworten.
Die Bearbeitung dieser Angelegenheit zeigt, daß über die Wichtigkeit, allen Vorwürfen gegen die deutsche Wehrmacht und jeder Feindpropaganda entgegenzuwirken und sofort angebliche deutsche Greueltaten zu widerlegen, vielleicht noch ein großes Unverständnis besteht.
Die deutsche Waffenstillstandskommission wird hiermit beauftragt, die Bearbeitung dieser Sache mit allem Nachdruck fortzusetzen. Es wird gebeten, ihr hierbei jede Unterstützung zuteil werden zu lassen, insbesondere nunmehr für die beschleunigte Bearbeitung im eigenen Bereich Sorge zu tragen. Die Tatsache, daß das Pz.AOK 6 aus dem Bereich des Ob.West ausgeschieden ist, ist keinerlei Hinderungsgrund, die notwendigen Ermittlungen zur Aufklärung und Widerlegung der französischen Vorwürfe fortzusetzen.
gez. Keitel
Nachrichtlich:
Gen.St.d.H./Gen/Qu.Pz.AOK 6«
Aus diesem Dokument des OKW, unterschrieben von Keitel, ergibt sich:
1. Das OKW hat nach Erhalt der französischen Beschwerdenote am 26. September 1944 die deutsche Waffenstillstandskommission mit der Prüfung und Bearbeitung dieser Angelegenheit beauftragt.
2. Die deutsche Waffenstillstandskommission hat daraufhin den Oberbefehlshaber West um Untersuchung der Vorfälle ersucht.
3. Das OKW hat nach Erhalt eines Schreibens der Heeresgruppe B zum Ausdruck gebracht:
»Es lag im deutschen Interesse, so bald als möglich auf diese Vorwürfe zu antworten. Die Bearbeitung dieser Angelegenheit zeigt, daß über die Wichtigkeit, allen Vorwürfen gegen die deutsche Wehrmacht und jeder Feindpropaganda entgegenzuwirken und sofort angebliche deutsche Greueltaten zu widerlegen, vielleicht noch großes Unverständnis besteht.
Die deutsche Waffenstillstandskommission wird hiermit beauftragt, die Bearbeitung dieser Sache mit allem Nachdruck fortzusetzen. Es wird gebeten, ihr hierbei jede Unterstützung zuteil werden zu lassen, insbesondere nunmehr für beschleunigte Bearbeitung im eigenen Bereich Sorge zu tragen. Die Tatsache, daß das Pz.AOK 6 aus dem Bereich des Oberbefehlshabers West ausgeschieden ist, ist keinerlei Hinderungsgrund, die notwendigen Ermittlungen zur Aufklärung und Widerlegung der französischen Vorwürfe fortzusetzen.«
Es darf damit als bewiesen angesehen werden, daß der Angeklagte Keitel in diesem Falle nach Erlangung der Kenntnis mit allem Nachdruck das getan hat, was er als Chef OKW innerhalb seiner Zuständigkeit zu tun verpflichtet und wozu er in der Lage war.
Damit dürfte die Anklage, soweit sie eine Schuld des Angeklagten Keitel behauptet, entfallen.
Gleichzeitig kann aber auch aus der Behandlung dieses Falles durch den Angeklagten Keitel der Schluß gezogen werden, daß er auch nicht nur in diesem, sondern in anderen Fällen ähnlich gehandelt hat.
Herr Präsident! Ich wollte nun, bevor ich die Geiselfrage bespreche, die ich mir eventuell für später vorbehalte, zunächst über den schwerwiegenden Tatbestand des »Nacht-und-Nebel« -Erlasses sprechen auf Seite 154:
Die Geiselfrage.
Der Krieg, furchtbar schon in seinen völkerrechtlich geordneten Bahnen, wird grauenhaft, wenn die letzten Hemmungen beseitigt werden.
Vieles Schreckliche ist in diesem Krieg geschehen; man weiß nicht, welches Kapitel dieses Buches der Leiden und Tränen das traurigste ist, jedenfalls ist eines der traurigsten Kapitel das der Geiselbehandlung.
Völkerrechtlich ist die Frage der Geiselbehandlung umstritten. Die Geiselnahme wird fast allgemein als zulässig bejaht. Es darf kein Zweifel darüber bestehen, daß, wenn man die Geiselnahme als völkerrechtlich zulässig annimmt, damit noch nichts über die Behandlung der genommenen Geiseln gesagt ist. Diese Behandlung muß mehr noch als die Geiselnahme unter dem Gesetz der absoluten, auf andere Weise nicht zu erfüllenden militärischen Notwendigkeit einerseits und der Einschaltung aller nur möglichen Sicherheiten andererseits stehen, um zu verhüten, daß Geiseln grundsätzlich ohne weiteres erschossen werden. Die primitiv rohe Handhabung gerade dieses völkerrechtlich zweifelhaften Instituts, die meist absolut Schuldlose erfaßt, muß abgelehnt werden.
Leider hat dieses Problem, das in früheren Kriegen der Kulturvölker nur selten auftrat, im ersten und zweiten Weltkrieg eine erhebliche Bedeutung erlangt. Die früher und wohl auch in der H.Dv. 2g (Dokumentenbuch 1 Keitel-Exhibit K-7) in Betracht gezogenen Fälle gingen aus von der militärischen Notwendigkeit der operierenden Truppe. Wie so vieles in diesem Kriege trat durch die lange Dauer, insbesondere aber auch durch die Veränderung der Anwendungsgebiete – Operationsgebiet wird Etappengebiet – eine Ausweitung und Entartung in der Anwendung eines in seinem Ursprung völkerrechtlich nicht anfechtbaren Grundsatzes.
Es fehlte die unmittelbare Verbindung mit der militärischen Notwendigkeit, das heißt mit Kriegshandlungen; an ihre Stelle war die Sicherung der Interessen getreten, wozu natürlich auch die Sicherung auf militärischem Gebiet, insbesondere der Verbindungswege zwischen Frontgebiet und Heimat gehörte.
Es muß gesagt werden, daß diese grundlegende Änderung hätte erkannt und bei der Handhabung der bestehenden Geiselordnung hätte berücksichtigt werden müssen.
Die Entartung in der Frage der Geiselbehandlung ist entscheidend dadurch beeinflußt worden, daß Zivilverwaltungs- und Polizeiorgane eines der äußersten Mittel der soldatischen Kriegführung für sich in Anspruch nahmen und häufig in willkürlicher Weise davon Gebrauch machten, um überall da, wo man Widerstand brechen wollte, Menschen ohne konkrete individuelle oder auch nur präsumtive Schuld festzunehmen und unter dem Gesichtspunkt der Repressalien zu behandeln. In dieselbe Kategorie fallen die Kollektiv-Verhaftungen wegen irgendwelcher Einzelverbrechen.
Alle diese Fälle haben mit den ursprünglichen Geiseltatbeständen nichts zu tun; da aber das Wort »Geisel« für alle diese Fälle gebraucht wird, hat die Anklagebehörde der Wehrmacht in vielen Fällen eine Verantwortung aufgelastet, die sie nicht zu tragen hat.
Ich bitte das Tribunal, bei der Beurteilung dieses Komplexes und bei der Prüfung der Verantwortung des Angeklagten Keitel zu berücksichtigen:
1. Der Begriff Geiseln, die Voraussetzung zur Geiselnahme und ihre Behandlung war allen Kommandobehörden und ihren Dienststellen der Wehrmacht durch die Heeresdienstvorschrift H.Dv. 2g vor dem Kriege, insbesondere vor dem Feldzug im Westen, bekanntgegeben.
Die von der Anklagebehörde selbst vorgelegten Dokumente 1585-PS (Erörterungen über die Geiselfrage mit der Luftwaffe) und 877-PS (der Operationsbefehl des Heeres für den Fall »Gelb« und Angriff im Westen vom 29. 10. 39) lassen erkennen, daß für die Geiselnahme spezielle Vorschriften vorher gegeben waren. Ihre Anwendung war den Heeresdienststellen und später den Militärbefehlshabern, die dem Heer und niemals dem OKW unterstanden haben, verantwortlich.
2. Niemand konnte nach der Vorschrift (H.Dv. 2g) im Zweifel sein, welche Befugnisse die Befehlshaber des Heeres und wer die Entscheidung über eine eventuelle Erschießung von Geiseln zu treffen hatte.
Es ist niemals ein ergänzender Befehl oder eine ergänzende Vorschrift vom OKW erlassen worden. Der von der Anklagebehörde erwähnte Brief von Falkenhausen (Militärbefehlshaber in Belgien) vom 16. 9. 1942 (Dokument 1594-PS) und der Bericht desselben Militärbefehlshabers (1587-PS) sind nicht an Keitel gerichtet, sondern richtigerweise an die vorgesetzte Dienststelle: das OKH, Generalquartiermeister. Keitel hat weder den Brief noch den Bericht erhalten.
Ob sie Hitler erhalten hat in seiner Eigenschaft als Oberster Befehlshaber des Heeres und militärischer Vorgesetzter der Militärbefehlshaber, weiß Keitel nicht.
3. Das OKW wurde über die Fälle der irrtümlich und fälschlich als Geisel bezeichneten und – ohne Gerichtsverfahren – behandelten Einwohner der besetzten Gebiete nicht unterrichtet.
4. Wenn die Geisel ohne den Zusammenhang mit den Anschlägen und Terrorakten gegen die Besatzungsmacht, also ohne in lokaler und grundsätzlicher Beziehung dazu haftbar gemacht wurden, so steht das im Widerspruch zu den Dienstvorschriften.
5. Soweit das OKW oder der Angeklagte Keitel in Einzelfällen von militärischen Stellen, die mit den Geiselfragen befaßt waren, befragt wurden, zum Beispiel von den Militärbefehlshabern in Frankreich und Belgien, hat die Beweisaufnahme ergeben, daß die »Geiseln«, die erschossen werden sollten, aus dem Kreise der Personen ausgewählt wurden, die schon rechtskräftig zum Tode verurteilt waren. Um aber nach außen hin – wegen der erstrebten Abschreckungswirkung – dies nicht erkennbar werden zu lassen, sollte bekanntgemacht werden, daß Geiseln erschossen worden seien.
Die Französische Anklagebehörde hat das OKW und Keitel durch das Dokument 389-PS gleich UK- 25, ein vom Angeklagten Keitel ausgefertigter Führerbefehl vom 16. September 1941, zu diesem Komplex in Beziehung gebracht. Dieses Dokument, dessen Inhalt ungeheuerlich ist, hat aber mit der Frage der Geiselnahme und der Geiselbehandlung nichts zu tun. Im Text kommt das Wort »Geiseln« nicht vor. Aus dem Betreff und aus dem Inhalt ergibt sich, daß es sich hier um eine Anordnung im Zuge der Bandenbekämpfung der Widerstandsbewegung auf dem östlichen und südöstlichen Kriegsschauplatz handelt, also in Beziehung steht zu den an anderer Stelle schon behandelten und verurteilten Grundsätzen des sogenannten weltanschaulichen Krieges gegen die Sowjetunion. Als das Schreiben vom 16. September 1941 dem Militärbefehlshaber von Frankreich vom OKH nachrichtlich zuging, hatte dieser schon das sogenannte Geiselgesetz (Dokument 1588-PS) erlassen. Es bestand demgemäß kein Kausalzusammenhang, wie die Französische Anklagebehörde angenommen hat, zwischen den vom Angeklagten Keitel gezeichneten und von Hitler befohlenen Richtlinien im Dokument 389-PS gleich UK-25 mit der Geiselgesetzgebung im Westen. Diese waren ohne Mitwirkung oder Befragung des OKW erlassen. Die den Militärbefehlshabern Frankreich und Belgien übergeordnete Dienststelle war das OKH, also nicht das OKW, die sachbearbeitende Dienststelle war der Generalquartiermeister (im OKH). Es muß hierbei auch berücksichtigt werden, daß in diesem Zeitpunkt Hitler selbst Oberbefehlshaber des Heeres war, wodurch die schon erwähnten Rückfragen an das OKW zu erklären sind. In Wirklichkeit handelte es sich nicht um Rückfragen an das OKW, sondern an Hitler als Oberbefehlshaber der Wehrmacht und Oberbefehlshaber des Heeres, die teilweise über den Arbeitsstab Hitlers (OKW) liefen. Hierdurch wurde jedoch keine Zuständigkeit und damit auch keine Verantwortlichkeit des Angeklagten Keitel als Chef OKW geschaffen.
Abschließend bitte ich zu gestatten, daß ich eine Arbeit über den Stand der völkerrechtlichen Meinungen zur Geiselfrage dem Tribunal zur Berücksichtigung bei der Prüfung dieses Tatbestands überreiche. Ich beschränke mich, die Zusammenfassung der Lehrmeinung und der militärischen Praxis zu verlesen:
»Zusammenfassend ist zur Frage der Geiselnahme und Geiseltötung zu sagen, daß nach herrschender Praxis und wohl auch herrschender Völkerrechtslehre die Geiselnahme im besetzten Gebiet völkerrechtszulässig ist, sofern die Geiseln genommen werden, um das rechtmäßige Verhalten der feindlichen Zivilbevölkerung zu ge währleisten. Nach dem für die deutsche Kriegführung maßgebenden Kommentar von Waltzog ist außerdem Formnotwendigkeit, daß bei der Geiselnahme nach ungeschriebenem Völkerrecht (Gewohnheitsrecht) bekanntgemacht werden muß, daß und wofür Geiseln festgesetzt werden. Vor allem muß die Geiselnahme und die Tötungsandrohung zur Kenntnis derjenigen gebracht werden, für deren rechtmäßiges Verhalten die Geiseln bürgen sollen. Die Frage, ob Geiseln getötet werden dürfen, kann nicht eindeutig geklärt werden. Die deutschen Völkerrechtlehrer, wie Meurer, der Engländer Spaight und die Franzosen Sorel, Funck, halten sie im äußersten Notfall für erlaubt und daher nicht für völkerrechtwidrig.«
Es gibt wohl kaum einen Befehl, der stärker während der Verhandlung vor diesem Tribunal sich in das Gedächtnis eingeprägt hat, als der ›Nacht-und- Nebel‹-Befehl. Es handelt sich hierbei um eine Anordnung, die ihren Ursprung in der Bekämpfung der Sabotageakte und der Widerstandsbewegung in Frankreich hatte. Infolge des Abzugs von Truppen im Zusammenhang mit dem Feldzug gegen die Sowjetunion nahmen die Anschläge gegen die Sicherheit der in Frankreich verbleibenden deutschen Truppen, insbesondere auch die Anschläge gegen alle Verkehrsverbindungen von Tag zu Tag zu. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit erhöhter Tätigkeit der Abwehrstellen, die zu Verfahren und Urteilen der Militärgerichte gegen die Angehörigen der Widerstandsbewegung und deren Helfershelfer führten. Diese Urteile waren sehr streng. Neben einem großen Teil von Todesurteilen auch Freiheitsstrafen. Die fast täglichen Meldungen bei den Lagebesprechungen führten zu heftigen Auseinandersetzungen, bei welchen Hitler nach seiner Gewohnheit nach einem Schuldigen suchte, der in diesem Falle nach Hitlers Ansicht die viel zu umständliche Militärjustiz war. In seiner explosiv-spontanen Art befahl er, Richtlinien auszuarbeiten, die eine schnelle, wirksame und nachhaltige Abschreckung zur Folge haben sollten. Er erklärte, daß eine Freiheitsstrafe überhaupt nicht als wirksame Abschreckungsmaßnahme anzusehen sei. Auf die Einwendungen Keitels, daß doch unmöglich alle Menschen zum Tode verurteilt werden könnten, dies auch die Militärgerichte nicht mitmachen würden, sagte er, daß es ihm darauf auch nicht ankomme. Diejenigen Fälle, bei denen eine so schwere Straftat erwiesen sei, daß die Todesstrafe ohne langes Verfahren verhängt werden müßte, sollten in der bisherigen Weise weiterbehandelt werden, also gerichtlich, in den anderen Fällen aber, in denen dies nicht so sei, befehle er, daß die Verdächtigen heimlich nach Deutschland gebracht und keinerlei Nachricht über ihren Verbleib gegeben werden sollte, da die Bekanntgabe von Freiheitsstrafen in den besetzten Gebieten nicht abschreckend wirke infolge der bei Kriegsende zu erwartenden Amnestie.
Der Angeklagte Keitel hatte darauf mit dem Chef des Wehrmachtsrechtsamtes und dem Chef des Amtes Ausland/Abwehr (Canaris), von dem auch das Schreiben vom 2. Februar 1942 (Dokument UK-35) stammt, Beratungen, was zu tun sei. Als wiederholte Vorstellungen bei Hitler, auf dieses Verfahren zu verzichten oder wenigstens die absolute Geheimhaltung zu lockern, kein Ergebnis hatten, legte man schließlich einen Entwurf vor, wie er in dem bekannten Erlaß vom 7. Dezember 1941 hier vorliegt.
Die Sachbearbeiter und der Angeklagte Keitel hatten die Zuständigkeit der Reichsjustizverwaltung für die nach Deutschland Verbrachten durchgesetzt (letzter Satz der Richtlinien vom 7. Dezember 1941). Keitel hatte diese Bestimmungen noch durch die erste Durchführungsverordnung zu den Richtlinien sichergestellt, in dem er zu IV., Absatz 1, letzter Satz, klarstellte, daß, falls vom OKW nichts Gegenteiliges bestimmt würde, das Verfahren nach Paragraph 3, Absatz 2, Satz 2 der Kriegsstrafverfahrensordnung an die zivile Gerichtsbarkeit abzugeben sei. Damit glaubte der Angeklagte Keitel wenigstens erreicht zu haben, daß die Betroffenen einem ordentlichen Strafverfahren zugeleitet wurden und daß nach den deutschen Vorschriften für Unterbringung und Behandlung von Untersuchungsgefangenen und auch Verurteilten eine Gefahr für Leib und Leben nicht bestehen könne. Keitel und seine Sachbearbeiter glaubten, sich damit trösten zu können, daß, so furchtbar auch die Qualen und die Ungewißheit für die Betroffenen seien, doch wenigstens das Leben der Überführten gerettet sei.
Es wird in diesem Zusammenhang auch auf den Wortlaut des Anschreibens vom 12. Dezember 1941 hingewiesen. Wie der Mitangeklagte Generaloberst Jodl bei seiner Vernehmung ausgesagt hat, gab es eine gewisse Diktion, die gewählt wurde, wenn zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß der Unterzeichner mit dem übermittelten Befehl nicht übereinstimme. Dies Anschreiben beginnt mit den Worten:
»Es ist der lang erwogene Wille des Führers...«
und der Schlußsatz lautet:
»Die anliegenden Richtlinien... entsprechen dieser Auffassung des Führers.«
Die Empfänger solcher Schreiben wußten aus dieser Formulierung, daß es sich wieder einmal um einen Führerbefehl handelte, der nicht abzuwenden war und zogen daraus die Schlußfolgerung, diesen Befehl so milde als möglich zu handhaben.
Das Schreiben vom 2. Februar 1942 stammt vom Amt Ausland/Abwehr und muß in seinem Original, das Ihnen vorliegt, von Canaris unterzeichnet sein. Der Angeklagte war zu dieser Zeit nicht in Berlin, wo die Angelegenheit nach Ausfertigung des Erlasses vom 7. Dezember 1941 weiterbehandelt wurde. Keitel hatte von dem Inhalt dieses Schreibens im Führerhauptquartier keine Kenntnis erhalten. In Verbindung mit dem soeben Gesagten waren die aus der Diktion des Anschreibens abzuleitenden Möglichkeiten einer mildernden Handhabung dadurch gegeben, daß die Abwehrstellen »bewirken sollten, daß vor der Festnahme nach Möglichkeit ein für die Überführung des Täters voll ausreichendes Beweismaterial vorliegen muß«. Auch sollte vor der Festnahme mit dem zuständigen Kriegsgericht Fühlung genommen werden, ob das Beweismaterial ausreichend sei. Die Übergabe in Deutschland mußte an die Reichsjustizverwaltung erfolgen. Daß diese Annahme des Angeklagten Keitel richtig ist, dürfte sich schon aus der Tatsache ergeben, daß Canaris bei der gerichtsbekannten Einstellung dieses Admirals niemals eine Überstellung an die Gestapo angeordnet haben würde. Wie schon gesagt, war dem Angeklagten Keitel das Schreiben vom 2. Februar 1942 nicht bekannt.
Obwohl der Angeklagte Keitel glaubte, zur Sicherstellung der Betroffenen erreicht zu haben, was erreicht werden konnte, blieb der Erlaß »Nacht und Nebel«, wie er in der Folge genannt wurde, für ihn eine schwere seelische Belastung. Keitel bestreitet nicht, daß dieser Erlaß völkerrechtlich nicht vertretbar und ihm dies bekannt war.
Was Keitel aber bestreitet, ist, daß er gewußt oder vor diesem Prozeß in Nürnberg erfahren hat, daß die Betroffenen nach Eintreffen im Reich in Polizeigewahrsam zurückgehalten und den Konzentrationslagern zugeführt wurden. Dies widersprach dem Sinn und Zweck dieses Erlasses. Der Angeklagte Keitel konnte hiervon nichts erfahren, weil mit der Abgabe der Betroffenen durch den zuständigen Gerichtsherrn des Militärgerichts an die Polizei zur Überführung nach Deutschland zwecks Auslieferung an die Justizverwaltung die Zuständigkeit der Wehrmacht aufhörte, sofern sie nicht ein Verfahren vor einem Wehrmachtsgericht forderte. Wie es nun dazu gekommen ist, daß eine solche Menge von Menschen in die Konzentrationslager gebracht worden sind und unter der Bezeichnung »Nacht und Nebel« dort so behandelt wurden, wie es Zeugen hier geschildert haben, weiß der Angeklagte Keitel aus eigener Kenntnis nicht. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Gerichtshof muß angenommen werden, daß die Polizeidienststellen – ohne Wissen der Militärbehörden – alle politisch Verdächtigen, die auf Grund politischer Maßnahmen aus den besetzten Gebieten nach Deutschland und dort in die Konzentrationslager gebracht wurden, als »N N-Gefangene« bezeichnet haben, denn nach den Aussagen handelt es sich bei den in den »N N-Lagern« Untergebrachten zum größten Teil um Menschen, die nicht in einem förmlichen Ermittlungsverfahren durch die Militärgerichte der besetzten Gebiete zur Verbringung nach Deutschland verurteilt worden waren.
Es ist daher erwiesen, daß die Polizei in den besetzten Gebieten diesen Erlaß in einer jedes vorstellbare Maß überschreitenden Weise und ohne Rücksicht auf die alleinige Gerechtsame der militärischen Kommandostellen und auf die diesen auferlegten Verfahrungsvorschriften zum allgemeinen und hemmungslosen Freibrief für Deportationen gemacht hat.
Daß das ohne Kenntnis der Wehrmachtsdienststellen in den besetzten Gebieten überhaupt möglich gewesen ist, findet seine Erklärung allein in dem Umstand, daß die polizeiliche Exekutive durch die Einsetzung Höherer SS- und Polizeiführer den Militärbefehlshabern der besetzten Gebiete entzogen wurde und diese Höheren SS- und Polizeiführer ihre Befehle vom Reichsführer-SS erhielten.
Niemals ist dem Reichsführer-SS und Höheren SS- und Polizeiführern vom OKW das Recht zur Anwendung dieses nur auf die Wehrmacht zugeschnittenen Erlasses als polizeiliche Exekutivmaßnahme zuerkannt worden. Der Erlaß hatte nur für die Dienststellen der Wehrmacht mit gerichtsherrlichen Befugnissen Geltung und war eindeutig auf diese beschränkt und abgestellt. Daß das OKW tatsächlich keine Kenntnis von dieser mißbräuchlichen Anwendung des Erlasses vom 7. Dezember 1941 hatte, ergibt sich aus dem Schreiben der deutschen Waffenstillstandskommission vom 10. August 1944 (Dokument 834-PS). Dort heißt es:
»... daß die Grundlage der Verhaftungen sich insofern verändert zu haben scheint, als es sich ursprünglich um Einzelfälle von Angriffen gegen das Reich oder die Besatzungsmacht handelte, das heißt, es wurden Elemente erfaßt, die in bestimmten Fällen aktiv tätig geworden waren (und sich nach den Vorschriften der Haager Landkriegskonvention strafbar gemacht hatten), während jetzt... auch zahlreiche Personen nach Deutschland überführt werden, die aus Gründen deutschfeindlicher Einstellung präventiv aus Frankreich entfernt werden sollen...«
Es heißt unter 4 dieses Schreibens wie folgt:
»Die Voraussetzungen des oben angeführten Erlasses gehen davon aus, daß die Verhafteten einem Gerichtsverfahren unterworfen werden. Es erscheint glaubhaft, daß bei der Zahl der Fälle, insbesondere im Rahmen der Präventivmaßnahmen, solche Verfahren jetzt häufig nicht mehr stattfinden, und es werden die Gefangenen nicht mehr in den Untersuchungs- oder Vollzugsanstalten der deutschen Justizbehörden, sondern in Konzentrationslagern verwahrt. Auch insoweit ist gegenüber den ursprünglichen Voraussetzungen des Erlasses eine wesentliche Änderung eingetreten...«
Im Antwortschreiben des OKW vom 2. September 1944, gezeichnet von Dr. Lehmann, wird auf die Richtlinien des Führererlasses vom 7. Dezember 1941, des sogenannten »Nacht-und-Nebel«-Erlasses, ausdrücklich Bezug genommen. Es ist darin nichts davon gesagt, daß die ursprünglichen Voraussetzungen für die Verbringung nach Deutschland vom OKW geändert worden seien.
Diese Antwort ist auch ohne Kenntnis des Angeklagten Keitel von Berlin aus erteilt worden, wohin auch offenbar das Schreiben der Waffenstillstandskommission gerichtet worden war; das Wehrmacht- Rechtsamt war in Berlin. Keitel selbst befand sich im Führerhauptquartier, und von dem Schriftwechsel hat er nichts erfahren.
Es muß hier gesagt werden, daß es eine schwere Unterlassung war, auf das Schreiben der deutschen Waffenstillstandskommission vom 10. August 1944 nicht sofort zu antworten, daß es sich hier um einen Mißbrauch des Erlasses vom 7. Dezember 1941 und der dafür ergangenen Durchführungsverordnung handele. Es hätte auch sofort eine Untersuchung angeordnet werden müssen, um die für diesen Mißbrauch Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Soweit der militärische Stab Hitlers seitens des Gerichts als belastet angesehen werden sollte, übernimmt der Angeklagte Keitel im Rahmen seiner Verantwortlichkeit als Chef OKW hierfür die Verantwortung.
VORSITZENDER: Vielleicht ist dies ein geeigneter Zeitpunkt für eine Pause.