Die Frage der Kriegsgefangenen.
Das Schicksal der Kriegsgefangenen hat von jeher die Gemüter der Menschen bewegt. Es war das Bestreben aller zivilisierten Völker, den Soldaten, die in die Hände der Feinde fielen, die Erleichterung zu gewähren, die mit den Interessen der Kriegführung in Einklang zu bringen waren. Es galt als eine der wichtigsten Errungenschaften der Kultur, auf diesem Gebiet eine Einigung selbst für den Fall gefunden zu haben, daß sich die Völker auf Tod und Leben gegenübertraten. Die qualvolle Ungewißheit über das Schicksal dieser Soldaten erschien überbrückt, ihre menschliche Behandlung gewährleistet, die Würde des waffenlosen Gegners gesichert.
Wie so vieles ist auch unser Glaube an diese Errungenschaft der menschlichen Gesellschaft ins Wanken geraten. Wenn auch noch – erstmalig und einmalig durch den geschlossenen Widerstand der Generalität – formell aufrechterhalten, müssen wir doch gestehen, daß eine brutale und die Söhne des eigenen Volkes vergessende Einstellung – nichts anderes als das eigene Machtstreben – die Heiligkeit des Roten Kreuzes und die ungeschriebenen Gesetze der Menschlichkeit mißachtete. Die Behandlung der Verantwortlichkeit des Angeklagten Keitel in dem allgemeinen Komplex des Kriegsgefangenenwesens umfaßt folgende Einzelfragen:
1. die allgemeine Regelung der Kriegsgefangenenbehandlung, das heißt die deutsche Gesetzgebung des Kriegsgefangenenwesens;
2. die Befehlsgewalt über die Kriegsgefangenenlager, die sich in Oflags, Stalags und Dulags teilen;
3. die Überwachung und Kontrolle der Gesetzgebung und Handhabung;
4. die Einzelfälle, die im Laufe der Anklage hier vorgebracht worden sind.
Da die Organisation des Kriegsgefangenenwesens im Laufe der Beweisführung dargelegt worden ist, kann ich mich darauf beschränken festzustellen, daß das OKW (Keitel) im Rahmen seiner kriegsministeriellen Aufgaben gemäß dem Erlaß vom 4. Februar 1938 im Auftrage Hitlers zuständig und insoweit verantwortlich war:
a) Für das materielle Verordnungsrecht im gesamten örtlichen und sachlichen Bereich, zum Teil beschränkt durch Mitarbeit und Mitverantwortung in der Frage des Arbeitseinsatzes der Kriegsgefangenen;
b) ohne Befehlsbefugnisse für die Kriegsgefangenenlager und die Kriegsgefangenen selbst; zuständig für die Verteilung der im Heimatbereich eintreffenden Kriegsgefangenen im großen auf die Wehrkreisbefehlshaber;
c) für die allgemeine Beaufsichtigung der Lager im OKW-Bereich (ausgeschlossen der Bereich der Operationsgebiete, der rückwärtigen Heeresgebiete, der Gebiete der Militärbefehlshaber, der Kriegsgefangenenlager der Marine und der Luftwaffe).
Die sachbearbeitende Dienststelle hierfür im OKW war der »Chef des Kriegsgefangenenwesens«, der von der Anklagebehörde häufig persönlich verantwortlich gemacht worden ist. Der Angeklagte Keitel legt Wert darauf festzustellen, daß der Chef des Kriegsgefangenenwesens ihm über das Allgemeine Wehrmachtsamt unterstellt war.
Daraus ergibt sich die selbstverständliche Verantwortlichkeit des Angeklagten Keitel auf diesem Gebiet, selbst in den Fällen, in denen er Befehle und Anordnungen nicht persönlich unterschrieben haben sollte.
Die grundsätzlichen Bestimmungen über die Behandlung der Kriegsgefangenen waren:
1. Die im Rahmen der normalen Mobilmachungsvorbereitungen vom Chef OKW erlassenen Dienstvorschriften, niedergelegt in einer Reihe von Heeres-, Marine- und Luftwaffen-Druckschriften.
2. Die Bestimmungen der Genfer Konvention, auf die in den Dienstvorschriften besonders hingewiesen war.
3. Die laufend erforderlich werdenden allgemeinen Anordnungen und Befehle.
Abgesehen von der Behandlung der Kriegsgefangenen der Sowjetunion, die einer grundsätzlich abweichenden Regelung unterworfen war, auf die ich noch besonders zurückkommen werde, waren die dem Völkerrecht, das heißt der Genfer Konvention entsprechenden Bestimmungen der Dienstvorschriften maßgebend. Das OKW beaufsichtigte die genaue Beachtung dieser Dienstvorschriften durch einen Inspekteur für das Kriegsgefangenenwesen und seit 1943 durch eine weitere Kontrollinstanz, den »Generalinspekteur für das Kriegsgefangenenwesen«.
Als weitere Kontrollinstanz können die Vertreter der Schutzmächte und das Internationale Rote Kreuz gelten, die den verschiedenen Regierungen zweifellos Berichte über die Ergebnisse ihrer Nachprüfungen und Besuche in den Lagern gemäß den Bestimmungen der Genfer Konvention erstattet haben. Von der Anklagebehörde sind hier solche Berichte nicht vorgelegt worden; auf die Beschwerden, die die Französische Anklagebehörde hier vorgetragen hat, komme ich noch zurück. Die Tatsache aber, daß zum Beispiel die Englische und die Amerikanische Anklagebehörde solche Berichte nicht vorgelegt haben, läßt wohl den Schluß zu, daß die Schutzmächte keine schwerwiegenden Verstöße bezüglich der Lagerkriegsgefangenen festgestellt haben.
Die Behandlung der Kriegsgefangenen, die in den ersten Jahren des Krieges mit den Westmächten zu Beanstandungen wesentlicher Art – ich nehme Einzelfälle, wie den. Fall Dieppe aus – nicht geführt haben, wurde für das OKW von Jahr zu Jahr schwieriger, weil politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte auf diesen Sektor stärksten Einfluß gewannen. Der Reichsführer-SS versuchte, das Kriegsgefangenenwesen in seine Hände zu bekommen. Die hierauf bezüglichen Machtkämpfe führten ab Oktober 1944 dazu, daß Hitler das Kriegsgefangenenwesen Himmler überantwortete, angeblich weil sich die Wehrmacht als zu schwach erwiesen habe und sich durch völkerrechtliche Bedenken beeinflussen lasse.
Ein anderer wesentlicher Faktor war der mit eintretendem Arbeitermangel immer stärker werdende Einfluß, der von dem Arbeitseinsatz und dem Rüstungssektor auf Hitler und über ihn auf das OKW ausgeübt wurde. Auch die Parteikanzlei, die Deutsche Arbeitsfront und das Propagandaministerium wurden in diese an sich rein militärische Frage eingeschaltet. Das OKW lag mit allen diesen Dienststellen, die meist stärkeren Einfluß hatten als das OKW, in ewigem Kampf.
Alle diese Umstände müssen berücksichtigt werden, wenn man die Einlassung des Angeklagten Keitel richtig verstehen und würdigen will. Da er selbst die Funktionen »Im Auftrage« durchzuführen hatte, da Hitler das Problem des Kriegsgefangenenwesens aus den dargelegten Gründen stets unter persönlicher Kontrolle hielt, konnte der Angeklagte Keitel seinen eigenen, das heißt den militärischen Bedenken gegen Anordnungen und Befehle fast nie Geltung verschaffen.