HOME

<< Zurück
|
Vorwärts >>

Die Behandlung sowjetrussischer Kriegsgefangener

Wenn Hitler schon das Kriegsgefangenenproblem als eine persönliche Domäne seiner Befehlsgebung ansah und es je länger, je mehr nicht unter völkerrechtlichen und militärischen, sondern unter politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, so stand das Problem in der Behandlung der sowjetrussischen Kriegsgefangenen von Anfang an auch noch unter dem weltanschaulichen Gesichtspunkt, der für ihn das Leitmotiv im Kriege gegen die Sowjetunion war. Die Tatsache, daß die Sowjetunion der Genfer Konvention nicht angehörte, benutzte Hitler, um sich damit einen Freibrief bei der Behandlung sowjetrussischer Kriegsgefangener zu beschaffen. Den Generalen gegenüber unterstellte er, daß die Sowjetunion sich in gleicher Weise frei fühle von allen Bestimmungen, die durch die Genfer Konvention zum Schutze der Kriegsgefangenen geschaffen waren. Man muß die Anordnungen vom 8. September 1941 (EC-338, USSR-356) lesen, um die Einstellung Hitlers klar zu erkennen. In dem Dokument des Amtes Ausland/Abwehr vom 15, September 1941 sind die Erwägungen niedergelegt, die auf Grund des allgemeinen Völkerrechts über die Behandlung von Kriegsgefangenen maßgebend sein müssen, auch wenn die Genfer Konvention zwischen den Kriegsparteien nicht gilt.

Der Angeklagte Keitel hat auf dem Zeugenstand erklärt, daß er die in diesem Dokument niedergelegten Gesichtspunkte anerkannt und Hitler vorgetragen habe. Dieser habe es strikte abgelehnt, die Anordnungen vom 8. September 1941 aufzuheben. Er hat Keitel gesagt:

»Ihre Bedenken entspringen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg. Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung.«

Diese Worte hat Keitel in einer handschriftlichen Notiz zu dem Schreiben vom 15. September 1941 wörtlich niedergelegt und hinzugefügt:

»Deshalb billige ich die Maßnahme und decke sie.«

Es war wie immer, wenn Keitel Bedenken vorgetragen und Hitler seine endgültige Entscheidung getroffen hatte. Er stellte sich hinter diese Entscheidung und gab den ihm nachgeordneten Instanzen nicht zu erkennen, daß er anderer Ansicht war. Das war seine Einstellung. Er übernimmt dafür auch die Verantwortung im Rahmen seiner Dienststellung.

Wie Keitel in Wirklichkeit dachte, ergibt sich aus dem als Dokument Keitel-Exhibit 6, Dokumentenbuch I, Überreichten Auszug aus dem Buch »Einsatzbedingungen der Ostarbeiter sowie der Sowjet russischen Kriegsgefangenen«. Auch der Mitangeklagte Speer hat im Kreuzverhör erklärt, daß er wiederholt mit dem Angeklagten Keitel gesprochen habe, daß jede Verwendung von Kriegsgefangenen aller Feindstaaten in den durch die Genfer Konvention verbotenen Betrieben ausgeschlossen sei. Speer hat ferner ausgesagt, daß Keitel mehrmals jeden Versuch abgelehnt habe, Kriegsgefangene aller westlichen Staaten in eigentlichen Rüstungsbetrieben zu beschäftigen.

Im übrigen wird der Verteidiger des Angeklagten Speer diese Frage eingehend behandeln.

Ich möchte nur noch einzelne Fälle vortragen, die dem Angeklagten Keitel persönlich zur Last gelegt werden, das heißt, in welchen er nach Ansicht der Anklagebehörde einen, den Rahmen der allgemeinen Verantwortungskraft seiner Stellung übersteigenden Anteil haben soll.

Ich möchte den Fall nicht übergehen, der wiederholt und mit Recht Gegenstand der Beweiserhebung war: der Fall der 50 Royal-Air-Force-Flieger, der Fall der Schande, Sagan.

Er berührt uns Deutsche in einem besonderen Maße, weil sich hier die ganze Hemmungslosigkeit und Maßlosigkeit der Befehlsgebung und des Charakters Hitlers zeigt, der in keinem Augenblick sich durch den Gedanken an die Ehre der Deutschen Wehrmacht in seinen explosiven Entschlüssen beeinflussen ließ.

Das Kreuzverhör der Englischen Anklagevertretung mit dem Angeklagten Keitel hat klargestellt, wie weit auch sein Name durch diesen erschütternden Tatbestand in Mitleidenschaft gezogen ist.

Wenn auch durch die Beweisaufnahme mit aller Klarheit festgestellt worden ist, daß Keitel den Mordbefehl Hitlers weder gehört noch weitergeleitet hat, auch er und die Wehrmacht mit der Durchführung dieses Befehls in keinem Zusammenhang stehen, schließlich, daß er sich gegen die Überstellung der geflüchteten Offiziere an Himmler mit allen Mitteln gewehrt und wenigstens erreicht hat, daß die ins Lager zurückgeschafften Offiziere gerettet wurden, so bleibt doch das ihn tief bedrückende Schuldbewußtsein, damals nicht erkannt zu haben, welch furchtbaren Stoß das deutsche militärische Ansehen durch eine solche Maßnahme in der Welt erhalten mußte.

Im Zusammenhang mit der Behandlung des Sagan- Falles wurde dem Angeklagten Keitel von der Französischen Anklagebehörde das Dokument 1650-PS vorgelegt, das die Behandlung geflüchteter Kriegsgefangener behandelt.

Es handelt sich hier, Herr Vorsitzender, um den sogenannten »Kugel-Erlaß«. Mit Rücksicht auf die Zeit möchte ich diesen Fall abkürzen. Ich muß ihn aber behandeln, weil er eine der bedeutendsten, der schlimmsten Beschuldigungen enthält und ich werde lediglich zusammenfassen.

Keitel hatte sich hier im Kreuzverhör wie folgt geäußert – dieses Dokument 1650-PS stammt von einer Polizeidienststelle und enthält die Bezugnahme auf das OKW mit den Worten: »Das OKW hat folgendes angeordnet«.

Keitel sagt:

»Ich habe bestimmt diesen Befehl nicht unterschrieben, nicht gesehen, darüber besteht kein Zweifel.«

Er könne es nicht aufklären, nur Vermutungen äußern, wie es zu diesem Befehl beim Reichssicherheitsamt gekommen sei.

Er erwähnt dann in seiner Aussage die verschiedenen Möglichkeiten, auf denen ein solcher Befehl an die Stelle gekommen sein kann, die diesen Befehl herausgegeben hat.

Er hat dann Bezug genommen auf ein anderes Dokument 1514-PS, ein Dokument, welches sämtliche Befehle und Anordnungen für Kriegsgefangene enthält, aber nicht diesen Befehl, der sich auf die entflohenen kriegsgefangenen Offiziere und Unteroffiziere bezog. Der Zeuge Westhoff hat bestätigt, daß ihm und der Dienststelle OKW/Kriegsgefangenenwesen der Begriff »Stufe III« und seine Bedeutung unbekannt war; er erklärte auch, daß er bei Übernahme des Amtes einen Befehl dieser Art – auch einen Aktenvermerk – nicht vorgefunden habe.

Es war eine völlige Ungewißheit, was mit diesem Kugel-Erlaß überhaupt war. Diese Ungewißheit ist durch die Beweisaufnahme, wie ich glaube, aufgeklärt, und zwar durch den Mitangeklagten Kaltenbrunner, der seinerseits vorher mit dem Angeklagten Keitel über diese Frage nie gesprochen hat.

Ich gehe auf Seite 187 über, wo Kaltenbrunner gesagt hat:

»Ich habe, als ich ins Amt kam, den Namen Kugelbefehl nicht gehört, der für mich ein völlig fremder Begriff gewesen ist, weshalb ich fragte, was das sei. Er sagte mir, ein Führerbefehl, mehr wüßte er nicht... Mit dieser Auskunft gab ich mich nicht zufrieden und habe am selben Tage Himmler fernschriftlich angeschrieben, ich bäte ihn um Einsichtnahme in einen Befehl des Führers, der sich Kugel-Befehl nennt... Wieder einige Tage später erschien Müller bei mir im Auftrage Himmlers und gab mir Einsicht in einen Erlaß, der aber nicht von Hitler, sondern von Himmler stammte und in welchem Himmler erklärte, er gäbe mir einen mündlichen Führerbefehl weiter.«

Danach darf angenommen werden, daß Hitler ohne Rücksprache mit dem Angeklagten Keitel und ohne dessen Kenntnis an Himmler einen mündlichen Befehl gegeben haben muß, wie er in Dokument 1650-PS vorgelegt wurde.

Damit bestätigt sich die Vermutung, die der Angeklagte Keitel in seinem Verhör ausgesprochen hat, ohne daß Kaltenbrunner ihn bis zu diesem Zeitpunkt von seiner Kenntnis des mündlichen Führerbefehls etwas gesagt hatte.

3. Auch in einem anderen Falle, dem der Brandmarkung sowjetrussischer Kriegsgefangener hat sich die von dem Angeklagten Keitel auf dem Zeugenstand gegebene Darstellung als wahr erwiesen.

Die Zeugin Römer hat in dem nachgereichten Affidavit bestätigt, daß der Befehl, sowjetrussische Kriegsgefangene durch Brandmarkung zu kennzeichnen, unmittelbar nach dem Erlaß widerrufen wurde. Es ist daher auch glaubhaft, wenn der Angeklagte Keitel bekundet hat, daß dieser Befehl ohne sein Wissen herausgegangen ist, wodurch selbstverständlich die Verantwortung Keitels für die sachbearbeitende Stelle nicht bestritten werden soll.

4. Schließlich verweise ich in diesem Zusammenhang auf das hier auch zur Belastung des Angeklagten Keitel vorgelegte Dokument 744-PS vom 8. Juli 1943. Es handelt sich hier um das erweiterte Eisen- und Stahlprogramm, zu dessen Durchführung eine Deckung des Kräftebedarfs an Bergleuten aus Kriegsgefangenen befohlen wurde. Das Dokument lautet in seinen beiden ersten Absätzen:

»Der Führer hat am 7. 7. für die erweiterte Durchführung des Eisen- und Stahlprogramms eine unbedingte Sicherstellung der nötigen Kohlenförderung und hierzu die Deckung des Kräftebedarfs aus Kriegsgefangenen befohlen.

Der Führer fordert, daß nachstehende Maßnahmen mit aller Beschleunigung getroffen werden, um im Endziel dem Kohlenbergbau 300000 zusätzliche Arbeitskräfte zuzuführen.«

Der letzte Absatz hat folgenden Wortlaut:

»Zum Vortrag beim Führer meldet Chef Kriegsgefangenen-Wesen 10-tägig den Ablauf der Aktion, erstmalig zum 25. 7. 43, mit Stichtag: 20. 7. 43.«

Ich lege dieses Dokument nicht so sehr wegen seines sachlichen Inhalts vor, auf den die Verteidigung des Angeklagten Speer eingehen wird, sondern weil dieses Dokument eine symptomatische Beweiskraft besitzt für die Einlassung des Angeklagten Keitel, daß Hitler sich in besonderem Maße um das Kriegsgefangenenwesen kümmerte und höchst persönlich die grundsätzlichen und ihm wichtig erscheinenden Anordnungen traf.

5. Die mit diesem Komplex auch im Zusammenhang stehenden Fälle: Terror-Flieger, Lynch-Justiz, Kommando-Unternehmen, Partisanen-Bekämpfung werden von anderen Verteidigern behandelt. Der Angeklagte Keitel hat sich bei seiner Vernehmung und im Kreuzverhör zu diesen einzelnen Tatbeständen geäußert.

Für den subjektiven Tatbestand der behaupteten Verbrechen ist ein Element von besonderer Bedeutung: das der Kenntnis. Nicht nur für den Schuldbegriff, sondern auch für die von der Anklagebehörde daraus gezogene Schlußfolgerung: der Zustimmung, der Duldung, sowie der unterlassenen Gegenwirkung. Der Tatbestand der Kenntnis umfaßt:

1. Die Kenntnis der Dinge,

2. die Erkenntnis der Zielsetzung,

3. die Erkenntnis der Methoden, und

4. die Vorstellung und Vorstellbarkeit der Folgen.

Ich habe schon bei der Betrachtung der Frage, inwieweit der Angeklagte Keitel aus der Kenntnis des Wortlauts des nationalsozialistischen Parteiprogramms und aus dem Buche Hitlers »Mein Kampf« auf die Absicht gewaltsamer Verwirklichung der Programmpunkte schließen konnte, vorgetragen, aus welchen Gründen Keitel die Erkenntnis einer gewaltsamen Verwirklichung nicht hatte.

Die Kenntnis der beabsichtigten Angriffskriege ist von dem Angeklagten Keitel, bestätigt von Großadmiral Raeder, bis zu dem Kriege mit Polen verneint worden. Diese Stellungnahme ist sicher subjektiv insofern wahr, als Keitel ernsthaft nicht an einen Krieg mit Polen glaubte, geschweige denn an einen Krieg, in den Frankreich und England eingreifen würden. Dieser Glaube stützte sich bei Keitel und auch den anderen Militärs auf die Tatsache, daß das militärische Potential nach den bisherigen Erfahrungen nicht ausreichte, mit Aussicht auf einen Erfolg einen Krieg zu wagen, zumal, wenn er ein Zweifrontenkrieg werden würde. Unterstützend wirkte hierbei auch der am 23. August abgeschlossene Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion.

Das ist aber nicht der Kern dieses Problems. Die Reden Hitlers vor der Generalität, beginnend mit der Ansprache vom 5. November 1937, an der Keitel nicht teilgenommen hat, ließen von Mal zu Mal klarer erkennen, daß Hitler gewillt sei, seine Ziele so oder so, das heißt, wenn nicht auf friedlichem Verhandlungswege, so durch Krieg oder jedenfalls unter Ausnützung der Wehrmacht als Druckmittel zu erreichen.

Darüber kann es keinen Zweifel geben: Man mag darüber streiten, ob der Wortlaut der Reden Hitlers, über die keine amtlichen Niederschriften oder Protokollaufnahmen vorliegen, mehr oder weniger richtig wiedergegeben ist. Worüber aber kein Zweifel bestehen kann, ist, daß sie die Absicht Hitlers erkennen ließen. Es ist demnach zu unterscheiden, ob man glauben konnte, daß ein bestimmter Plan zur Ausführung kommen würde oder ob man die Erkenntnis gewinnen mußte, daß die allgemeine Aggressionsabsicht bestand. Wenn diese Erkenntnis nicht bestand, so kann dies nur damit erklärt werden, daß die Generale aus grundsätzlicher Einstellung die Frage Krieg oder Frieden nicht in ihre Überlegungen aufnahmen. Nach ihrer Einstellung war dies eine politische Frage, für die sie sich nicht zuständig hielten, da ihnen, wie hier gesagt worden ist, die Gründe für einen solchen Entschluß nicht bekannt waren und, wie der Angeklagte Keitel bekundet hat, die Generalität zu der Staatsführung das Vertrauen haben müsse, daß sie nur aus zwingenden Gründen zu einem Krieg schreiten würde. Es ist dies die Folge des traditionellen Grundsatzes, daß die Wehrmacht wohl ein Instrument der Politik ist, aber nicht selbst Politik treiben dürfe. Ein Grundsatz, der von Hitler mit aller Schärfe übernommen war. Das Gericht mag entscheiden, ob dies als eine Entschuldigung anzusehen ist.

Keitel hat auf dem Zeugenstand erklärt, daß er die Befehle, Richtlinien und Anordnungen, die so furchtbare Auswirkungen hatten, kannte und daß er sie ausgefertigt und unterzeichnet hat, ohne sich durch die möglichen Folgen beirren zu lassen.

Diese Aussage läßt drei Fragen offen:

1. die Frage der Methoden in der Durchführung der Befehle,

2. die Frage der Vorstellung der tatsächlich eingetretenen Folgen,

3. die Frage des Dolus eventualis.

In seinem Affidavit (Dokumentenbuch Nummer 12) hat der Angeklagte Keitel für den Komplex der sogenannten weltanschaulichen Befehle den Einfluß der SS-Polizeiorganisationen auf die Kriegführung und das Heranziehen der Wehrmacht in die Geschehnisse dargelegt. Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß zahlreiche Wehrmachtbefehlshaber die an sich schlimmen Befehle auf eigene Verantwortung zum Teil nicht, zum Teil in milderer Form angewandt haben. Die Methoden der SS, die den Befehlen ihre furchtbare Wirkung gaben, waren dem in bestimmten Vorstellungen alt gewordenen Soldaten Keitel fremd und daher unvorstellbar. Nach seiner Aussage sind ihm diese Wirkungen auch nicht in ihren schrecklichen Ausmaßen bekanntgeworden.

Das gleiche gilt für den Führererlaß »Nacht und Nebel«, von dem ich eben gesprochen habe. Wenn er sich aber auch durch die »möglichen« Folgen nicht beirren ließ, als er diese Befehle weitergab, so kann doch der Dolus eventualis hinsichtlich der eingetretenen Folgen nicht bejaht werden. Es ist vielmehr anzunehmen, daß, wenn er die grauenhaften Wirkungen hätte erkennen können, er trotz des Verbots von Rücktrittsgesuchen eine Folgerung gezogen hätte, die ihn von der schweren Gewissensnot befreit und nicht in den Strudel des Geschehens von Monat zu Monat mehr hineingezogen hätte.

Es mag dies eine Hypothese sein: Die Beweisaufnahme hat aber für die Richtigkeit derselben gewisse Anhaltspunkte erbracht. Die fünfmaligen Versuche, aus seiner Stellung auszuscheiden, der Entschluß, seinem Leben ein Ende zu machen, der von Generaloberst Jodl bezeugt wurde, geben Ihnen die Möglichkeit, den ernsten Willen Keitels zu unterstellen.

Wenn es nicht zur Tat wurde, so liegt das an den Umständen, die ich schon dargelegt habe: die unbedingte und, wie Keitel sagt, unabdingbare Pflicht des Soldaten, seinem Fahneneid getreu gehorsam bis zum bitteren Ende seine Pflicht zu tun.

Diese Auffassung ist dann falsch, wenn sie derart übersteigert wird, daß sie zum Verbrechen führt. Es muß aber auch bei einem solchen Soldaten berücksichtigt werden, daß er im Kriege mit anderen Maßstäben zu messen gewohnt ist. Wenn alle hohen Offiziere – auch Feldmarschall Paulus – hier die gleiche Auffassung vertreten haben, so mag man das vielleicht nicht verstehen, aber man wird ihnen die Ehrlichkeit ihrer Überzeugung nicht versagen.

Der Angeklagte Keitel hat auf die Frage, die in diesem Verfahren so oft gestellt worden ist, warum er nicht:

a) den Gehorsam verweigert, oder

b) gegen Hitler sich aufgelehnt habe,

geantwortet, daß diese Fragen von ihm auch nicht einen Augenblick in Erwägung gezogen worden seien. Er ist nach seinen Worten und nach seinem Verhalten ein unabdingbarer Soldat.

Hat er mit dieser Haltung eine Schuld auf sich geladen?

Es ist ganz allgemein das Problem, ob ein General Hochverrat begehen darf oder muß, wenn er erkennt, daß die Durchführung eines Befehls oder einer Maßnahme gegen das Völkerrecht oder gegen die Menschlichkeit verstößt.

Die Lösung dieses Problems setzt die Beantwortung der Vorfrage voraus, welche Stelle ist es, die den strafgesetzlichen Hochverrat »erlaubt oder befiehlt«. Diese Frage erscheint mir deshalb von Bedeutung, weil die Legitimation festzustellen wäre, wer dem General den Hochverrat erlauben oder befehlen kann, wer »binden und lösen« kann.

Da die derzeitige Staatsgewalt, die in diesem Falle durch das Staatsoberhaupt, identisch mit dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, repräsentiert wurde, nicht in Frage kommt, fragt es sich nur, ob es über oder außerhalb der eigenen Staatsautorität eine Macht gibt, die »binden oder lösen« konnte. Da der das Mittelalter beherrschende Machtkampf »Papst und Kaiser« keine aktuelle Bedeutung im staatsrechtlichen Sinne mehr hat, kann diese Macht nur eine unpersönliche und moralische sein; das höchste Gebot des ungeschriebenen ewigen Rechts, das unser deutscher Dichter Schiller in die Worte faßt: »Doch eine Grenze hat Tyrannenmacht...«.

Es ist nur eine der in der Weltliteratur so vielfältigen dichterischen Offenbarungen, die die tiefste Sehnsucht aller Völker nach Freiheit zum Ausdruck bringt.

Wenn es ein ungeschriebenes Gesetz gibt, das unbestreitbar der Überzeugung aller Menschen entspricht, so dieses, daß es bei aller Anerkennung der Notwendigkeit staatlicher Ordnung eine Grenze für die Freiheitsbeschränkung gibt. Wird diese überschritten, so tritt der Kriegszustand der staatlichen Ordnung mit der überstaatlichen Macht des Weltgewissens ein.

Es ist nun wichtig festzustellen, daß es bisher einen Völkerrechtssatz dieser Art nicht gegeben hat. Dies ist verständlich; denn die Relativität des Begriffes der Freiheit in den verschiedenen Staaten, die Sorge aller Staaten um ihre Souveränität, stehen in unvereinbarem Gegensatz zu der Anerkennung einer überstaatlichen Macht.

Die Macht, »die bindet und löst«, die uns vor Gott und den Menschen freistellt von Schuld, es ist das Weltgewissen, das im Einzelnen lebendig wird. Danach muß er handeln.

Der Angeklagte Keitel hat die warnende Stimme des Weltgewissens nicht gehört. Die Grundsätze seines soldatischen Lebens waren so stark in ihm verwurzelt, beherrschten sein Denken und Handeln so ausschließlich, daß er taub war gegen alle Überlegungen, die ihn vom Wege des Gehorsams und der Treue, wie er sie verstand, hätten wegführen können. Das ist die wahrhaft tragische Rolle, die der Angeklagte Keitel in diesem furchtbarsten Drama aller Zeiten gespielt hat.

VORSITZENDER: Herr Dr. Kauffmann?

Jawohl, fangen Sie an.

DR. KURT KAUFFMANN, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN KALTENBRUNNER: Herr Präsident! Zunächst bemerke ich, daß ich einige wenige Veränderungen habe, die ich dann jeweils anzeigen werde. Ich werde insgesamt etwa zwei Stunden in Anspruch nehmen.

Herr Präsident, Hohes Tribunal!

Dieser Prozeß ist Weltgeschichte! Aber Weltgeschichte voll revolutionärer Spannungen: Die Geister, die die Menschheit rief, sind stärker als der Schrei der gequälten Völker nach Gerechtigkeit und Frieden. Seit der Vergottung des Menschen und der Erniedrigung Gottes sucht das Chaos als notwendige Folge und Strafe die Menschheit heim mit Kriegen, Revolutionen, Hungersnot und Verzweiflung. Hätte mein Vaterland auch die größte Schuld, die größte Sühne, die je ein Volk geleistet hat, leistet es permanent.

Die Mittel zur Wiederherstellung der so heißersehnten Wohlfahrt sind aber falsch, weil zweitrangig. Keiner meiner Zuhörer ist in der Lage, mich Lügen zu strafen, wenn ich behaupte, daß dieser Prozeß nicht am Ende einer Periode des Unrechts beginnt, um sie abzuschließen, sondern umbrandet wird von den Wogen eines rasenden Stromes, auf dessen Oberfläche die Trümmer einer jahrhundertelang behüteten Zivilisation hoffnungslos dahintreiben und auf dessen tiefem dämonischen Grund die Hasser des wahren Gottes, die Feinde der christlichen Religion und damit die Widersacher aller Gerechtigkeit lauern.

Die europäische Völkerordnung, darin mein Vaterland, das schon durch seine geographische Lage das Herzstück war, ist schwer krank. Sie leidet am Geiste der Verneinung und Erniedrigung der Würde der menschlichen Natur; Rousseau müßte seine Maximen verfluchen, wenn er die radikale Widerlegung seiner Thesen in diesen Jahren des 20. Jahrhunderts erlebt hätte. Die Völker hatten die »Freiheit« der großen Revolution verkündet, aber im Laufe von nur 150 Jahren haben sie im Namen eben dieser Freiheit jenes Ungeheuer der Unfreiheit, grausamer Versklavung und Gottlosigkeit gezeugt, das sich der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen wußte, dem lebendigen Gott aber nicht entgangen ist.

Dieses Tribunal muß im Bewußtsein seiner Aufgabe und Sendung einst vor dem prüfenden Auge der Geschichte bestehen. Ich zweifle nicht daran, daß die erwählten Richter der Gerechtigkeit zu dienen bestrebt sind, die ihnen vorschwebt. Aber ist diese Aufgabe nicht dennoch unlösbar? Der Herr amerikanische Hauptankläger hat erklärt, daß in seinem Land Prozesse von Bedeutung selten vor Ablauf eines oder zweier Jahre begännen. Den tieferen Wahrheitskern dieser Praxis brauche ich nicht zu beleuchten. Ob es irdischen Menschen mit ihren Zwiespältigkeiten zwischen Liebe und Haß, Gerechtigkeit und Rache möglich ist, einen Prozeß unmittelbar nach der größten bisher bekannten Katastrophe der Menschheit, und ständig getrieben von der statutarisch verankerten Forderung nach zeitsparender schneller Verhandlung so durchzuführen, daß sie auch dann noch den Dank der Völker verdienen, wenn die Wasser dieser zweiten Sintflut in ihr eigenes Bett zurückgetreten sein werden?

Hätte man nicht vielleicht gerade dieses Verfahren unter jenes oben erwähnte Gebot der Distanz zwischen Verbrechen und Sühne stellen sollen?

Recht kann nur gestaltet werden, wenn das Gericht jene innere Freiheit und Unabhängigkeit hat, die sich nichts anderem unterworfen fühlen, denn dem Gewissen und Gott selbst. In meinem Vaterland war dieses heilige Tun weithin, aber in erster Linie in der hohen politischen Schicht der Nation, in Vergessenheit geraten. Hitler hatte das Recht zur Dirne des Zweckes erniedrigt. Dieses Gericht will aber der Welt beweisen, daß der Nutzen der Völker allein im Recht selbst liegt. Und kein anderer Gedanke könnte bei allen gutgesinnten Menschen mehr Freude und Zuversicht auslösen, als der der uneigennützigen Gerechtigkeit.

Ich übe keine Kritik an dem Grundgesetz des Statuts, erhebe aber wohl die Frage, ob je in der Welt das Recht gefunden wurde, ja überhaupt gefunden werden konnte, wenn zwar die Macht der Vernunft den Tribut zollte, indem sie überhaupt ihrem Gegner ein geregeltes Prozeßverfahren gewährte, wenn aber die Macht sich nicht entschließen konnte, ihren Tribut an die Vernunft zu krönen durch die Einsetzung eines wahrhaft internationalen Tribunals; denn wenn auch 19 Nationen sich zu den Rechtsgedanken des Statuts bekannt haben: Das gesetzte Recht anwenden, ist weit schwieriger.

Der Herr amerikanische Hauptankläger hat mit Nachdruck erklärt, er denke nicht daran, das ganze deutsche Volk schuldig zu halten, aber die Protokolle dieses Tribunals, die die Geschichte einmal genau betrachten wird, enthalten doch für uns Deutsche sehr viel Falsches und deshalb Bitteres, enthalten leider auch wiederholt ausdrücklich Fragen der Französischen Anklage, inwieweit zum Beispiel gewisse Humanitätsverbrechen im deutschen und außerdeutschen Raum zur Kenntnis der Bevölkerung gekommen seien; ja, die Französische Anklage hat sogar ausdrücklich die Frage gestellt: »Konnten diese Greueltaten im allgemeinen unbekannt bleiben für das ganze deutsche Volk, oder sind sie zu seiner Kenntnis gekommen?«

Diese und ähnliche Fragestellungen sind nicht geeignet, ein so schweres und tragisches Problem auch nur im geringsten der Wahrheit entsprechend zu lösen: Insofern in einem Volk das Böse die Oberhand behält, das stets organisch wächst und sich ankündigt, insofern trägt jeder zur Vernunft gelangte Mensch für Katastrophen seines Volkes eine Schuld. Aber selbst diese, im metaphysischen Bereich liegende Schuld könnte niemals zu einer Gesamtschuld eines Volkes werden, wenn nicht auch jeder einzelne aus diesem Volk eine Individualschuld auf sich geladen hätte. Wer würde aber berechtigt sein, eine solche ohne Prüfung der tausend Einzelumstände festzustellen?

Noch schwieriger aber wird das Problem, wollte man, worauf sie abzielt, die sogenannte Schuld des Volkes für die in den letzten Jahren seitens der Staatsomnipotenz, in welcher ihrer Formen auch immer, begangenen konkreten Verbrechen gegen Frieden, Menschlichkeit und so weiter festzustellen versuchen. Man müßte genauestens die Lage des Reiches vor 1933 ins Auge fassen. Das ist hinreichend geschehen, und ich spreche hierüber nicht.

Hitler nahm Begriffe von tiefer Bedeutung für sich allein in Anspruch, den sprichwörtlichen deutschen Fleiß, die Einfachheit, den Familiensinn, die Opferkraft, den Adel der Arbeit und hundert andere Dinge mehr. Millionen glaubten, Millionen glaubten nicht. Die besten Menschen gaben die Hoffnung nicht auf, die von ihnen erahnte Tragödie abwenden zu können. Sie warfen sich in den Strom der Ereignisse, sammelten die Guten und kämpften sichtbar oder unsichtbar gegen die Bösen. Kann man es dem einfachen Mann des Volkes übelnehmen, wenn er nicht geneigt war, Hitler sofort jede Glaubwürdigkeit abzusprechen, der sich ja als Wahrheitssucher auszugeben verstand und den Friedliebenden immer wieder die hocherhobene Friedenspalme zeigte? Wer weiß, ob er nicht ganz am Anfang selbst der Überzeugung war, er könne das Reich starken ohne Krieg? Nach der Machtübernahme durften sich weite Kreise des deutschen Volkes im Einklang fühlen mit vielen anderen Völkern der Erde. So ist es nicht verwunderlich, daß Hitler mit Zustimmung oder Duldung des Auslandes allmählich den Nimbus des Säkularmenschen erlangte. Nur der Deutsche, der in den vergangenen Jahren in Deutschland wohnte und nicht vom Ausland her den deutschen Raum gleichsam mit dem Fernrohr absuchte, ist im letzten berechtigt, über die historischen Tatsachen einer fast undurchdringlichen Geheimhaltungsmethode, über die Psychose der Furcht und die faktische Unmöglichkeit zur Änderung des Regimes endgültig Aufschluß zu geben und damit die Forderung Rankes an den Historiker zu erfüllen, festzustellen »wie es war«.

Sollten die Handwerker oder Bauern oder Kaufleute oder Hausfrauen und so weiter von Hitler oder Himmler kategorisch Abänderung verlangt haben? Ich möchte den Anklägern ruhig die Antwort überlassen, glaube ich doch, daß in meinem Vaterland nicht weniger ideal gesinnte und heroische Menschen leben als in jedem anderen Lande.

Wie groß die Zahl der Deutschen war, die die Konzentrationslager und ihre Zahl, ihren Terror und so weiter kannten und zustimmten, wird sich niemals ermitteln lassen. Nur wenn Kenntnis und Zustimmung in der Seele jedes einzelnen Deutschen unter Berücksichtigung aller allgemeinen und besonderen Verhältnisse in Deutschland der letzten zwölf Jahre festgestellt werden könnten, die zu erörtern hier nicht der Augenblick ist, könnte man diese, aber auch nur diese insoweit für schuldig halten. Es ist also, glaube ich, nicht gerechtfertigt, an Stelle der für alle Kulturnationen geltenden Grundsätze der Individualverantwortung den der Kollektivschuld in mehr oder minder großem Umfang zu setzen, der leider auch von dem nationalsozialistischen Regime auf ein Volk angewandt worden war und fast zu dessen völliger Ausrottung geführt hätte. Möchte der Artikel 231 des Versailler Vertrags, jenes folgenschwere Dokument des 20. Jahrhunderts, keine Wiederholung erfahren.

Lassen Sie mich einige Worte sprechen über diese Geheimhaltung. Dieser Prozeß hat mit eindeutiger Klarheit ergeben, daß der Staat selbst jedes Bekanntwerden solcher sein Ansehen und seine wahren Absichten diskreditierenden Vorgänge zu unterbinden wußte. Selbst die hier angeklagten Männer, die die Anklage als Verschwörer bezeichnet oder die meisten vielleicht von ihnen, sind dem ausgeklügelten System der Geheimhaltung mehr oder weniger zum Opfer gefallen. Einen besonderen Raum in diesem System der Geheimhaltung nimmt der von Hitler befohlene, von Himmler, Eichmann und einem Kreis von Eingeweihten durchgeführte Plan der biologischen Ausrottung des jüdischen Volkes ein, der jahrelang unter der zunächst nicht erkennbaren Bezeichnung einer »Endlösung« das schauerliche Vorhaben zu tarnen wußte. Das Volk hatte das Problem der Judenfrage...

VORSITZENDER: Herr Dr. Kauffmann! Dem Gerichtshof erscheint die Einleitung sehr lang für die Verteidigung des Angeklagten Kaltenbrunner, der in Ihren bisherigen Ausführungen noch nicht erwähnt worden ist. Wäre es nicht an der Zeit, daß Sie den Fall des Angeklagten, den Sie hier vertreten, behandeln? Wir befassen uns nicht mit einer Anklage gegen das deutsche Volk, sondern mit der Anklage gegen den Angeklagten. Das ist alles, was wir jetzt verhandeln.

DR. KAUFFMANN: Ich würde sofort, Herr Präsident, mit den nächsten Sätzen damit aufgehört haben. Aber ich bitte zu verstehen, daß im Mittelpunkt der Anklage meines Falles das schwere und tiefe Wort der Humanität steht; ich glaube, ich bin der einzige der Verteidiger, der darüber etwas tiefergehende Ausführungen macht, und ich bitte, mir diese wenigen Ausführungen nicht abzuschneiden. Ich werde sofort auf den Fall Kaltenbrunner kommen.

VORSITZENDER: Auf Seite 8 haben Sie die Überschrift: »Die geistesgeschichtliche Entwicklung in Europa«. Das scheint etwas sehr weit von dem Thema entfernt, mit dem sich der Gerichtshof zu befassen hat.

DR. KAUFFMANN: Herr Präsident! Darf ich daran erinnern, daß auch seitens der Herren Hauptanklagevertreter, insbesondere des Herrn de Menthon diese Frage erörtert worden ist. Ich glaube nicht, meiner Aufgabe gerecht werden zu können, wenn ich diese ungeheuerlichen Verbrechen lediglich als empirische Tatsachen werte. Es muß einem Deutschen Gelegenheit gegeben sein, eine kurze Entwicklung – und sie ist ganz kurz – zu geben. Ich komme mit wenigen Seiten bereits auf den Fall Kaltenbrunner, und mein Plädoyer wird sowieso das kürzeste sein, das wahrscheinlich hier gehalten wird.

VORSITZENDER: Herr Dr. Kauffmann! Der Gerichtshof ist bestrebt, die Fälle, über die er zu Gericht sitzt, soweit wie möglich im Einklang mit dem Gesetz zu entscheiden und nicht auf Grund einer sehr allgemeinen, sehr unbestimmten und unklaren philosophischen Lehre, mit welcher Sie sich in den ersten zwölf Seiten Ihrer Rede zu befassen scheinen. Der Gerichtshof würde es daher entschieden vorziehen, wenn Sie diese Stellen nicht verlesen würden. Wenn Sie jedoch darauf bestehen... Der Gerichtshof ist jedoch der Ansicht, daß dies für den Fall des Angeklagten Kaltenbrunner nicht erheblich ist. Der Gerichtshof würde es vorziehen, daß Sie auf Seite 13 beginnen, wo Sie wirklich auf den Fall des Angeklagten zu sprechen kommen.

DR. KAUFFMANN: Herr Präsident! Es ist natürlich sehr schwer für mich, nun ein Plädoyer, das an sich schon sehr zusammengedrängt ist, noch mehr auseinanderzureißen. Es ist wirklich schwer. Ich glaube, das Gericht wird das auch verstehen...

VORSITZENDER: Herr Dr. Kauffmann! Was Sie bis jetzt vorgelesen haben, war nicht konzentriert. Es war alles sehr allgemein gehalten.

DR. KAUFFMANN: Dann darf ich wenigstens unter der Überschrift über die Verteidigung wenige Sätze vorlesen. Es beginnt mit den Worten...

VORSITZENDER: Können Sie das Allgemeine, was Sie zu sagen beabsichtigen, nicht zusammenfassen, bevor Sie auf den Angeklagten Kaltenbrunner zu sprechen kommen?

DR. KAUFFMANN: Ja, ich will es versuchen. In dem kurzen Kapitel, das sich mit der Aufgabe der Verteidigung befaßt, will ich wenige Sätze nur zum Verständnis herausgreifen. Ich sage, daß die Verteidigung eingerichtet ist durch das Statut, und ich lege mir die Frage vor, wie angesichts solcher Exzesse eine Verteidigung noch eine Aufgabe erkennen kann. Ich sage dann:

In diesem Prozeß sind Wahrheit und Irrtum geheimnisvoll vermischt, mehr als wohl je in einem großen Prozeßverfahren. Zu versuchen, die Wahrheit zu ermitteln, erhebt den Verteidiger zu der Würde des Gehilfen des Gerichts. Sie berechtigt den Verteidiger, nicht nur die Glaubwürdigkeit der Zeugen anzuzweifeln, sondern auch die der Dokumente, vor allem der Regierungsberichte. Sie berechtigt den Verteidiger zu erklären, daß solche Berichte, mögen sie auch im Statut als Beweismittel zugelassen sein, nur unter Bedenken entgegengenommen werden dürfen, denn kein Angeklagter und kein Verteidiger und kein neutraler Bevollmächtigter konnte auf ihr Zustandekommen einwirken. Diese Aussagen vollzogen sich gewiß im Raume des Rechts, aber auch im Raume der Macht.

Indem das Volk oder ein großer Teil des Volkes in seinem Bestreben, Glück und Frieden zu finden, den Vertreter einer Irrlehre zum Führer erhob, und indem dieser Führer die Gutgläubigkeit seiner Anhänger mißbrauchte, indem dieses Volk dann nicht mehr die Kraft zum rechtzeitigen Widerstand fand und in einen riesengroßen Abgrund der Vernichtung seiner gesamten völkischen, politischen, seelischen und wirtschaftlichen Existenz stürzte: Das alles ist tragisch im echten Sinne des Wortes. Würde man den einzelnen Mann auf der Straße und die Mutter im Hause und ihre Söhne und Töchter gefragt haben, ob sie Frieden wollten oder Krieg, sie würden freiwillig niemals das Los des Krieges gezogen haben. Das Unbefriedigende an diesem Prozeß ist die Abwesenheit des Mannes...

VORSITZENDER: Lesen Sie jetzt irgendwo aus Ihrem Dokument vor?

DR. KAUFFMANN: Ich habe einige Sätze vorgelesen, Herr Präsident, jawohl. In meinem deutschen Exemplar auf Seite 7.

VORSITZENDER: Können Sie die Argumente, die Sie jetzt vortragen, nicht zusammenfassen?

DR. KAUFFMANN: Herr Präsident! Ich bitte, mir noch einmal vielleicht zu sagen, ob das Gericht in gar keiner Weise wünscht, daß ich diesen geistesgeschichtlichen Hintergrund etwas beleuchte, der hierzu erst das Verständnis gibt, für die Existenz, für die Humanitätsverbrechen, für den Friedensbruch. Wenn das Gericht mir erklärt, es wünscht diese Ausführungen überhaupt nicht, dann werde ich mich natürlich dem Wunsch des Gerichts keineswegs verschließen. Aber man kann ein solches Phänomen...

VORSITZENDER: Herr Dr. Kauffmann! Wenn Sie die Verlesung dieser Stelle für nötig halten, so können Sie es tun. Wie ich Ihnen bereits angedeutet habe, ist der Gerichtshof der Ansicht, daß sie tatsächlich sehr weit vom Gegenstand der Verhandlung entfernt ist.

DR. KAUFFMANN: Ich danke sehr. Ich werde dann einige Seiten überspringen und nur einige vier bis fünf Seiten kurz zusammengedrängt vortragen, über das Thema, das ich soeben kurz berührt habe. Das beginnt mit der Überschrift: »Die geistesgeschichtliche Entwicklung«

Der Aufstieg und der in Ausmaß und Folgen einzigartige Niederbruch Hitlers mag von welcher Seite auch immer betrachtet werden: Aus der Perspektive der historischen...

VORSITZENDER: Auf welcher Seite lesen Sie?

DR. KAUFFMANN: Herr Präsident! Nach meinem deutschen Exemplar auf Seite 8.

»Die geistesgeschichtliche Entwicklung in Europa.«

VORSITZENDER: Fahren Sie fort.

DR. KAUFFMANN: Aus der Perspektive der historischen Schau deutscher Geschichte oder der angeblichen Zwangsläufigkeit wirtschaftlicher Kräfte, aus der soziologischen Schichtung seiner Menschen, der völkischen und charaktermäßigen Bedingtheiten des deutschen Menschen, oder der Fehler, die die anderen, im gleichen Hause wohnenden Brüder und Schwestern der Völkerfamilie im politischen Raum begangen haben: Alles dies rundet gewiß das Bild der Analyse ab, fördert aber nur immer Teilerkenntnisse und Teilwahrheiten zutage. Der tiefste und zugleich verhängnisvollste Grund für das Phänomen Hitler liegt auf metaphysischem Gebiet.

Der zweite Weltkrieg ist im Endergebnis nicht vermeidbar gewesen. Wer freilich die Welt und ihre Erscheinungen nur unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Probleme sieht, der mag glauben, daß der Krieg, und zwar sowohl der erste als auch der zweite Weltkrieg, bei vernünftiger Verteilung der Güter dieser Erde hätte vermieden werden können. Isoliert für sich betrachtet, vermögen wirtschaftliche Voraussetzungen allein das Antlitz der Erde niemals umzugestalten; deshalb ist die Veränderung der äußeren Lebensbedingungen des deutschen Volkes, die Demoralisierung der nationalen Seele durch den Vertrag von Versailles, Inflation, Arbeitslosigkeit, der äußere Anlaß für Hitler geworden. Es ist wohl möglich, daß Katastrophen sich vielleicht um Jahre oder Jahrzehnte verschieben, wenn gewisse äußere Lebensbedingungen das Dasein der Völker und Menschen untereinander scheinbar glücklicher gestalten. Niemals kann jedoch eine kranke Idee durch wirtschaftliche Dispositionen allein ausgelöscht und ihrer Schädlichkeit für den einzelnen und für die Völker entkleidet werden, es sei denn, die Menschen überwinden und ersetzen diese Ideen im Geiste durch bessere.

In der Art und Weise, wie die Menschen und Völker den Namen Gottes aussprechen, sagt der berühmte Donoso Cortes, liegt die Lösung der gefürchtetsten Probleme. Hier haben wir die Erklärung für die providentielle Mission der einzelnen Völker, der Rassen, für die großen Wandlungen der Geschichte, für den Aufstieg und den Fall der Weltreiche, für die Eroberungen und Kriege, für die verschiedenen Charaktere der Völker, für die Physiognomie der Nationen, ja selbst für ihr Wechsel volles Glück.

Herr de Menthon hat den Versuch zu einer geistigen Analyse des Nationalsozialismus unternommen. Er sprach von der »Sünde wider den Geist« und sieht die tiefen Ursachen des Systems letzten Endes in der Abkehr vom Christentum.

Hierzu einige wenige Worte. Hitler war nicht ein Meteor, dessen Niederfallen unberechenbar und unvoraussehbar war. Er war Exponent einer im letzten atheistischen und materialistischen Weltanschauung.

Es ist Grund genug, darüber nachzudenken, daß, obgleich der Nationalsozialismus durch den völligen Niederbruch des Deutschen Reiches ausgeschaltet, die Welt also von der von allen Völkern verkündeten deutschen Gefahr befreit ist, keine entscheidende Wendung zum Besseren eingetreten ist. Kein Friede hat die Herzen erfüllt. Keine Ruhe ist in irgendeinem Winkel des Daseins eingezogen. Gewiß wird stets der Niederbruch eines gewaltigen Staates mit all seinen Kräften physischer und seelischer Natur noch lange Zeit Wellen schlagen, wie der See in Bewegung gerät, wenn man einen großen Stein in die ruhigen Wasser schleudert. Was zur Zeit in Europa und in der Welt geschieht, ist aber weit mehr, ja etwas völlig anderes, als nur das Abebben eines solchen Ereignisses. Die Wellen des Sees dringen, um bei dem Vergleich zu bleiben, neu aus der Tiefe; sie werden gespeist aus geheimnisvollen, immer neu auftauchenden Kräften. Es sind dies jene unruhevollen und auf Völkerkatastrophen hinzielenden Ideen, von denen ich sprach, und nichts könnte mich Lügen strafen, wenn ich behaupte, daß alle, Sieger und Besiegte, mitten in der Krisis leben, die wie ein ungeheuerer, anscheinend unabwendbarer Alpdruck das Gewissen der einzelnen und der Völker beunruhigt und über die Strafe von schuldiggewordenen Einzelmenschen hinaus Ausschau halten läßt nach jenen Mitteln und Wegen, die der Menschheit eine noch größere Katastrophe zu ersparen vermöchten.

In seinen »Bekenntnissen eines Revolutionärs« hat Proudhon, der scharfsinnige Sozialist, die denkwürdigen Worte niedergeschrieben: »Jede große politische Frage schließt auch stets eine theologische in sich.« Diese Worte prägte er vor 100 Jahren. Es ist höchst aktuell, daß der amerikanische General Mac Arthur bei der Unterzeichnung des japanischen Kapitulationsvertrags jenes tiefe Wort sinngemäß wiederholt, indem er sagte: »Wenn wir nicht ein besseres und größeres System entstehen lassen, wird der Tod an unserer Türe stehen. Das Problem ist im Grunde genommen ein theologisches.«

Die Veränderungen der religiösen Werte machen die Geschichte. Sie sind die stärksten Triebfedern des Kulturprozesses der Menschheit. Lassen Sie mich in ganz wenigen, großen Strichen diese geistesgeschichtliche Vaterschaft des Nationalsozialismus aufzeigen.

VORSITZENDER: Herr Dr. Kauffmann! Es ist jetzt 13.00 Uhr. Ich muß sagen, daß die letzten zwei Seiten, die Sie verlesen haben, meiner Meinung nach absolut nichts mit Verbrechen gegen die Humanität oder mit anderen Fällen zu tun haben, mit welchen wir uns hier zu beschäftigen haben. Ich möchte darauf nur hinweisen, daß die nächsten Seiten unter der Überschrift »Renaissance, Subjektivismus, Französische Revolution, Liberalismus, Nationalsozialismus«, wahrscheinlich ebenfalls ohne jeden Einfluß auf den Gerichtshof sein werden.

Der Gerichtshof vertagt sich nunmehr.