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[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]

Nachmittagssitzung.

DR. KAUFFMANN: Herr Präsident! Ich übergehe nunmehr die Ausführungen, die die Überschrift tragen: »Renaissance, Subjektivismus, Französische Revolution, Liberalismus, Nationalsozialismus«. Der Inhalt dieser Ausführungen läßt sich mit zwei bis drei Sätzen zusammenfassen. Ich bitte nur, vielleicht davon Kenntnis zu nehmen; ich habe darauf hingewiesen, daß die Ursache dieser ganzen unheilvollen Bewegungen die geistige Haltung ist, die Jacques Maritain als den anthropozentrischen Humanismus nennt.

Das Getöse des großen Kampfes zwischen Mittelalter und Neuzeit erfüllte die letzten Jahrhunderte bis zu dieser Stunde. Zu den Opfern gehören seit 1914 erstmals die Frauen, seit 1939 erstmals die Kinder. Die apokalyptische Schlacht ist voll entbrannt um den 2000jährigen Sinn des Abendlandes, des Mutterlandes sowohl der sachlichen als auch der persönlichen Kultur der Menschheit. Ihr Gegenstand ist der ständig anwachsende anthropozentrische Humanismus, der den Menschen zum Maß aller Dinge macht, ist die Säkularisation der Religiösen. Sie kündigt sich an in der Renaissance, wird vollends deutlich in der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts und in den geistigen Bewegungen des 19. Jahrhunderts.

Wie viele berechtigte Ursachen und Anlässe vorlagen, der Weg über die Renaissance und Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts hat sich als falsch erwiesen. Ganz an seinem Ende steht vorläufig die Weltanschauung des Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus gipfelte in den Köpfen seiner extremsten Verfechter in der radikalen Forderung des Kampfes gegen das Christentum auf Leben und Tod. Daher war diese Lehre auch im tiefsten eine Weltanschauung ohne Liebe und ließ, weil sie dies war, das Licht der Vernunft bei den ihm Verfallenen erlöschen. Insofern hat das Haupt dieser Irrlehre noch selbst eine Wahrheit verkündet. Goethe hat das Problem so ausgedrückt; »Die Weltgeschichte ist der Kampf zwischen Glaube und Unglaube.« Und ich sage unter Berufung auf die Aussprüche der größten Geister aus allen Lagern religiöser Einstellung, daß die Geschichte der Völker, wie sie vorher ein Kampf um das natürliche göttliche Recht des Menschen war, seit 2000 Jahren ein Kampf der Geister ist um den christlichen Menschen. In der Tat sind diese Wahrheiten solche, die man auch nicht nur für einen kurzen Augenblick in Zweifel ziehen darf, ohne daß nicht sofort der Verstand ins Wanken gerät und hilflos zwischen Wahrheit und Irrtum hin und her taumelt. Es gibt zu denken, daß Hitler jene wundervolle Haltung eines wahrhaft gütigen Menschen verwarf, die wir Demut nennen, weil er sich selbst für Machiavelli und Nietzsche entschieden hatte und daß jetzt das Maß des deutschen Menschen eine Erniedrigung ohne Beispiel ist. Es gibt zu denken, daß Hitler die Tugenden des Mitleids und der Barmherzigkeit verneinte und daß jetzt Millionen von Frauen und Kindern die Hände erheben; daß jetzt das scheinbar getötete »Recht« riesengroß emporwächst, während Hitler sich mit Unrecht umgab. Die eigentliche und letzte Wurzel dieser unheilvollen modernen Bewegungen, welche Staat, Gesellschaft und Christentum bedrohen, ist jener wurzellose Liberalismus im Sinne des vorhin genannten anthropozentrischen Humanismus, wie Maritain ihn nennt. Der Mensch und seine autonome Vernunft werden zum Maß aller Dinge. Es müßte sich für jeden denkenden Menschen die Frage ganz von selbst aufdrängen, warum gerade seit der Wende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein Menschlichkeitskatastrophen eingetreten sind, die in der Geschichte, ich möchte fast sagen, nur eine Parallele zu kosmischen Katastrophen finden. Zwei Weltkriege, dazu Revolution als Auftakt, sind niemals eine zufällige sondern nur die zwangsläufige Entwicklung des Menschengeschlechtes auf dem Boden einer bestimmten geistig-religiösen Fehlentwicklung.

Die Aufklärung fand von England kommend ihren Weg nach Frankreich und nahm dort bei ihrem Eintritt eine neue Physiognomie an. Ich glaube, das Heldentum der Antike hatte in Bezug auf Voltaire kaum etwas Ähnliches. Sobald die Aufklärung die Staatsreligion Frankreichs geworden war, loderte auch schon die Französische Revolution auf und schrieb mit Flammenschrift die Idee des »emanzipierten Menschenrechts« an den Himmel Europas. Trotz der Verkündung der Menschenrechte wateten die Menschen durch Blut, als ob dies der Weg zur Freiheit wäre. Schneidendes Hohngelächter über alles Heilige ging durch die rasenden Massen. Als die Französische Revolution ihren Vernunftstaat verwirklicht hatte, stellten sich die neuen Einrichtungen keineswegs als vernünftig heraus. Die Brüderlichkeit war, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, ein bitter enttäuschendes Zerrbild. Bald war der Sieg dieser Idee auch für Deutschland entscheidend, denn Deutschland blickte in diesem Jahrhundert mit Verwunderung und Ehrfurcht nach Frankreich. Die geoffenbarte Religion wurde zur reinen Humanitätsreligion. Den letzten Schritt tat Kant, er zog die letzten Konsequenzen aus dem Prinzip der freien Forschung. Hegel schaffte den persönlichen Gott ab und ersetzte ihn durch die absolute Vernunft. Der Staat ist alles, er ist Gott, sein Wille Gottes Wille, ihm gegenüber gibt es keine Naturrechte; er schafft Religion, Recht und Sittlichkeit kraft eigener Souveränität. Hitler verlegte von neuem die Souveränität in das Volk als Rasse. Hegels Schüler zerstörten vollends alle sittlichen Unterlagen von Gesellschaft, Staat und Recht. Nur das Genie eines Leibniz, in dem sich zum letzten Male der Geist der deutschen Nation zu konzentrieren versuchte, stand einsam im Meere der Aufklärungsphilosophie. Voltaire spottete über den deutschen Denker nicht bloß in Frankreich, sondern auch in Berlin. Die letzten Stationen knüpfen an die Namen Nietzsche und anderer an. Nietzsche hat wie kein neuzeitlicher Mensch die modernen Ideen zu Ende gedacht und mit unerschrockener logischer Konsequenz das ausgesprochen, worauf die bisherige Entwicklung unentrinnbar hinaustreiben mußte.

So geht von Kaligula und Julian Apostata der Weg über viele, von der großen Welt verherrlichte, in Wahrheit zerstörend wirkende Geister unmittelbar zu Hitler.

Antikes Heidentum – modernes Heidentum; welches ist wohl das schlimmere? Darum gibt es auch, wie Donoso Cortes so weise darlegt, für die Gesellschaften, die für den strengen Kult der Christlichen Wahrheit den Götzendienst der Vernunft eingetauscht haben, keine Hoffnung mehr. Hinter den Sophismen kommen die Revolutionen, und hinter den Sophisten schreiten die Henker.

Als Hitler, aus dem ersten Weltkrieg heimkehrend, sich, wie er sagte, entschloß, Politiker zu werden, erklärte er, die Kräfte gefunden zu haben, deren nationale und soziale Elemente die Verwirklichung der deutschen Not beheben könnten. Aber seine Weltanschauung war im Grunde genommen nur ein weiterer Schritt auf dem bereits eingefahrenen Wege zur völligen Autonomie der sogenannten natürlichen Vernunft, auf die er sich ja oft und oft berief. Natürlich hatte er seine Vorbilder. Die Apotheose des eigenen Volkes geht auf Fichte zurück; das Ideal des Herrenmenschen auf Nietzsche; die Relativierung der Moral und des Rechts auf Machiavelli, der Rassenkult auf den Darwinismus. Wir sind Zeugen ihrer praktischen Auswirkung geworden; denn dieser Weg führt ohne Biegung in die Konzentrationslager, die Vernichtung anderer Rassen, der Christenverfolgung. Aber auch die äußeren Feinde des Nationalsozialismus unterlagen der gleichen verhängnisvollen Sphäre der »natürlichen Vernunft«, indem sie Millionen von Wohnstätten in deutschen Dörfern und Städten und ebenso viele nichtkämpfende Frauen und Kinder mit ihren Bomben in den Tod sandten. Mit »militärischen Notwendigkeiten« im Sinne des Statuts darf auch der Sieger, auch selbst nicht in einem Abwehrkrieg, diese Ereignisse zu entschuldigen versuchen. Auch die Kulturwerte dieser Stadt, in der dieses Gericht tagt, oder in Dresden, Frankfurt und vielen anderen Städten, waren geistiges Eigentum des gesamten Abendlandes. Das alles, auch die riesige Not der Flüchtlingsströme des Ostens und das Los der Kriegsgefangenen, gehört mit zum Thema der geistesgeschichtlichen Analyse des Nationalsozialismus.

In dieser geistigen Gesamtsituation steht die Gestalt des Angeklagten Dr. Kaltenbrunner. Das Vaterland blutete bereits aus tausend Wunden seiner empfindsamen Seele wie seiner gigantischen Kraft. Ist dieser Mann schuldig? Er hat seine Schuld verneint und doch bejaht. Sehen wir, was richtig ist!

Wie ich bereits betonte, war Kaltenbrunner bis zum Jahre 1943 ein im Vergleich zu den übrigen hier angeklagten Persönlichkeiten in Deutschland fast unbekannter Mann, jedenfalls derjenige, der sowohl zu der deutschen Öffentlichkeit als auch zu den hohen Funktionären des Regimes kaum näher in Verbindung getreten war. Damals, als das Schicksal des deutschen Volkes militärisch, wirtschaftlich und politisch schon rasend schnell dem Abgrund zurollte, waren Haß und Grauen vor der Exekutive auf dem Höhepunkt, zumal das lähmende Gefühl der Aussichtslosigkeit jedes Widerstandes gegen den Terror des Regimes zu weichen begann; denn man hatte sich bereits endgültig von der propagandistisch verkündeten Legende der Unbesiegbarkeit abgewendet. Sozusagen plötzlich und ohne das Vorhandensein besonderer Eignung, noch weniger irgendeiner Bewerbung, wird Kaltenbrunner aus seinem, bis dahin zurückgezogen geführten und wohl auch, trotz des österreichischen Anschlusses, völkerrechtlich-kriminell nicht belasteten Lebens – und hier schalte ich ein, er kam aus Österreich, ich möchte fast sagen, bona fide – wird er gezogen in das Netz des größten Gehilfen des größten Mörders. Nicht freiwillig, im Gegenteil, gegen seinen wiederholten Widerstand und entgegen seinen Bemühungen, zur kämpfenden Front abgestellt zu werden.

Ich kann durchaus verstehen, daß man mir entgegenhalten wird, ich möge es mir angesichts des Meeres von Blut und Tränen ersparen, die seelische und charakterliche Physiognomie dieses Mannes zu beleuchten. Aber ganz im letzten – und ich bitte, dies nicht falsch zu verstehen – bewegt mich bei meinem Beruf als Verteidiger auch dieses Mannes die weltweite, für die heutige Generation kaum noch verständliche These des großen Augustinus: »Hasse den Irrtum, aber liebe den Menschen«. Liebe, ja insofern, als sie die Gerechtigkeit durchdringen soll; denn Gerechtigkeit ohne diesen Adel wird zur bloßen Rache, von der ja die Anklage in ausdrücklichen Worten abzurücken behauptet. Deshalb muß ich um dieser Gerechtigkeit willen Ihnen zeigen, daß Kaltenbrunner nicht des Geistes Kind ist, als das ihn die Anklage wiederholt bezeichnet hat: nämlich den »kleinen Himmler«, seinen »Vertrauten«, den »zweiten Heydrich«. Ich glaube, er ist nicht das eiskalte Wesen, von dem der Zeuge Gisevius, allerdings nur vom Hörensagen, in so restlos negativer Weise hier berichtet hat. Der Angeklagte Jodl hat hier vor Ihnen bekundet, daß Kaltenbrunner nicht zu den Vertrauten Hitlers gehörte, die sich jeweils nach den täglichen Lagebesprechungen im Führerhauptquartier um ihn versammelten. Der Zeuge Dr. Mildner, ohne daß die Anklage dessen Bekundung in Zweifel gezogen hätte, hat aus unmittelbarer Beobachtung erklärt:

»Aus eigener Erkenntnis kann ich bestätigen: Ich kenne den Angeklagten Kaltenbrunner persönlich. Er war in seinem Privatleben ein untadeliger Mann. Nach meinem Dafürhalten geschah seine Berufung vom Höheren SS- und Polizeiführer zum Chef der Sicherheitspolizei und des SD, weil Himmler nach dem Tode seines Hauptrivalen Heydrich im Juni 1942 keinen Mann mehr neben oder unter sich duldete, der ihn in seiner Stellung hätte in Gefahr bringen können. Für Himmler war der Angeklagte Kaltenbrunner zweifellos der Ungefährlichste. Kaltenbrunner hatte keinen Ehrgeiz, sich durch besondere Taten Geltung zu verschaffen und eventuell Himmler zu verdrängen. Von Machthunger konnte bei ihm keine Rede sein. Es ist falsch, ihn als den ›kleinen Himmler‹ zu bezeichnen.«

In gleicher Weise haben sich die Zeugen von Eberstein, Wanneck und Dr. Höttl geäußert.

Trotzdem hat dieser Mann das Amt des Reichssicherheitshauptamtes übernommen, ja, er hat es auch tatsächlich, trotz seiner Verabredung mit Himmler, in vollem Umfang übernommen.

Ich weiß, daß dieser Mann heute an der Katastrophe seines Volkes und der über sein eigenes Gewissen gekommenen Unruhe schwer leidet; nichts ist ja auch verständlicher, als daß Dr. Kaltenbrunner, bewußt oder unbewußt, es nicht mehr wahr haben kann, daß er tatsächlich einmal die Leitung eines Amtes hatte, unter dessen Wucht die Steine, wenn es möglich gewesen wäre, geredet hätten; denn Persönlichkeit und Wesen dieses Mannes müssen anders beurteilt werden, als es seitens der Anklagebehörde geschehen ist.

Für den Psychologen erhebt sich die Frage, wie ein Mann mit, sagen wir, normalen bürgerlichen Tugenden, ein Amt unter seine Oberaufsicht nehmen konnte, das zu einem Inbegriff der menschlichen Versklavung des 20. Jahrhunderts, soweit Deutschland in Frage kommt, geworden ist. Für die dennoch erfolgte Übernahme dieses Amtes mag es zwei Gründe geben: Der eine liegt in der Feststellung, daß Dr. Kaltenbrunner, wenn auch mit den politischen und kulturellen Interessen seiner österreichischen Heimat eng verwachsen, doch den Nationalsozialismus in seiner großen Linie bejahte. Denn bevor er den Seitenweg mit seinen Geheimnissen beschritt, marschierte er mit Tausenden und Hunderttausenden anderer Deutscher, die nichts anderes ersehnten als eine Erlösung aus den damals herrschenden labilen Strömungen, auf jener breiten Straße, in die das Auge der gesamten Welt Einblick hatte. Er war also beispielsweise ohne Zweifel Anhänger des Antisemitismus, jedoch nur im Sinne der Notwendigkeit, eine Überfremdung deutschen Volkstums rückgängig zu machen; er verurteilte aber ebenso scharf das wahnwitzige Verbrechen der physischen Vernichtung des jüdischen Volkes, wie Dr. Höttl eindeutig versichert. Kaltenbrunner bejahte sicherlich auch die Persönlichkeit Hitlers, soweit sie nicht nach und nach in ihrer absolut menschenfeindlichen und deshalb auch undeutschen Art und Weise in Erscheinung trat. Er billigte auch, wie er selbst in seinem Verhör zugab, grundsätzlich Maßnahmen, die einen mehr oder weniger starken Zwang zur Voraussetzung hatten, zum Beispiel die Einrichtung von Arbeitserziehungslagern. Deshalb wird auch kein vernünftiger Mensch bestreiten wollen, daß er grundsätzlich die Einrichtung von Konzentrationslagern, vorläufig wenigstens zumindest während des Krieges, für durchaus angemessen hielt, wie dies auch jenseits der deutschen Grenzen schon seit langer Zeit der Fall war. Sine ira et Studio.

Die Einrichtung von Konzentrationslagern oder wie man immer jene Stätten bezeichnen will, bei deren Nennung der Hörer unwillkürlich an Worte Dantes erinnert wird, ist leider vielen Staaten nicht unbekannt. Die Geschichte kennt sie aus Südafrika vor mehreren Jahrzehnten, aus Rußland, England und Amerika während dieses Krieges, unter anderem zur Aufnahme von Menschen, die aus Gewissensrücksichten keinen Kriegsdienst leisten wollten. In Bayern, dem Land, in dem das Tribunal gegenwärtig tagt, kennt man ebenfalls derartige Lager; bekannt ist auch die sogenannte »automatische« Haft für bestimmte Gruppen von Deutschen. Unter der Überschrift »Politische Grundsätze« enthält die Ziffer B 5 des Textes der gemeinsamen Erklärung der drei führenden Staatsmänner über die Potsdamer Konferenz vom 17. Juli 1945 die Bestimmung, daß unter anderem alle Personen, die für die Besatzung oder deren Ziele gefährlich sind, verhaftet oder interniert werden sollen.

Damit ist die scheinbare Notwendigkeit solcher Lager dieser Art anerkannt. Ich selbst verabscheue diese Einrichtungen der menschlichen Versklavung, aber ich sage offen, daß auch diese Einrichtungen auf jenem Wege liegen, der, zu Ende gedacht, Qualen von Menschen anderer Gesinnung, als der Staat sie wünscht, mit sich bringen kann und mit sich bringt. Damit sollen auch die Humanitätsverbrechen in deutschen Konzentrationslagern nicht im leisesten abgeschwächt werden. Was Kaltenbrunner anbelangt, so war dieser Mann meiner Überzeugung nach, die auch von vielen Zeugen bestätigt worden ist, im Grunde seines Wesens und seiner seit 1943 in Erscheinung getretenen äußeren Haltung, eine nationalsozialistische Führerpersönlichkeit, die nur mit Widerwillen den gesamten Kurs der in Deutschland von Jahr zu Jahr immer mehr anwachsenden Welle des Terrors und der Versklavung konstatierte.

Deshalb halte ich auch eine Verweisung auf die Aussage des Zeugen Eigruber für wichtig, wonach die Behauptung der Anklagebehörde unrichtig ist, Kaltenbrunner habe das Konzentrationslager Mauthausen errichtet.

Der zweite Grund liegt in dem Thema der beiden von Kaltenbrunner bekundeten Unterredungen mit Himmler. Danach war Kaltenbrunner allenfalls bereit, innerhalb des Reichssicherheitshauptamtes die Ämter des in- und ausländischen Nachrichtendienstes zu übernehmen mit der Zusage Himmlers, diesen Nachrichtendienst zentral ausbauen zu dürfen, nämlich in der Richtung der Hereinnahme und der Verbindung des politischen Nachrichtendienstes mit dem bisherigen militärischen des Admirals Canaris; es ist zweifellos richtig, wenn die Zeugen Wanneck, Dr. Höttl, Dr. Mildner und Ohlendorf, auch der Angeklagte selbst, bestätigen, daß Himmler, diesem Wunsche Kaltenbrunners Rechnung tragend, seit der Ermordung Heydrichs sich selber in die Exekutive eingeschaltet hatte, so daß in Deutschland auf exekutivem Gebiet kein auch nur einigermaßen bedeutungsvoller Vorgang geschah, ohne daß Himmler nicht das Schlußwort gesprochen und damit den endgültigen Befehl erteilt hätte.

Der Zeuge Wanneck hat das Thema der beiden Unterredungen Kaltenbrunners mit Himmler mit folgenden Worten bestätigt, die ich wegen ihrer Wichtigkeit im Wortlaut zitiere:

»Wenn sich sachliche Zusammenhänge ergaben, hat Kaltenbrunner öfter davon gesprochen, daß er sich mit Himmler dahingehend vereinbart hätte, mehr auf dem außenpolitischen, nachrichtendienstlichen Sektor tätig zu sein und daß Himmler selbst mehr in der Exekutive persönlichen Einfluß nehmen wollte. Nach meiner Kenntnis war Himmler mit dieser Regelung um so mehr einverstanden, als er sich auf Kaltenbrunners politischen Instinkt in außenpolitischen Fragen glaubte verlassen zu können, wie dies aus verschiedenen Bemerkungen Himmlers zu ersehen war.«

Daß sich Kaltenbrunner auch tatsächlich ganz überwiegend und aus innerem Bedürfnis heraus dem Nachrichtendienst des In- und Auslandes verschrieb und der von ihm dadurch erhofften Beeinflussung der Innen- und Außenpolitik immer näher kam, haben verschiedene Zeugen bekundet. Ich erinnere wiederum an Wanneck, Dr. Höttl, dann aber auch an die Angeklagten Jodl, Seyß-Inquart und Fritzsche. Dr. Höttl hat bekundet:

»Kaltenbrunner hat nach meiner Auffassung das große Amt des Reichssicherheitshauptamtes nie völlig beherrscht und sich mangels Interesse für polizeiliche und exekutive Aufgaben weitaus stärker mit Nachrichtendienst und der Beeinflussung der gesamten Politik beschäftigt. Dies betrachtete er als seine eigentliche Domäne.«

Aus der Bekundung des Generaloberst Jodl hebe ich folgende Sätze hervor:

»Bevor Kaltenbrunner von Canaris den Nachrichtendienst übernahm, schickte er mir schon von Zeit zu Zeit sehr gute Berichte aus dem Südostraum, wodurch ich erst auf seine Erfahrung im Nachrichtendienst aufmerksam wurde.... Ich hatte den Eindruck, der Mann versteht von dem Geschäft etwas; ich bekam nunmehr laufend, genau so wie vorher von Canaris, die Berichte von Kaltenbrunner, und zwar nicht nur die eigentlichen Agentenmeldungen, er schickte mir vielmehr von Zeit zu Zeit einen, ich möchte fast sagen politischen Überblick auf Grund seiner einzelnen Agentenmeldungen. Diese zusammenfassenden Berichte über die politische Lage im gesamten Ausland fielen mir besonders auf, weil sie mit einer bis dahin unter Canaris ganz unmöglichen Offenheit, Nüchternheit, den Ernst unserer gesamten militärischen Lage enthüllten.«

Das Ergebnis, zu dem ich auf Grund der Beweisführung ungezwungen komme, ist demnach: Kaltenbrunner hat auf Grund der von ihm gewünschten Trennung des Nachrichtendienstes von der polizeilichen Exekutive innerhalb des Reichssicherheitshauptamtes auch tatsächlich eine Stellung innegehabt, die in der Hauptsache den Nachrichtendienst und dessen immer weiteren Ausbau zur Zielsetzung hatte.

Ich setze hinzu: Dieser Nachrichtendienst umspannte mehr als Europa. Er ging vom Nordkap bis nach Kreta und Afrika, von Stalingrad, Leningrad bis zu den Pyrenäen. Kaltenbrunner war der eifrigste von allen, die in Deutschland den Pulsschlag der feindlichen Völker je abtasteten.

Das war der Lebensberuf dieses Mannes, wie er ihn sich für die Dauer des Krieges wünschte. Er lebte persönlich in wirtschaftlich kleinen Verhältnissen, und es ist die Wahrheit, wenn ich sage, daß er ebenso arm von der Bühne des politischen Lebens abtritt, wie er sie bestiegen hatte. Der Zeuge Wanneck hat einmal den für Kaltenbrunner charakteristischen Ausspruch getan, er, Kaltenbrunner, werde sich nach dem Kriege von seinem Amt völlig zurückziehen, um als Bauer zur Scholle seiner Heimat zurückzukehren.

Nur mit tiefem Bedauern kann der Betrachter feststellen, daß dieser Mann dann unter der Wucht der politischen und militärischen Ereignisse die von ihm erwünschte Grenzziehung nicht einhielt. Sein Gehorsam gegenüber Hitler und damit auch gegenüber Himmler hat sich in den Jahren 1943 bis 1945 der scheinbaren Notwendigkeit unterworfen, die Stabilität der innerdeutschen Verhältnisse durch polizeilichen Zwang zu garantieren. Damit verstrickte er sich in Schuld; denn es ist klar, daß er nur dann auf eine mildere Beurteilung der Schuldfrage vor dem Weltgewissen rechnen kann, wenn ihm der Nachweis möglich gewesen wäre, daß er auch tatsächlich eine klare Trennung von jenem dämonisch zu nennenden Amt IV der Geheimen Staatspolizei vorgenommen hätte; wenn er sich in keiner Weise an den Ideen und Methoden beteiligt haben würde, die, wie ich glaube, letzten Endes zur Einleitung dieses ganzen Prozesses geführt haben.

Diese Trennung, ich kann es nicht leugnen, hat er nicht vorgenommen. Nichts ist in dieser Richtung fest erwiesen, ja, seine eigene Aussage spricht gegen ihn. So erklärt sich wohl auch die eingangs seiner Vernehmung vor dem Tribunal abgegebene Erklärung, die ich als seine Schuldthese bezeichnen möchte:

Frage:

»Sie sind sich darüber klar, daß Sie unter ganz besonderer Anklage stehen. Die Anklagebehörde wirft Ihnen vor Verbrechen gegen den Frieden, sowie Ihre intellektuelle Täterschaft oder Teilnahme wegen Verbrechen gegen die Humanität und gegen das Kriegsrecht. Schließlich verknüpft die Anklage Ihren Namen mit dem Terror der Gestapo und den Grausamkeiten in den Konzentrations lagern. Ich frage Sie nunmehr: Übernehmen Sie im Rahmen dieser groß aufgezeigten und Ihnen bekannten Anklagepunkte die Verantwortung?«

Kaltenbrunners Antwort:

»Ich möchte in erster Linie dem Gericht erklären, daß ich mir der Schwere der gegen mich erhobenen Anwürfe voll bewußt bin. Ich weiß, daß sich der Haß einer Welt gegen mich stellt, der ich, zumal ein Himmler, ein Müller, ein Pohl nicht mehr leben, hier allein der Welt und dem Gericht Antwort zu stehen habe... Ich möchte aber gleich zu Anfang erklären, daß ich die Verantwortung für alles übernehme, was seit meiner Ernennung zum Chef des Reichssicherheitshauptamtes im Rahmen dieses Amtes an Unrecht begangen wurde und soweit es unter meiner tatsächlichen Leitung geschah, ich also von den Vorgängen wußte oder wissen mußte.«

Damit gliedert sich von selbst die Aufgabe der Verteidigung, indem sie danach fragt:

1. Was hat Kaltenbrunner seit seiner Ernennung zum Chef des Reichssicherheitshauptamtes seit 1. Februar 1943 getan an Bösem und Gutem?

2. Wieweit ist es berechtigt zu sagen, er habe keine hinreichende Kenntnis von allen Humanitäts- und Kriegsverbrechen, und zwar in den wesentlichen Punkten gehabt?

3. Inwieweit ist seine Schuld unter dem Gesichtspunkt zu bejahen, er hätte die schweren völkerrechtlichen Verbrechen wissen müssen, an denen das Amt IV des Reichssicherheitshauptamtes (Geheime Staatspolizei) unmittelbar oder mittelbar beteiligt war?

1. Was hat Kaltenbrunner getan?

Ich übergehe hierbei die ihm von der Anklage zur Last gelegte Beteiligung an den Ereignissen bei der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei; denn mit welcher Energie er auch immer sein Ziel verfolgte, seine österreichische Heimat in das Reich einzugliedern und hierbei zur Durchsetzung dieses Zieles die von ihm geführten SS-Kräfte einzusetzen: dieses Ziel kann vor dem Gewissen der Welt nicht verbrecherisch gewesen sein. Ebensowenig könnte man zur Feststellung einer strafbaren Schuld im Hinblick auf die gewaltsamen Mittel gelangen, die damals zur Durchsetzung des historisch bedingten und millionenfach gewünschten österreichischen Anschlusses angewendet worden sind. Dafür war Kaltenbrunner noch viel zu unbedeutend. Wirtschaftsnot – Anschlußbewegung – Nationalsozialismus, das war der Weg der Mehrheit der österreichischen Menschen, nicht die nationalsozialistische Ideologie; denn Hitler selbst war vom Standpunkt des Österreichertums aus in geistiger und politischer Beziehung ein Renegat. Dennoch war die österreichische Anschlußbewegung eine Volksbewegung, bevor der Nationalsozialismus in Deutschland irgendeine Bedeutung erlangt hatte. Österreich wollte sich gegen das Anschlußverbot von Versailles und St-Germain durch länderweise Volksabstimmung wehren. Nach den 90prozentigen Abstimmungen in Tirol und Salzburg erfolgte von seiten der Siegermächte die Androhung der Einstellung der Lebensmittellieferungen. Die Machtergreifung Hitlers 1933 lähmte die überparteiliche Anschlußbewegung, aber die österreichische Not verschärfte sich weiter und isolierte das Regime Dollfuß-Schuschnigg. Der Anschluß an das großdeutsche Wirtschaftsgebiet, in welchem die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit die Quelle der Hoffnung zu sein schien, zeigte sich dem schwer leidenden österreichischen Volk als einziger Weg ins Freie. Die Woge der Begeisterung, die am 12./13. März 1938 durch ganz Österreich ging, war echt. Dies heute bestreiten zu wollen, wäre Geschichtsfälschung. Nicht die Regierung Dollfuß- Schuschnigg hatte eine demokratische Legitimation, sondern der Anschluß. Ebensowenig kann man, glaube ich, aus den vorerwähnten Gründen eine strafbare Schuld Kaltenbrunners bejahen wegen seiner angeblichen Tätigkeit in der Frage der Tschechoslowakei. Die Diskussion über Schuld und Sühne wird nach meiner Auffassung erst brennend für die Zeit nach dem 1. Februar 1943. Die Empörung des deutschen Volkes gegen eines der berüchtigten Terrormittel, die Verhängung der Schutzhaft, war schon in den Jahren vor diesem Zeitpunkt ins Ungewisse gewachsen. Ist es richtig zu sagen, daß Kaltenbrunner selbst, von dem viele Schutzhaftbefehle, mit seiner Unterschrift versehen, dem Gericht vorliegen, einen inneren Abscheu gegen diese Art der Vergewaltigung der menschlichen Freiheit empfunden habe?

Darf ich auf wenige Sätze aus seinem Verhör Bezug nehmen?

Frage: »Ist Ihnen bekannt gewesen, daß die Schutzhaft überhaupt zulässig ist und oft durchgeführt wurde?«

Antwort: »Ich habe über den Begriff ›Schutzhaft‹, wie ich erzählte, schon 1942 mit Himmler gesprochen. Ich glaube aber, auch vor dieser Zeit ziemlich ausführlich sowohl mit ihm einmal als auch einmal mit Thierack über diesen Begriff korrespondiert zu haben. Ich halte die Schutzhaft, wie sie in Deutschland gehandhabt worden ist, nur in einer kleineren Zahl von Fällen für eine Staatsnotwendigkeit, oder besser gesagt, für eine Maßregel, wie sie der Krieg rechtfertigt. Im übrigen habe ich mich gegen diesen Begriff und gegen die Handhabung jeder Schutzhaft grundsätzlich, und oft sehr tief fundiert, rechtshistorisch ausgesprochen und gewendet. Ich hatte einige Vorträge darüber bei Himmler, aber auch bei Hitler gehalten. Ich hatte bei einer Versammlung vor Staatsanwälten, ich glaube im Jahre 1944, öffentlich dagegen Stellung genommen, weil ich seit je auf dem Standpunkt stehe, daß die Freiheit eines Menschen zu seinen höchsten Gütern zählt und nur ein ordentliches, in der Verfassung verwurzeltes Gericht und dessen Urteil diese Freiheit beschränken oder berauben darf.«

Hier spricht derselbe Mann die richtigen Prinzipien aus, deren Befolgung dem deutschen Volke und der Welt eine Unsumme Leides erspart und deren Nichtanwendung gerade ihm zur Schuld gereicht, da er trotz seiner richtigen Einsichten sein Handeln nicht selten der sogenannten Staatsnotwendigkeit anpaßte. Er wurde damit wider Wissen und Willen dem Prinzip des Hasses Untertan, der immer auch das Fundament des stärksten Staates über kurz oder lang zerschmettern wird.

»Recht ist, was dem Volke nützt«, hatte Hitler verkünden lassen. Ich weiß sehr wohl, daß Kaltenbrunner heute tief bedauert, dieser falschen Maxime zu lange und ohne ausreichenden Widerstand Gefolgschaft geleistet zu haben....

Die Anklage hat zwar nicht eine einzige Originalunterschrift des Angeklagten im Hinblick auf Schutzhaftbefehle vorlegen können, und ich halte es nicht für unglaubhaft, wenn Kaltenbrunner bekundet, er habe niemals selbst einen derartigen Schutzhaftbefehl durch seine Unterschrift vollzogen; indessen kann ich mir ersparen, angesichts der von vielen solchen Befehlen ausgehenden Tragik auch nur ein Wort darüber zu verlieren, ob seine Schuld ganz entfalle oder wesentlich geringer sei, weil man vielleicht diese Befehle ohne sein Wissen unterschrieben habe; es erhebt sich dann natürlich sofort die Frage, wie ein derartiger Vorgang in einem, allerdings außerordentlich großen Amt möglich war. Wie dem auch sei: Bei Angelegenheiten von solchem Tiefgang und solcher Tragik möchte das Gefühl fast keinen Unterschied machen zwischen Kenntnis und fahrlässiger Unkenntnis, weil es jeden Träger eines Amtes für das, was in diesem geschieht, zur Verantwortung ziehen möchte. Diese Erkenntnis ist auch der Sinn der vorhin zitierten Erklärung Kaltenbrunners zu der Frage seiner grundsätzlichen Verantwortung. Wenn es um Glück und Ende von lebendigen Menschen geht, gibt es keinen Rückzug auf den Einwand der Unkenntnis zum Zwecke der Strafausschließung, höchstens zum Zwecke der Strafminderung. Das weiß auch der Angeklagte. Schutzhaftbefehle waren die verhängnisvollen Vorboten der Konzentrationslager. Und ich spreche kein Geheimnis aus, wenn ich sage, daß die Verantwortung für die Ausstellung der Schutzhaftbefehle auch den Beginn der Verantwortung begründet für das Schicksal des Betroffenen innerhalb des Konzentrationslagers. Ich könnte niemals einräumen, daß Dr. Kaltenbrunner die Leiden der Tausende, die in den Lagern schmachteten, in ihren Exzessen etwa gekannt habe; denn sobald sich die Tore des Konzentrationslagers schlossen, begann die ausschließliche Einwirkung jenes anderen Amtes, des vielfach erwähnten Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes. An Stelle vieler Aussagen von Zeugen zu diesem Punkte beziehe ich mich auf die des Zeugen Dr. Höttl, der auf die Frage nach dem Unterstellungsverhältnis antwortete:

»Die Konzentrationslager unterstanden ausschließlich dem SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, also nicht dem Reichssicherheitshauptamt und deshalb auch nicht Kaltenbrunner. Auf diesem Gebiet hatte er keine Befehlsgewalt oder Zuständigkeit.«

Andere Zeugen haben bekundet, Kaltenbrunner hätte die traurigen Zustände in den Konzentrationslagern kennen müssen; es ist aber kein Zweifel, daß die Kommandanten der Konzentrationslager selbst geflissentlich darauf bedacht waren, sogar ihren Vorgesetzten schuldhafte Exzesse der Wachmannschaften zu verschweigen. Es ist ferner eine Tatsache, daß beim Eintreffen der Alliierten ein Zustand angetroffen wurde, der fast ausschließlich die Folge der katastrophalen militärischen und wirtschaftlichen Lage während der letzten Wochen des Krieges war und den die Welt fälschlich auch für eine frühere Zeit verallgemeinerte. Die Aussage des Lagerkommandanten Höß von Auschwitz, der wegen seiner späteren Tätigkeit im Konzentrationslagerwesen des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes einen genauen Überblick hatte, bestätigt die vorstehende Behauptung in vollem Umfang. Für Höß fehlt jeder innere Grund, ein falsches Zeugnis abzulegen. Wer Millionen von Menschen in den Tod sandte wie er, steht bereits nicht mehr im Bereiche menschlicher Richter und Rücksichten. Höß hat bekundet:

»Die sogenannten Mißhandlungen und Qualen an den Konzentrationslagern... waren nicht, wie angenommen, eine Methode, es waren vielmehr Ausschreitungen einzelner Führer, Unterführer und Männer, die sich an Häftlingen vergriffen.«

Diese Elemente wurden nach der Erklärung von Höß selbst hierfür zur Rechenschaft gezogen. Ich glaube, ich brauche auch nicht mehr näher darauf einzugehen, daß nach der Bekundung verschiedener Zeugen die Besucher der Konzentrationslager von dem guten Zustand, der Sauberkeit und Ordnung der Lager beeindruckt und überrascht waren und deshalb auch keinen Verdacht schöpfen konnten in Bezug auf die besonderen Leiden der Häftlinge. Aber es würde mehr als geschmacklos sein, wollte ich bestreiten, daß ein Chef des Nachrichtendienstes etwa auf Grund der ausländischen Greuelnachrichten nicht doch die Verpflichtung gehabt hätte, aus Gründen der Menschlichkeit sich Klarheit auch über etwaige Zweifel in dieser Richtung zu verschaffen.

Diese Unkenntnis scheint mir auch durch die Aussage von Dr. Meyer vom Internationalen Roten Kreuz bestätigt zu werden, denn die Erlaubnis des Angeklagten Kaltenbrunner, das jüdische Lager in Theresienstadt durch das Internationale Rote Kreuz besuchen zu lassen und die Versorgung der Konzentrationslager mit Lebensmitteln und Medikamenten zu bewilligen, ist wohl ein Beweis für die schlechte Verfassung, in der sich die Lager in den letzten Monaten des Krieges befanden; niemand aber wird neutralen und damit fremden Beobachtern Einblick in die Lager gewähren, wenn er Kenntnis davon gehabt hätte, daß in den Lagern, wie die Anklage behauptet, die Humanitätsverbrechen sozusagen an der Tagesordnung waren.

Ich komme also keinesfalls zu dem Ergebnis einer vollen Kenntnis dieser sogenannten »Zustände« in den Konzentrationslagern auf seiten Kaltenbrunners, wohl aber seiner Pflicht, über das Schicksal von Inhaftierten Nachforschung anzustellen. Kaltenbrunner hätte dann zwar erfahren, daß ein ansehnlicher Teil der Häftlinge die Einweisung in die Lager ihrer Kriminalität verdankte, ein erheblich kleinerer Teil nur ihrer politischen und weltanschaulichen Gesinnung oder ihrer Rasse und so weiter; daß er aber auch dann jene primitiven Verstöße gegen die Menschlichkeit, jene Exzesse und die gesamte Not dieser Menschen erfahren hätte, möchte ich in Übereinstimmung mit Kaltenbrunner bestreiten. Der Weg, die Wahrheit zu erfahren, war in Deutschland unendlich kompliziert und fand selbst für den Chef des Reichssicherheitshauptamtes in der Hierarchie der Zuständigkeits- und Machtkompetenzen dritter Ämter und Personen fast unüberwindliche Hindernisse.

Das allgemein traurige Los der Häftlinge aber zu bessern, war seit 1943 eine Aufgabe, die nur zu lösen gewesen wäre durch die Beseitigung solcher Lager selbst. Das Deutschland der letzten zwölf Jahre ohne Konzentrationslager würde aber eine Utopie bedeutet haben. Kaltenbrunner war in diesem Getriebe, im ganzen gesehen, doch nur ein kleines Rad.

Ich habe mich vorstehend mit dem Thema der Schutzhaftbefehle und deren Folgerungen beschäftigt.

Dr. Kaltenbrunner hat die Notwendigkeit von Arbeitserziehungslagern bejaht, und zwar, wie er in seinem Verhör ausführt, angesichts der im damaligen Reich herrschenden Zustände, der Not am Arbeitsmarkt und anderes mehr. Und wenn ich recht sehe, sind überzeugende Beweise für Mißhandlungen und Grausamkeiten in derartigen Lagern nicht vorgelegt worden. Der Grund mag darin liegen, daß diese Lager den Konzentrationslagern in manchen Beziehungen nur verwandt, nicht aber gleichgestellt waren.

Kaltenbrunner hat mit allen Mitteln der Beweisführung sich der Anklage entgegengestellt, er habe auch Exekutionsbefehle mit seiner Unterschrift gedeckt. Die Zeugen Höß und Zutter wollen derartige Befehle in vereinzelten Fällen gesehen haben. Die Anklage scheint mir auch nicht bewiesen zu haben, daß derartige Befehle ohne gerichtliches Urteil oder ohne den Tod rechtfertigende Gründe erlassen worden seien, mit Ausnahme allerdings eines besonders gravierenden Falles, von dem der Zeuge Zutter, Adjutant des Lagerkommandanten von Mauthausen, vom Hörensagen berichtet. Danach soll ein Fernschreiben mit der Unterschrift Kaltenbrunners die Exekution von Fallschirmjägern im Frühjahr 1945 genehmigt haben. Eine Originalunterschrift Kaltenbrunners fehlt vollkommen. Ich füge hinzu, Kaltenbrunner hat jede Kenntnis und jedes Wissen um diesen Tatbestand bestritten. Ich glaube, behaupten zu dürfen, daß er solche Befehle über Leben und Tod nicht unterzeichnet hat, weil er sie nicht unterzeichnen durfte. Dr. Höttl hat als Zeuge erklärt:

»Nein, Kaltenbrunner hat derartige Befehle nicht erteilt und konnte auch meines Erachtens solche Befehle« – zur Tötung von Juden – »von sich aus nicht geben.«

Und Wanneck bestätigte ausdrücklich wie folgt:

»Mir ist bekannt, daß Himmler persönlich über Leben und Tod, sowie über sonstige Bestrafungen von Konzentrationslagerhäftlingen entschied.«

Damit dürfte die ausschließliche Machtbefugnis Himmlers auf diesem traurigen Gebiet bewiesen sein.

Es wäre aber frivol, wollte ich in diesem Punkte die Schuld Kaltenbrunners vollkommen in Abrede stellen. Wenn solche Befehle zum Beispiel auf Grund des sogenannten Kommandobefehls Hitlers vom 18. Oktober 1942 an Angehörigen einer fremden Macht vollzogen wurden, so erhebt sich die Frage der Verantwortung gegenüber demjenigen, dessen Namen derartige Befehle tragen, weil es geschehen konnte, daß unter ihm Stehende seinen Namen mißbrauchten. Es ist sicher, daß Kaltenbrunner auf das Zustandekommen des Kommandobefehls niemals auch nur den geringsten Einfluß ausgeübt hat. Aber dieser Befehl selbst kann in seiner Völkerrechtswidrigkeit kaum in Zweifel gezogen werden. Die Entwicklung des zweiten Weltkrieges zum totalen Krieg schuf zwangsläufig eine Fülle neuer Kriegslisten. Sofern zu deren Durchführung echte Soldaten zum Einsatz kamen, konnte auch ein menschlich durchaus verständliches Motiv der Verbitterung – und ich sage nunmehr: etwa über ein den Kriegsgewohnheiten zuwiderlaufendes Verhalten der betreffenden Kommandotrupps und anderes mehr – den Befehl nicht rechtfertigen. Glücklicherweise sind nur ganz wenige Menschen, wie der Angeklagte Jodl bekundet hat, diesem Befehl Hitlers zum Opfer gefallen.

Vielleicht wird man mich fragen, ob ich verpflichtet oder ob es mir nur gestattet sei, Belastungsmomente zu erörtern, wie ich es eben getan habe, da dies doch Sache der Anklagebehörde sei; aber darauf antworte ich: Wenn eine Verteidigung so freimütig ist, das Negative gegenüber einer Persönlichkeit einzuräumen, wird man ihr um so mehr Gehör schenken, wenn sie an das Gericht mit der Bitte herantritt, das Positive seiner vollen Bedeutung nach einzuschätzen. Aber gibt es überhaupt Positives im vorliegenden Fall? Ich glaube, diese Frage bejahen zu dürfen. Ich habe schon auf mehrere Tatsachen hingewiesen, die sich an den Zeitpunkt der Übernahme des Amtes durch Kaltenbrunner anknüpfen. Im Laufe der nur kurzen Zeit von zwei Jahren seiner Amtstätigkeit hat dieser Mann sich auch zum Träger von ausgesprochen glücklichen und humanen Ideen gemacht. Ich erinnere an sein Verhalten gegenüber dem Lynchbefehl Hitlers gegenüber abgeschossenen feindlichen Fliegern. Der Zeuge, Fliegergeneral Koller, hat das anständige Verhalten Kaltenbrunners geschildert, das zur vollkommenen Sabotage dieses Befehls führte. Nachdem Koller zunächst den Inhalt des Befehls Hitlers und die Drohung Hitlers im Rahmen der damaligen Lagebesprechung geschildert hat, daß jeder Saboteur dieses Befehls selbst zu erschießen sei, fährt Koller fort, Äußerungen Kaltenbrunners wiederzugeben. Ich gestatte mir, einige Sätze aus dieser Aussage Kollers zu zitieren. Koller sagt, daß Kaltenbrunner erklärte:

»Die Aufgaben des SD werden dauernd falsch verstanden. Derartige Dinge sind keine Angelegenheit des SD. Im übrigen tut kein deutscher Soldat, was der Führer verlangt: Er bringt keine Gefangenen um, und wenn es einzelne fanatische Parteigänger des Herrn Bormann versuchen, schreitet der deutsche Soldat dagegen ein... Außerdem werde ich in der Sache selbst auch nichts tun...«

Koller und Kaltenbrunner waren sich also in der Sache selbst vollkommen einig. Diese positive Aktion Kaltenbrunners, die zur Beurteilung des eigentlichen Wesens seiner Persönlichkeit von Bedeutung ist, steht nicht allein. Dr. Höttl hat bestätigt, daß Kaltenbrunner bei der Frage des zukünftigen Schicksals Deutschlands bis zur Grenze des Hochverrats, wenn nicht schon darüber hinaus, ging. Dieser Zeuge bestätigt zum Beispiel, daß Kaltenbrunner in der ungarischen Frage Hitler im März 1944 zur Mäßigung zu bewegen und den Einmarsch rumänischer Verbände zu verhindern wußte; daß mit seiner Unterstützung auch die geplante ungarische nationalsozialistische Regierung längere Zeit nicht eingesetzt wurde. Dr. Höttl sagt dann wörtlich:

»Seit 1943 habe ich Kaltenbrunner gegenüber die Auffassung vertreten, daß Deutschland versuchen müsse, den Krieg durch einen Frieden um jeden Preis zu beenden. Ich hatte ihn über meine Verbindung zu einer amerikanischen Stelle in Lissabon orientiert. Ich habe auch Kaltenbrunner darüber orientiert, daß ich über die österreichische Widerstandsbewegung einen neuerlichen Kontakt mit einer amerikanischen Stelle im Ausland aufgenommen hatte. Er erklärte sich auch bereit, mit mir in die Schweiz zu fahren und persönlich die Verhandlungen mit einem amerikanischen Beauftragten in die Hand zu nehmen, um dadurch weiteres sinnloses Blutvergießen zu vermeiden.«

Auf derselben Linie bewegen sich die Bekundungen des Zeugen Dr. Neubacher. Dieser Zeuge hat aber darüber hinaus für eine wichtige positive humane Aktion Kaltenbrunners Zeugnis abgelegt. Auf die Frage, ob Kaltenbrunner den Zeugen unterstützt habe, in Serbien die Terrorpolitik möglichst abzuschwächen, antwortete Dr. Neubacher – und ich zitiere wörtlich:

»Ja, ich verdanke der Unterstützung Kaltenbrunners auf diesem Gebiet sehr viel. Die deutschen Polizeistellen in Serbien wußten von mir und von Kaltenbrunner, daß dieser als Chef des Auslandsnachrichtendienstes meine Politik im Südostraum kompromißlos unterstützte. Es ist dadurch gelungen, daß ich auf die Polizeistellen Einfluß nehmen konnte. Die Unterstützung Kaltenbrunners war wertvoll in meinen Bestrebungen, mit Hilfe einsichtiger Offiziere das bisherige System der kollektiven Verantwortung und die Repressalien zu stürzen.«

Ich erwähne weiter die auf die Initiative Kaltenbrunners zurückgehende Hilfsaktion des Genfer Roten Kreuzes. Die Zeugen Professor Burckhardt, Dr. Bachmann, Dr. Meyer, haben die Tätigkeit des Angeklagten in dieser Beziehung geschildert. Viele Tausende konnten daraufhin ihre Gefangenschaft mit der Freiheit vertauschen.

Ich möchte noch auf wenige Worte aufmerksam machen, die der Angeklagte Seyß-Inquart zu zwei Punkten vorgetragen hat. Er erwähnte, daß sich Kaltenbrunner für eine völlige Autonomie des Polnischen Staates einsetzte, aber ebenso für die Wiedereinführung der Unabhängigkeit der beiden christlichen Kirchen, und ich füge hier hinzu, daß nach der Aussage Dr. Höttls Kaltenbrunner sehr energisch seine Tätigkeit bekämpft hat und auf den erbittertsten Widerstand Bormanns stieß. Kaltenbrunner hat nicht nur auf diesem Gebiet seinen Willen zur Humanität zu realisieren versucht. Von Bedeutung erscheint mir deshalb auch der Hinweis auf seine Bemühungen, den Gauleitern von Österreich klarzumachen, daß jeder Widerstand gegenüber den Truppen der Westmächte sinnlos und in diesem Sinne keine unverantwortlichen Widerstandsbefehle zu erteilen seien. Das hat der Zeuge Wanneck bestätigt. Die Anklage hat Kaltenbrunner für die Evakuierung und die geplante Vernichtung gewisser Konzentrationslager verantwortlich gemacht. Ich glaube, daß dieser Beweis nicht nur als mißlungen, sondern daß das Gegenteil als erwiesen betrachtet werden darf. Auf die an Dr. Höttl gerichtete Frage, ob Kaltenbrunner den Kommandanten des Konzentrationslagers Mauthausen angewiesen habe, das Lager den heranrückenden Truppen zu übergeben, antwortete Dr. Höttl:

»Es ist richtig, daß Kaltenbrunner einen derartigen Befehl gegeben hat. Er hat ihn in meiner Anwesenheit zur Weiterleitung an den Lagerkommandanten diktiert.«

In Ergänzung hierzu hat Kaltenbrunner bei seinem persönlichen Verhör sehr logisch erklärt: Wenn schon das mit vielen Schwerverbrechern angefüllte Lager Mauthausen auf seinen Befehl nicht zu evakuieren sei, so entbehre ein Befehl zur Evakuierung Dachaus, wegen der im Vergleich zu Mauthausen harmlosen Belegschaft, jeglicher Grundlage. Die Vernichtung des Konzentrationslagers Dachau mit seinen beiden Nebenlagern war nach dem Zeugnis des Freiherrn von Eberstein das Wunschbild des damaligen Gauleiters von München, Gießler.

Schließlich hat auch der Zeuge Wanneck bestätigt, daß ihm ein derartiger Befehl Kaltenbrunners nicht bekanntgeworden sei; daß er aber in seiner damaligen Stellung bei Kaltenbrunner erfahren hätte, wenn dieser einen derartigen Befehl erteilt, ja eine Befehlserteilung auch nur erwogen hätte.

Wer die Befehle tatsächlich erteilt hat, wird sich mit Sicherheit nicht mehr feststellen lassen. Der Zeuge Höß erwähnte bei seiner Vernehmung sowohl einen Räumungsbefehl Himmlers als auch Hitlers unmittelbar.

In diesem Zusammenhang scheint es mir angemessen, auf die von der Anklagebehörde behauptete Beteiligung Kaltenbrunners an dem traurigen Fall Sagan hinzuweisen. Unter Bezugnahme auf die durch den hier vernommenen Zeugen Wielen bestätigte Erklärung Kaltenbrunners erscheint es mir als bewiesen, daß Kaltenbrunner erst Wochen später nach Abschluß dieser Tragödie, und zwar erstmals, mit der Sache befaßt wurde.

Zweifelhaft erscheint mir auch, ob die sogenannten Einsatzgruppen, die ja auf Grund des Kommissarbefehls Hitlers vom Jahre 1941 eingesetzt waren, noch nach Kaltenbrunners Dienstantritt mit diesen Funktionen bestanden. Es sprechen einige Anhaltspunkte dafür, einige dagegen. Kaltenbrunner hat das Bestehen dieser Gruppe für die Zeit seiner Amtszeit als Chef des Reichssicherheitshauptamtes in Abrede gestellt. Ich möchte mich nicht in Einzelheiten verlieren, wohl aber die Aufmerksamkeit des Gerichts auf diese Zweifel hinlenken. Dasselbe gilt zum Beispiel auch für den sogenannten Kugel-Erlaß. Das Dokument 1650-PS bezeugt, daß nicht Kaltenbrunner, sondern der berüchtigte Chef des Amtes IV, Müller, entsprechende Anordnungen erteilt hat, während das Dokument 3844-PS von Unterschriften des Angeklagten selbst spricht. Mir scheint, daß das erste Dokument den Vorzug verdient. Darf ich schließlich Ihre Aufmerksamkeit auch noch auf solche Dokumente lenken, die deshalb eine geringe Beweiskraft besitzen, weil sie nur auf mittelbaren Wahrnehmungen beruhen. Ich glaube, das Gericht verfügt über so große Erfahrungen in der Beweiswürdigung, daß ich nicht weiter hierüber zu argumentieren brauche.

2. Ich habe vorhin freimütig das Negative eingeräumt, um um so mehr innerlich legitimiert zu sein, auch das Positive bei Kaltenbrunners Persönlichkeit hervorzuheben. Inwieweit werde ich aber berechtigt sein zu erklären, Dr. Kaltenbrunner hätte tatsächlich keine hinreichende Kenntnis von vielen Kriegs- und Humanitätsverbrechen gehabt, die im Laufe der letzten zwei Kriegsjahre unter irgendwelcher Beteiligung des Amtes IV begangen wurden? Würde eine solche Verteidigung Aussicht haben, den Chef des Reichssicherheitshauptamtes wesentlich zu exkulpieren?

Dr. Kaltenbrunner hat in seiner Vernehmung zugegeben, daß er eine Kenntnis von Befehlen, Anordnungen, Richtlinien, ungeachtet deren Entstehung bereits längst, teilweise sogar einige Jahre vor seinem Dienstantritt, erst sehr spät erhalten habe, und zwar zum Teil erst 1944 oder 1945.

Ich füge hier hinzu, ich will an dieser Stelle besonders betonen, daß die der internationalen Moral und Humanität widerstreitenden Befehle sämtlich in ihrer Entstehung zurückgehen auf eine Zeit, zu der Dr. Kaltenbrunner noch in Österreich weilte.

Ich will mich in diesem Augenblick nicht damit beschäftigen, den Versuch zu unternehmen, diese Behauptungen Kaltenbrunners alle im einzelnen zu beweisen. Die Anklagebehörde hat es ausschließlich darauf abgestellt, ob derartige Befehle, Erlasse, Richtlinien und so weiter auch während der Amtszeit des Angeklagten als Chef des Reichssicherheitshauptamtes vollzogen wurden. Es ist auch für den Verteidiger oft sehr schwer, einem Angeklagten in die geheimen Kanäle seines Wissens oder Nichtwissens zu folgen. Vielleicht fehlt auch dem Verteidiger gelegentlich, angesichts der auf einen ganzen Kontinent sich verteilenden Hekatomben von Opfern, die zur Freiheit ihrer gerechten Beurteilung erforderliche Distanz, und er tut dem Angeklagten unrecht. Er überläßt damit das Charakterbild des Angeklagten dem zu späten Urteil der Geschichte, denn auch der Verteidiger ist nicht unfehlbar, wenn er die Psyche seines eigenen Mandanten erklären soll. Bei seiner Vernehmung vor dem Tribunal hat Kaltenbrunner einmal die Schwierigkeit seiner Lage auseinandergesetzt, die er bei seinem Dienstantritt am 1. Februar 1943 antraf, und ich möchte auch hoffen, daß niemand diese Situation verkennen wird. Das Reich wehrte sich zwar noch und war auch noch im Jahre 1943 für jeden mit ihm zusammenstoßenden Gegner gefährlich. Aber es war bereits der Kampf um ein offensichtlich in unerreichbarer Ferne liegendes Ziel. Wer es versucht, einem bereits in rasender Fahrt dem Abgrund zurollenden Wagen in die Speichen der Räder zu greifen, gerät allzu leicht ins Verderben. Hand in Hand mit dieser Ausweglosigkeit der Situation ging einher eine unschöpferische, auf nervöser Unsicherheit beruhende Betriebsamkeit auf allen Gebieten des privaten und öffentlichen Lebens. Kaltenbrunner sagte in Bezug auf diese Lage:

»Ich bitte, sich in meine Situation zu versetzen. Ich war Anfang Februar 1943 nach Berlin gekommen. Ich habe, mit Ausnahme weniger Antrittsbesuche, meine Tätigkeit im Mai 1943 aufgenommen. Im vierten Kriegsjahr hatten sich die Befehle und Erlasse des Deutschen Reiches auch auf dem exekutiven Sektor bereits zu vielen Tausenden auf den Tischen und in den Schränken der Beamtenschaft angehäuft. Es ist einem Menschen ganz unmöglich gewesen, alles dies auch nur im Laufe eines Jahres zu Ende zu lesen. Selbst wenn ich mich dazu verpflichtet gefühlt hätte, hätte ich unmöglich die Existenz aller dieser Befehle zur Kenntnis nehmen können.«

Ich erinnere in diesem Zusammenhang ergebenst daran, daß nach der Bekundung des Zeugen Höttl und anderer, das Reichssicherheitshauptamt in Berlin zur Zeit Kaltenbrunners etwa 3000 Angestellte aller Kategorien umfaßte und daß nach der Aussage des gleichen Zeugen Kaltenbrunner dieses Amt niemals ganz beherrscht hat.

3. Es wird niemand die Berechtigung der Frage in Abrede stellen können, ob Kaltenbrunner nicht verpflichtet gewesen sei, sich in kürzester Zeit wenigstens über die wesentlichsten Vorgänge aller Ämter des Reichssicherheitshauptamtes informieren zu lassen und ob er dann nicht doch recht bald beispielsweise von der Judenaktion Himmlers und Eichmanns und manchen anderen schwerwiegenden Terrormaßnahmen Kenntnis erlangt haben würde. Ich darf Sie daran erinnern, daß Kaltenbrunner wiederholt und nachdrücklich auf meine Fragen vor diesem Tribunal erklärt hat, er habe laufend nach jeweiliger Kenntnis solcher Vorgänge bei Himmler und selbst bei Hitler Gegenvorstellungen erhoben, hiermit jedoch nur wenig und erst nach geraumer Zeit Erfolg gehabt.

Der Angeklagte führt beispielsweise die im Oktober 1944 erfolgte, von Hitler befohlene Einstellung der Judenvernichtung auf seine persönliche Initiative zurück. Wie schwer auch immer zu beurteilen ist, ob Kraft und Einfluß eines einzelnen Menschen ausgereicht hätten, ein derartiges, schon bis in das letzte Stadium eingetretenes völkisches Vernichtungsprogramm zur Aufhebung zu bringen; ich glaube, ohne einer Unrichtigkeit überführt zu werden, sagen zu dürfen, daß viele Zehntausende von jüdischen Bürgern es diesem Manne zuschreiben können, daß sie der Hölle von Auschwitz entgangen sind und das Licht der Sonne noch sehen.

Aus den Bekundungen der Herren Dr. Bachmann und Dr. Meyer vom Internationalen Roten Kreuz ergibt sich, daß Kaltenbrunner das Internationale Rote Kreuz gebeten hatte, Hilfssendungen an ein großes jüdisches, nichtpolitisches Lager in Unskirchen bei Wels zu organisieren.

Wanneck hat die Auffassung Kaltenbrunners zur Frage der Judenpolitik Himmlers wie folgt gekennzeichnet. Er bemerkt:

»In der täglichen Hast unserer gemeinsamen außenpolitischen Arbeiten und Besprechungen sind wir auf das Problem der Judenpolitik nicht mehr gestoßen. Zur Zeit des Amtsantritts Kaltenbrunners war diese Frage bereits so weit fortgeschritten, daß Kaltenbrunner darauf keinen Einfluß mehr hätte nehmen können. Wenn sich Kaltenbrunner überhaupt einmal dazu äußerte, so war es in dem Sinn, daß hier Fehler gemacht wurden, die nicht wieder gutgemacht werden könnten.«

Dieser Zeuge bestätigt dann schließlich die Selbständigkeit dieser Aktion durch den direkten Befehlsweg Himmler zu Eichmann und bemerkt, daß sich die Stellung Eichmanns, die bereits zu Lebzeiten Heydrichs eine dominierende gewesen sei, ständig vergrößert habe, so daß er schließlich auf dem gesamten Judensektor völlig selbständig gehandelt hätte.

Ich bemerke hierzu, daß nach der Aussage Höß', des einzigen lebenden Menschen in dieser Frage, feststeht, daß nur insgesamt etwa 200 bis 300 Menschen jenen dämonischen Befehl Himmlers in einer Unterredung von vielleicht 10 bis 15 Minuten empfingen, daß auf Grund dieses Befehls über vier Millionen Menschen vernichtet wurden, und ich setze hinzu, daß ein großes Volk von 80 Millionen Menschen über diese Dinge kaum, vielleicht sogar nichts erfahren hatte, die sich während des Krieges im Südosten des Reiches abspielten.

Professor Burckhardt bekundet, daß Kaltenbrunner bei der Erörterung der Judenfrage erklärt habe:

»Das ist der größte Unsinn; man sollte alle Juden entlassen, das ist meine persönliche Ansicht.«

Aber trotz alledem erhebt sich für das Schuldproblem die grundsätzliche Frage: Darf ein hoher Funktionär und Führer eines einflußreichen Amtes, dessen Untergebene in weitläufiger Hierarchie laufend Verbrechen gegen die Humanität und gegen die Regeln des Völkerrechts begehen, ein solches Amt überhaupt übernehmen oder in einem solchen Amt verbleiben, obwohl er diese Verbrechen mißbilligt?

Oder ist es aber vielleicht ein anderes, wenn dieser Mann die Absicht hat, alles Menschenmögliche zu tun, um die Kette der Verbrechen zu zerreißen und damit schließlich zum Wohltäter der Menschen zu werden? Die letzte Frage ist allgemein zu bejahen. Sie ist zu bewerten allein vom Standpunkt der höchsten ethischen Prinzipien. Meine weitere Auffassung hierzu ist die:

Derjenige, der sich auf eine solche wohltätige Absicht beruft, ist schuldfrei, wenn er vom ersten Tag der Übernahme eines solchen Amtes jede aktive Beteiligung an der unmittelbaren Ausführung des Unrechts von sich weist, darüber hinaus aber jede nur denkbare Möglichkeit benutzt, ja aufsucht, um durch ein nicht mehr endendes Anstemmen und alle Arten menschlicher List der Beseitigung von Unrechtsbefehlen und deren Durchsetzung zu erreichen. Dies alles hat der Angeklagte auch selbst klar erkannt und empfunden. Ich darf wegen der Wichtigkeit der Frage auf sein Verhör verweisen:

Frage: »Ich frage Sie, ob für Sie die Möglichkeit bestanden hat, nach allmählicher Kenntnis der Zustände in der Geheimen Staatspolizei und Konzentrationslagern und so weiter eine Änderung herbeizuführen? Wenn diese Möglichkeit bestand, wollen Sie dann sagen, daß auf diesen Gebieten eine Abschwächung, das heißt eine Besserung der Verhältnisse infolge Ihres Verbleibens im Amte eingetreten ist?«

Kaltenbrunner sagt:

»Ich habe mich wiederholt an die Front gemeldet. Aber die brennendste Frage, die ich persönlich bei mir zu entscheiden hatte, war, ob der Zustand damit gebessert, gemildert, geändert werde. Oder hast du die Pflicht, alles auf diesem Posten zu tun, was zur Abänderung aller hier gegeißelten Zustände möglich ist? Auf die wiederholten Ablehnungen meiner Bitte um Frontverwendung konnte ich daher nichts anderes tun, als mich persönlich dafür einzusetzen, ein System zu ändern, an dessen ideellen und gesetzlichen Grundlagen ich nichts mehr ändern konnte, wie alle hier vorgewiesenen Befehle in der Zeit vor meinem Dienstantritt längst dargetan haben; daß ich nur versuchen konnte, diese Methoden zu mildern, um sie endgültig beseitigen zu helfen.«

Frage: »Hielten Sie es also mit Ihrem Gewissen für ver einbar, trotzdem zu bleiben?«

Kaltenbrunner antwortet:

»Bei der Möglichkeit, auf Hitler, Himmler und andere Personen immer wieder einzuwirken, konnte ich es meiner Ansicht nach mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, diese Position aufzugeben. Ich habe es für meine Pflicht gehalten, persönlich gegen Unrecht aufzutreten.«

Der Angeklagte beruft sich also auf sein Gewissen, und Sie haben die Frage zu entscheiden, ob dieses Gewissen unter Berücksichtigung der Pflicht gegenüber dem eigenen Staat, aber auch gegenüber der Gemeinschaft der Menschen versagt hat oder nicht. Die Verpflichtung des Anstemmens, wie ich sie soeben genannt habe, gegen die Befehle des Bösen besteht an sich für jeden Menschen, gleich welcher Stellung; sie wird auch von Kaltenbrunner ausdrücklich bejaht. Wer Ämter des Staates bekleidet, muß in erster Linie seinen Beitrag zur Abstellung derartig gigantischen Unrechts nachweisen können, das sich im europäischen Raum zutrug, sobald er von ihm erfährt, wenn er nicht schuldig werden will. Hat Dr. Kaltenbrunner genügend Beweise vorgelegt? Die Beantwortung dieser Frage überlasse ich Ihrem Urteil. Das eine aber möchte ich als meine Meinung aussprechen: Dieser Mann war kein Verschwörer, sondern er war ausschließlich ein Befohlener, ein Gezwungener. Der Befehl Himmlers trotz aller Vereinbarung lautete auf Übernahme des Reichssicherheitshauptamtes. Ist es richtig, daß ein erteilter Befehl die Grundlage des Problems verändert? Die Frage ist brennend. Das Statut dieses Tribunals hat die Berufung auf den Befehl zum Zwecke der Strafausschließung untersagt. Die von dem Herrn amerikanischen Hauptankläger hierfür gegebene Begründung ging von der vermuteten Kenntnis der Verbrechen oder ihrer Hintergründe in der Person der hohen Führer aus, die ihm deshalb die Berufung auf einen erteilten Befehl versage. Wie ein roter Faden zieht sich durch diesen Prozeß die Tatsache, daß kaum ein hoher Funktionär, auf welchem Posten des öffentlichen Lebens er auch immer gestanden haben mag, ohne Befehl des höchsten Repräsentanten staatsrechtlicher Autorität in ein Amt eingewiesen wurde; denn das in den letzten drei Jahren des Krieges schon deutlich erkennbare unentrinnbare Geschick des Reiches bedeutet für den Träger eines hohen Amtes den Verzicht auf die Seite des Lebens, von der manche sagen, sie mache es lebenswert. Wie mit einem eisernen Ring hielt der Befehl den Amtsträger auch während der Dauer des Krieges in seiner Dienststellung fest. Es ist auch kein Zweifel, daß der einen Befehl Verweigernde, besonders in den letzten Jahren des Krieges, den eigenen Tod, eventuell sogar die Auslöschung der Existenz seiner eigenen Familie zu befürchten hatte. Von welcher Seite man auch immer an das Problem des Befehls in Deutschland nach 1933 herantreten mag, so könnte doch einem Angeklagten die Berufung auf den eben erwähnten Notstand nicht abgeschnitten werden; denn dieses, auch im deutschen Strafrecht und wohl in keinem Strafrecht der Kulturvölker fehlende Prinzip des Notstandes beruht auf der zwecks Bejahung jeder Schuld erforderlichen Freiheit des Menschen.

Kann der Täter nicht mehr frei handeln, indem ein anderer ihn durch unmittelbare gegenwärtige Gefahr für sein eigenes Leben dieser Freiheit beraubt, so entfällt grundsätzlich die Schuld. Ich will in diesem Augenblick nicht untersuchen, ob in der Welt der deutschen Wirklichkeit der letzten Jahre eine solche unmittelbare gegenwärtige Gefahr für das eigene Leben stets bestand: Eine Beeinträchtigung der Freiheit des Befohlenen bestand in mehr oder minder großem Umfang ohne jeden Zweifel. Sicher scheint mir zu sein, daß Himmler eine kategorische Ablehnung Kaltenbrunners zur Übernahme des Reichssicherheitshauptamtes als Sabotage gewertet und diesen Mann als notwendige Folge ausgelöscht hätte.

Hitler war nach den Feststellungen dieses Prozesses einer der größten Rechtsbrecher, den die Weltgeschichte bisher zu verzeichnen hat. Viele bejahen sogar die Verpflichtung, ein solches Ungeheuer zu töten, um damit Millionen von Menschen das Recht auf Freiheit und Leben zu sichern. In diesem Prozeß sind die verschiedensten Stellungnahmen von Zeugen und Angeklagten zu der Frage des Putsches, insbesondere der Tötung der Tyrannen zu Worte gekommen. Eine Verpflichtung kann ich nicht anerkennen, aber das Recht hierzu ist sicher nicht zu bestreiten. Geschieht die Vergewaltigung der menschlichen Freiheit im Wege eines offensichtlich unrechtmäßigen, weil menschenfeindlichen Befehls, so senkt sich in dem nun entstehenden Konflikt zwischen Gehorsam und Gewissensfreiheit die Waage zugunsten der letzteren. Auch der sogenannte Treueid könnte eine andere Betrachtung nicht rechtfertigen, setzt doch, wie jeder empfindet, die Treueverpflichtung auf seiten beider Partner voraus, daß, wer diese Verpflichtung zur Achtung des menschlichen Gewissens in der Person des Untergebenen mit Füßen tritt, im gleichen Augenblick auch den Anspruch auf Gehorsam verliert. Das gequälte Gewissen wird frei und zerreißt die Bande, die der Eid geknüpft hat. Vielleicht werden mir manche bei der Betrachtung dieses Problems unrecht geben, indem sie hinweisen auf die Notwendigkeit der Gemeinschaftsordnung und die Heilsamkeit des Gehorsams gerade im Interesse dieser Ordnung oder auf die Klugheit der Befehlenden und auf die Unmöglichkeit, alle Hintergründe solcher Befehle so zu durchschauen und bewerten zu können, wie es der Befehlende vermag, auf die Liebe zum eigenen Vaterlande und anderes mehr. Und so richtig das alles sein mag: Es bleibt die unabdingbare Verpflichtung, dem Befehl zu widerstehen, der, für den Untergebenen klar erkennbar, die Realisierung des Bösen bezweckt und das gesunde Gefühl für Humanität und Frieden unter den Völkern und Menschen eindeutig verletzt.

»Im Kampf eines Volkes auf Leben und Tod gibt es keine Legalität«, ist eine nicht zu Ende gedachte unwahre These, wer immer sie auch ausspricht. Auch die unmittelbare Gefahr für das eigene Leben des Befohlenen könnte mich zu einer Änderung dieser Auffassung nicht bewegen. Dr. Kaltenbrunner würde es nicht bestreiten, daß, wer an der Spitze eines für die Gemeinschaft bedeutungsvollen Amtes steht, unter den vorerwähnten Voraussetzungen auch zum Opfer seines Lebens verpflichtet ist.

Wenn ihn also auch die unmittelbare, gegenwärtige Gefahr für sein eigenes und seiner Familie Leben nicht zu entschuldigen vermag, so mildert sie doch seine Schuld, und nur auf diese sittliche und rechtliche Beurteilung seiner Lage will Kaltenbrunner hinweisen. Er hat damit eine geschichtlich feststehende Tatsache hervorgehoben, die einer der tieferen Gründe für den Zusammenbruch des Reiches waren; denn kein lebender Mensch kann einer Gemeinschaft Freiheit, Frieden und Wohlfahrt bringen, der selbst nur mit Widerwillen die Ketten trägt und die Freiheit verloren hat, die das entscheidende Kennzeichen aller Wesen ist, die Menschenantlitz tragen.

Ich glaube, Kaltenbrunner möchte noch einmal geboren werden, und ich weiß, er würde jene Freiheit auch mit seinem Blute verteidigen.

Kaltenbrunner ist schuldig; aber das Maß dieser Schuld ist geringer, als es in den Augen der Anklage zu sein scheint. Er wird als der letzte Vertreter einer unheilvollen Kraft aus der dunkelsten und qualvollsten Zeit des Reiches Ihr Urteil erwarten – und war doch ein Mensch, dem man nicht ohne das Gefühl einer Tragik begegnen konnte.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich nunmehr vertagen.