[Pause von 10 Minuten.]
VORSITZENDER: Ja, Dr. Thoma!
DR. ALFRED THOMA, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN ROSENBERG: Hoher Gerichtshof, Herr Präsident!
Der dokumentarische Film, der in diesem Saale gezeigt wurde und der den »Aufstieg und das Ende des Nationalsozialismus« zeigen sollte, beginnt mit einer Rede Rosenbergs über die Entwicklung der Partei bis zur Machtübernahme. Er schildert dort auch die Münchener Erhebung und führt aus, er habe am Morgen des 9. November 1923 in der Ludwigstraße in München die Polizeiautos mit den Maschinengewehren sich versammeln gesehen, und er habe gewußt, was dem Zuge zur Feldherrnhalle drohe. Trotzdem sei er in den vordersten Linien mitmarschiert. Dieselbe Stellung nimmt mein Klient auch heute ein vor der Anklage der Anklagevertreter der Vereinten Nationen. Er will nicht, daß es so hingestellt werde, als habe auf seine Bücher und auf seine Reden und Schriften niemand gehört. Er will auch heute als kein anderer erscheinen, als er einstmals war, als ein Kämpfer für Deutschlands starke Stellung in der Welt, und zwar eines Deutschen Reiches, in dem nationale Freiheit sich mit sozialer Gerechtigkeit einigen sollte.
Rosenberg ist Deutsch-Balte von Geburt, lernte schon in seiner Jugend russisch sprechen, machte nach der Übersiedlung der Technischen Hochschule Riga nach Moskau im ersten Weltkrieg in Moskau sein Examen, interessierte sich für die russische Literatur und Kunst, hatte russische Bekannte und empfand es als rätselhaft, daß das russische Volk, von Dostojewskij als »Gottesträger-Volk« bezeichnet, von dem Geist des materialistischen Marxismus überwältigt wurde; und er fand es unbegreiflich und ungerecht, daß den vielen Völkern Osteuropas, die vom Zarismus gerade auch noch im 19. Jahrhundert erobert worden waren, das Selbstbestimmungsrecht zwar oft versprochen, aber nie freiwillig gegeben worden ist. Rosenberg gewann die Überzeugung, daß die bolschewistische Revolution sich nicht nur gegen zeitweilige politische Erscheinungen richtete, sondern gegen die ganze nationale Überlieferung, gegen die religiösen Überzeugungen und gegen die alten bäuerlichen Grundlagen Osteuropas und gegen den Gedanken des Privateigentums überhaupt. Er kam Ende 1918 nach Deutschland und sah die Gefahr einer bolschewistischen Revolution auch in Deutschland, er sah die gesamte geistige und materielle Kultur des Abendlandes gefährdet und glaubte, im Kampf gegen diese Gefahr als Anhänger Hitlers seine Lebensaufgabe gefunden zu haben. Es war ein politischer Kampf gegen fanatische und wohlorganisierte Gegner, denen internationale Hilfsquellen und internationale Rückendeckung zur Verfügung standen und die nach dem Grundsatz handelten: »Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft.« So wenig aber aus letzterer Parole militärische Angriffsabsichten der Sowjets gegen das faschistische Italien gefolgert werden konnten, so wenig bedeutete der Kampf der Nationalsozialisten gegen den Bolschewismus eine Vorbereitung zum Angriffskrieg gegen die USSR. Für den Angeklagten Rosenberg war eine militärische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, insbesondere ein Angriffskrieg gegen diese, so viel und so wenig wahrscheinlich als jedem deutschen oder ausländischen Politiker, der das Buch »Mein Kampf« gelesen hatte. Es ist nicht richtig, wenn man behauptet, er war in Aggressionspläne gegen die Sowjetunion irgendwie eingeweiht. Er hat sich vielmehr öffentlich für korrekte Beziehungen zu Moskau ausgesprochen. (Dokument Rosenberg 7 B, Seite 147). Rosenberg hatte niemals eine militärische Intervention gegen die Sowjetunion gefordert, wohl aber hat er umgekehrt den Einmarsch der Roten Armee in die Randstaaten, dann nach Deutschland gefürchtet. Als Rosenberg im August 1939 den Abschluß des Nichtangriffspaktes zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion erfuhr – er war von den vorbereitenden Besprechungen so wenig wie von sonstigen außenpolitischen Maßnahmen des Führers informiert –, hätte er zum Führer gehen und dagegen protestieren können. Er tat dies nicht und hat auch sonst mit keinem Wort sich dagegen gewendet, was der Zeuge Göring als Feststellung Hitlers bestätigt hat.
Rosenberg hat als Zeuge geschildert (Protokoll vom 16. April 1946, Band XI, Seite 525), daß er dann plötzlich anfangs April 1941 zu Hitler befohlen wurde, der ihm erklärte, er betrachte einen militärischen Zusammenstoß mit der Sowjetunion als unabwendbar. Zur Begründung nannte Hitler zwei Punkte:
1. Die militärische Besetzung rumänischen Gebiets, nämlich Bessarabiens und der Nordbukowina;
2. Die seit langem vor sich gehende ungeheure Verstärkung der Roten Armee längs der Demarkationslinie und überhaupt auf sowjetrussischem Gebiet. Diese Dinge seien so auffällig, daß er die darauf bezüglichen militärischen und sonstigen Befehle bereits erteilt habe und Rosenberg in irgendeiner Form als politischen Berater einschalten werde. Rosenberg stand hier, wie er als Zeuge weiter bekundet, einer vollzogenen Tatsache gegenüber und ein Versuch, überhaupt einmal darüber zu sprechen, wurde vom Führer abgeschnitten mit der Bemerkung, daß die Befehle eben ergangen seien, daß kaum noch etwas an dieser Sache zu ändern sei. Daraufhin hat Rosenberg ein paar seiner engsten Mitarbeiter zusammengerufen, weil er ja nicht wußte, ob die militärischen Ereignisse sehr bald oder später kommen würden, und hat über eine Behandlung der politischen Probleme Entwürfe gemacht beziehungsweise machen lassen. Am 20. April 1941 erhielt Rosenberg von Hitler einen vorläufigen Auftrag, eine Zentralstelle für die Bearbeitung der Ostprobleme zu errichten und mit den entsprechenden Obersten Reichsbehörden Fühlung in diesen Angelegenheiten zu nehmen (Dokument Nummer 865-PS, US-143).
Wenn diese Darstellung Rosenbergs selbst nicht genügt zur Widerlegung der Behauptung der Anklage, Rosenberg treffe »die persönliche Verantwortung für die Planung und Ausführung des Angriffskrieges gegen Rußland« (Brudno am 9. Januar 1946; Protokoll Band V, Seite 69), er sei sich über »den angreiferischen, plünderischen Charakter des bevorstehenden Krieges im klaren gewesen« (Rudenko vom 17. April 1946, Protokoll Band XI, Seite 632), wenn man vor allem nicht gelten lassen will, daß Rosenberg von einem bevorstehenden Angriffskrieg der Sowjetunion gegen Deutschland überzeugt war, so möchte ich noch vier Punkte zum Beweis der Richtigkeit der Angaben des Angeklagten anführen.
1. Rosenberg war nicht zugezogen zu der bekannten Besprechung in der Reichskanzlei am 5. November 1937 (Hoßbach-Dokument, Dokument Nummer 386-PS, US-25), als Hitler zum ersten Male seine Kriegsabsichten offenbarte; dies war zu der Zeit, als Rosenberg noch politische Geltung hatte oder doch zu haben schien. Wenn je, dann hätte er damals die Rolle des intimen politischen Inspirators spielen müssen.
2. Lammers hat als Zeuge vor diesem Gerichtshof bekundet, daß alle großen Entschlüsse Hitler allein gefaßt hat, so auch den Entschluß des Krieges gegen Rußland (Protokoll vom 8. April 1946, Band XI, Seite 48).
3. Göring hat am 16. März 1946 vor diesem Gericht auf meine Frage über den Einfluß Rosenbergs über die außenpolitischen Entschlüsse Hitlers geantwortet:
»Ich glaube, daß das Außenpolitische Amt der Partei nach der Machtergreifung vom Führer in außenpolitischen Fragen nicht ein einziges Mal gehört wurde und nur dafür geschaffen war, um gewisse außenpolitische Fragen, die innerhalb der Partei auftauchten, zentral zu bearbeiten. Hinzugezogen zur politischen Entscheidung nach der Machtübernahme wurde Rosenberg, soviel ich weiß, bestimmt nicht.«
Das hat auch der Zeuge Neurath am 26. Juni 1946 hier bestätigt.
Als viertes Argument möchte ich noch hinweisen auf den »Kurzen Tätigkeitsbericht des Außenpolitischen Amtes der NSDAP« (Dokument Nummer 003-PS, US-603). Dort ist in Kürze vom »Nahen Osten« die Rede in einer so harmlosen Weise, daß darüber kein Wort zu verlieren ist. Auch in den vertraulichen Berichten 004-PS und 007-PS ist von Vorbereitungen gegen die Sowjetunion nicht die Rede.