Verwaltung im Osten.
Es wäre ein leichtes und zu oberflächliches und daher ungerechtes Verfahren, wollte man sagen:
1. Das Gebiet im Osten war durch einen Angriffskrieg okkupiert, also war alles, was die deutsche Verwaltung dort getan hat, verbrecherisch;
2. Rosenberg war als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete der verantwortliche Minister, also muß er für alle Verbrechen, die dort geschehen sind, bestraft werden, mindestens für das, was im Rahmen der Zuständigkeiten und Befugnisse der Verwaltungsorgane vor sich ging. Ich werde darzulegen haben, daß diese Auffassung aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen nicht richtig ist.
Rosenberg war der Organisator und die oberste Stütze der Verwaltung des Ostens. Am 17. Juli 1941 wurde er zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannt. Er hatte auftragsgemäß bereits vorher weitere vorbereitende Arbeit in den Fragen des osteuropäischen Raumes geleistet durch Fühlungnahme mit den in Betracht kommenden Reichsstellen (Dokument Nummer 1039-PS, US-146). Er hatte seine Dienststelle für die zentrale Bearbeitung der Fragen des osteuropäischen Raumes geplant und aufgebaut (Dokument Nummer 1024-PS, US-278). Er hat die vorläufige Instruktion für die Reichskommissare entwerfen lassen (Dokument Nummer 1030-PS, US-144), hat die programmatische Rede vom 20. Juni 1941 gehalten (Dokument Nummer 1058-PS, US-147) und hat vor allem an der Führerbesprechung vom 16. Juli 1941 teilgenommen (L-221, US-317).
In Gegenwart von Rosenberg, Lammers, Keitel und Bormann sagte Hitler damals, man dürfe die wahre Zielsetzung des Krieges gegen Rußland nicht vor der ganzen Welt bekanntgeben, die Anwesenden müßten sich darüber klar sein, daß wir nie mehr aus den neuen Ostgebieten herausgehen würden, es werde ausgerottet werden, was sich uns entgegenstellt, die Bildung einer militärischen Macht westlich des Ural dürfe nicht mehr in Frage kommen, nie dürfe ein anderer Waffen tragen als der Deutsche. Hitler proklamierte die Unterwerfung und Ausnutzung der Ostgebiete und setzte sich mit diesen Äußerungen in Gegensatz zu dem, was Rosenberg ihm vorher über seine Pläne im Osten ohne Widerspruch Hitlers geäußert hatte.
Hitler hatte also vielleicht ein Versklavungs- und Ausbeutungsprogramm. Nichts liegt näher und nichts ist leichter zu sagen als: Schon bevor Rosenberg sein Ministerium antrat, hat er also die Ziele Hitlers im Osten gekannt, nämlich, ihn zu beherrschen, zu verwalten und auszubeuten, also ist er mitschuldig, nicht nur eines Verbrechens der Verschwörung gegen den Frieden, er ist auch mit- verantwortlich für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche in den Ostgebieten verübt worden sind, denn Rosenberg hat ja im Osten die vollständige Macht, die höchste Autorität besessen.
Die Frage der automatischen Verantwortlichkeit Rosenbergs als oberster Chef der Ostgebiete werde ich de jure und de facto später behandeln. Zunächst möchte ich mich der Frage seiner individuellen Verantwortlichkeit zuwenden. Sie könnte man aus einem doppelten Grunde herleiten:
1. weil er angeblich den Angriffskrieg gegen die Sowjetunion mit vorbereitet habe; ich habe schon ausgeführt, daß diese Behauptung unrichtig ist. Rosenberg hat weder ideell noch faktisch an der Vorbereitung des Angriffskrieges mitgewirkt;
2. weil er den Eroberungsplan Hitlers dadurch unterstützte, daß er Pläne machte, Reden hielt, die Verwaltung organisierte. Wenn ein Minister oder Feldherr auf Weisung des Staatsoberhauptes für spätere Eventualitäten Pläne ausarbeitet oder vorbereitende organisatorische Maßnahmen trifft, so kann diese Tätigkeit auch dann nicht als verbrecherisch angesehen werden, wenn dadurch die Interessen anderer Länder berührt werden, und selbst dann nicht, wenn die Pläne Vorbereitungen und Maßnahmen für den Fall eines Krieges sind. Nur dann, wenn der betreffende Minister oder Feldherr auf Dinge hinarbeitet, die nach gesundem Menschenverstand und internationalem Anstands- und Gerechtigkeitsgefühl als verbrecherisch bezeichnet werden müssen, kann er individuell verantwortlich gemacht werden. Rosenberg hat fortgesetzt durch Wort und Tat bewiesen, daß die überkommenen Anschauungen von Rechtlichkeit auch seine Anschauungen sind und daß er sie durchzusetzen gewillt war. Seine Situation ist allerdings besonders schwierig gewesen, da sein oberster Chef in seinen Ideen, Zielen und Absichten sich schließlich jenseits der Grenzen bewegt hat, und daß noch andere starke Kräfte am Werke waren, die Rosenbergs gute und faire Absichten durchkreuzten und sabotierten, wie Bormann, Himmler und der Gauleiter Erich Koch. So erleben wir das eigentümliche Schauspiel, daß ein Minister regierte, der die Intentionen des Staatsoberhauptes teils nicht verstehen und nicht billigen kann, teils gar nicht kennt, und daß andererseits ein Staatsoberhaupt einen Minister ernennt und fungieren läßt, der zwar ein alter und treuer politischer Mitkämpfer ist, mit dem er aber keinerlei inneren Kontakt mehr hat. Es wäre verfehlt, solche Konstellationen ohne weiteres mit demokratischen Begriffen von Ministerverantwortlichkeit zu beurteilen. Rosenberg konnte nicht einfach zurücktreten, er fühlte in sich aber auch die Pflicht, für die ihm richtig und anständig erscheinende Ansicht zu kämpfen.
Bei seiner Rede vom 20. Juni 1941 sagte Rosenberg, daß es Pflicht der Deutschen sei zu überlegen, daß Deutschland nicht alle 25 Jahre um seinen Bestand im Osten zu kämpfen habe. Er wünscht aber keineswegs Vernichtung der Slaven, sondern Förderung aller Völker Osteuropas und Förderung, nicht Vernichtung ihrer Eigenstaatlichkeit. Er forderte (Dokument Nummer 1058-PS, US-147) »freundschaftliche Gesinnung« für die Ukrainer, Sicherung der »nationalen und kulturellen Existenz« für die Kaukasier; er betonte, daß wir selbst bei einem Kriege »keine Feinde des russischen Volkes« seien, dessen große Leistungen wir anerkennen. Er trat ein für das »nationale Selbstbestimmungsrecht der Völker« – einen der ersten Punkte der ganzen Sowjet-Revolution selbst. Dies war seine bis zum Schluß mit Zähigkeit vertretene Idee. In jener Rede findet sich auch der Passus, der ihm von der Anklagebehörde besonders zur Last gelegt wird, daß die deutsche Volksernährung in diesen Jahren zweifellos an der Spitze der deutschen Forderungen im Osten stehen wird und daß die Südgebiete und Nordkaukasien einen Ausgleich für die deutsche Volksernährung zu scharfen hätten. Rosenberg fährt dann wörtlich fort:
»Wir sehen durchaus nicht die Verpflichtung ein; aus diesen Überschußgebieten das russische Volk mitzuernähren. Wir wissen, daß das eine harte Notwendigkeit ist, die außerhalb jeden Gefühls steht. Zweifellos wird eine sehr umfangreiche Evakuierung notwendig sein, und dem Russentum werden sicher sehr schwere Jahre bevorstehen. Inwieweit dort Industrien noch erhalten bleiben sollen, ist einer späteren Entscheidung vorzubehalten.«
Dieser Passus steht ganz unvermittelt und isoliert in der langen Rede. Man spürt deutlich: er ist hineingepreßt, es ist nicht die Stimme Rosenbergs. Rosenberg verkündet hier kein eigenes Programm, sondern er stellt nur Tatsachen fest, die außerhalb seines Willens liegen. In den Richtlinien des Ostministeriums (Dokument Nummer 1056-PS, US-605) wird die Ernährung der Bevölkerung als besonders vordringlich bezeichnet, ebenso ihre Versorgung mit ärztlichen Hilfsmitteln.
Der echte Rosenberg tritt dagegen in der Besprechung vom 16. Juli 1941 hervor, als er gegenüber den Plänen Hitlers an die Universität Kiew erinnerte, an die Selbständigkeit der kulturellen Förderung der Ukraine, als er sich gegen die vorgesehene Vollmacht der Polizei und vor allem gegen die Einsetzung des Gauleiters Erich Koch in der Ukraine wehrte (Dokument Nummer L-221).
Man wird sagen: Was nützen Widersprüche und Proteste, was nützen geheime Vorbehalte und scheinbares Eingehen auf die Intentionen Hitlers, jedenfalls hat auch Rosenberg mitgemacht. Darum ist auch er verantwortlich. – Wie und wie weit Rosenberg die Politik im Osten mitgemacht hat, was er nicht getan hat, wie er sich dagegen gewehrt hat, was er selbst geplant und gewünscht hat, werde ich später noch im einzelnen darlegen, um ihn gegen den schweren Vorwurf der Verantwortlichkeit für die behauptete Ausbeutung und Versklavung des Ostens zu verteidigen. Hier möchte ich nur auf folgendes hinweisen: Es war keineswegs aussichtslos, auch leidenschaftliche Ausführungen Hitlers zunächst widerspruchslos hinzunehmen in der Hoffnung und in der Absicht, später doch das Gegenteil zu erreichen. Entgegen jener Äußerung Hitlers: »Nie darf ein anderer im Osten Waffen tragen als der Deutsche«, dauerte es zum Beispiel nicht lange, daß unter Befürwortung Rosenbergs Freiwilligenlegionen aus den Völkern des Ostens aufgestellt wurden und entgegen Hitlers Wunsch Ende 1941 ein Toleranzedikt für die Kirchen im Osten kam (Dokument Nummer 1517-PS). Wenn Rosenberg auch zunächst nichts für die Autonomie der Ostvölker erreichen konnte, so hielt er doch auch in dieser Hinsicht an seinen Plänen für die Zukunft fest. Zunächst nahm er sich der dringenden Agrarfragen an. Es wurde eine Agrarordnung fertiggestellt, die am 15. Februar 1942 dem Führer vorgetragen werden konnte und von ihm in unveränderter Form genehmigt wurde.
Sie war nicht ein Instrument der Ausbeutung, sondern ein Akt freiheitlicher Gestaltung der Agrarverfassung mitten in dem furchtbarsten aller Kriege. Mitten im Krieg erhielten die Ostländer aber nicht nur eine neue Agrarverfassung, sondern auch Landmaschinen. Der Zeuge Professor Dencker hat in seiner eidesstattlichen Versicherung folgende Lieferungen in die besetzten sowjetischen Gebiete einschließlich der ehemaligen Randstaaten bekundet:
Ackerschlepper, 40-50 PS ca. 7000 Stück
Dreschmaschinen ca. 5000 Stück
Bodenbearbeitungsgeräte ca. 200000 Stück
Gasgeneratoren für deutsche und russische Schlepper ca. 24000 Stück
Erntemaschinen ca. 35000 Stück
Gesamtaufwand ca. KM 180000000.-.
Ich glaube nicht, daß man sagen kann, diese Lieferungen seien in Ausbeutungsabsicht geschehen. Rosenberg hat also auch hier segensreiche Aufbauarbeit geleistet.
Ich behandle des weiteren zunächst die Frage der automatischen Verantwortlichkeit Rosenbergs als Ostminister, also die Frage seiner strafrechtlichen Haftung auf Grund seiner Amtsstellung.
Rosenberg wurde am 17. Juli 1941 zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannt. Als Territorialhoheiten wurden zwei Reichskommissariate gebildet: Ostland (Estland, Lettland, Litauen und Weißruthenien) unter dem Reichskommissar Lohse, und Ukraine unter dem Reichskommissar Koch. Die Reichskommissariate wurden in Generalbezirke und in Gebiete eingeteilt. Das Ostministerium war von Anfang an nicht als groß ausgebaute Verwaltungsbehörde gedacht, sondern als eine Zentrale, als eine oberste Instanz, die sich auf Rahmenverordnungen und grundsätzliche Weisungen beschränken sollte und im übrigen für die Sicherung des ganzen Material- und Personalnachschubs sorgen sollte. Die eigentliche Regierung war Sache des Reichskommissars, er war der Souverän in seinem Gebiet.
Von besonderer Bedeutung ist weiter, daß Rosenberg als Ostminister nicht die Spitze der gesamten Ostverwaltung war, sondern daß mehrere Spitzen nebeneinander bestanden. Der Beauftragte für den Vierjahresplan, Göring, war verantwortlich für die Wirtschaftslenkung aller besetzten Gebiete und war in dieser Hinsicht dem Ostminister vorgesetzt, denn Rosenberg durfte wirtschaftliche Verordnungen nur mit Zustimmung Görings erlassen. Der Chef der Deutschen Polizei, Himmler, war allein und ausschließlich zuständig für die polizeiliche Sicherung der besetzten Ostgebiete; im Ostministerium selbst bestand überhaupt keine Polizeiabteilung, auch nicht bei den Reichskommissaren. Die Zuständigkeit Rosenbergs war weiter ausgehöhlt durch den »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums«, Himmler, ferner durch Speer, zu dessen Gunsten die gesamte Technik aus der Ostverwaltung durch Führererlaß ausgegliedert wurde, und durch Goebbels, der die Propaganda auch in den besetzten Ostgebieten für sich in Anspruch nahm. Auf das wichtige Gebiet des Arbeitseinsatzes, der Sauckel unterstellt wurde, werde ich später zu sprechen kommen.
Rosenberg war aber immerhin verantwortlicher Minister für die besetzten Ostgebiete. Hierzu ist folgendes zu betonen:
Rosenberg wird in diesem Prozeß nicht politisch verantwortlich gemacht, denn der Hohe Gerichtshof ist kein Parlament; er wird auch nicht staatsrechtlich verantwortlich gemacht, das Hohe Tribunal ist auch kein Staatsgerichtshof, es geht auch nicht um die zivilrechtliche Haftung des Angeklagten, sondern einzig um seine strafrechtliche Haftpflicht, um seine Verantwortlichkeit für die behaupteten eigenen Verbrechen und für die Verbrechen anderer. Ich brauche nicht näher auszuführen, daß für eine strafrechtliche Haftung und Verurteilung dem Angeklagten nachgewiesen sein muß, daß er schuldhaft und rechtswidrig einen Tatbestand verwirklicht hat und daß er für ein Nichtstun, also eine Unterlassung, nur bestraft werden kann, wenn er die Rechtspflicht hatte zu handeln und wenn infolge seiner Untätigkeit der verbrecherische Erfolg eingetreten ist, wenn er also die faktische Möglichkeit hatte, den verbrecherischen Erfolg zu verhindern.
Von ausschlaggebender Bedeutung erscheint mir, daß Rosenberg für die besetzten Ostgebiete Minister, aber kein Souverän war. Souveräne waren die Reichskommissare in den riesigen Territorien »Ostland« und »Ukraine«. Die Linien der kommenden staatsrechtlichen Neugestaltung dieser Gebiete waren noch nicht sichtbar, aber das eine stand fest: Der Reichskommissar war die oberste Spitze, er war es zum Beispiel, der bei wichtigsten Maßnahmen, wie Erschießung von Bewohnern eines Gebietes wegen Sabotageakten, das Recht der endgültigen Entscheidung hatte. In der Praxis nahm für die Dinge – wie ich einschalten möchte – die Polizei ihre ausschließliche Zuständigkeit wahr. Das Reich, also andere Stellen hatten das Recht der grundsätzlichen Gesetzgebung und Oberaufsicht. Die Stellung Rosenbergs als Minister für die besetzten Ostgebiete kann man in Abwandlung des bekannten Ausspruches des französischen Staatsrechtslehrers Benjamin Constant: »Le roi regne, mais il ne gouverne pas« folgendermaßen umschreiben: »Le ministre gouverne, mais il ne regne pas«. Es bestand eine Souveränität des Reichskommissars mit einer zentralen Oberaufsicht des Ostministers, ähnlich gewissen Dominien des englischen Empire. Niemandem würde es heute einfallen, den zuständigen englischen Minister vor ein Tribunal zu stellen, weil ein Gouverneur in Indien ein Eingeborenendorf hat bombardieren oder niederbrennen lassen.
Ich komme also zu dem Ergebnis, daß eine automatische, strafrechtliche Verantwortlichkeit Rosenbergs wegen Nichthinderung von Verbrechen im Osten schon deshalb nicht besteht, weil er zwar die Oberaufsicht hatte, aber nicht souverän war; dies waren die beiden Reichskommissare.
Es muß weiter gefragt und kurz untersucht werden, ob den Angeklagten für eine verbrecherische Ausbeutung und Versklavung der Völker des Ostens und vielleicht für weitere Verbrechen eine individuelle Schuld trifft. Wie war seine Haltung, welches waren die Generallinien und die allgemeinen Tendenzen seiner Politik, was hat er positiv getan, und was hat er gehindert oder doch zu hindern versucht?
In den baltischen Ländern wurden landeseigene Verwaltungen (Direktorien) eingesetzt unter deutscher Oberaufsicht. Die deutsche Verwaltung wurde vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete verpflichtet, weitgehendes Verständnis für alle erfüllbaren Wünsche entgegenzubringen und ein gutes Verhältnis zu den baltischen Völkern zu erstreben; die Baltenländer hatten freies Rechts-, Schul- und Kulturwesen und waren lediglich im politischen, wirtschaftlichen und polizeilichen Gebiet beschränkt. Die Agrarreform im Baltikum nach dem Kriege 1914-1918 war fast ausschließlich auf Kosten des 700jährigen deutschen Eigentums durchgeführt worden. Trotzdem hat Rosenberg als Ostminister durch Gesetz die Reprivatisierung der zum Teil schon von der Sowjetunion seit 1940 kollektivierten Bauernhöfe angeordnet und durch diese Rückgaben des einst den deutschen Eigentümern fortgenommenen Bodens das denkbar größte Entgegenkommen des Deutschen Reiches zum Ausdruck gebracht. Der Zeuge Riecke hat das, ebenso wie die schon erwähnte Agrarordnung, ausdrücklich bestätigt (Protokoll vom 17. April 1946, Band XI, Seite 647 ff.).
Im Generalbezirk Weißruthenien wurde unter dem Generalkommissar Kube die selbständige Verwaltung angebahnt. Es wurde der »Weißruthenische Zentralausschuß« gegründet, ferner ein weißruthenisches Hilfswerk und ein weißruthenisches Jugendwerk. Als eine weißruthenische Jugendabordnung von einem Besuch aus dem Reich zurückgekehrt war, sagte Kube, er werde sich weiter wie ein Vater der weißruthenischen Jugend annehmen. In der folgenden Nacht wurde er ermordet, die Politik wurde jedoch nicht geändert.
Ich bemerke hier nebenbei, daß die eigentlichen russischen Gebiete zwischen Narwa und Leningrad und um Smolensk die ganze Zeit über unter Militärverwaltung geblieben waren. Desgleichen die Bezirke um Charkow und die Krim.
Was die Ukraine anbelangt, so hatte Rosenberg die Absicht, in kürzester Zeit der Ukraine eine weitgehende zentrale Selbstverwaltungshoheit zu geben, ähnlich den Direktorien in den Baltenländern, verbunden mit einer ausgesprochenen Förderung der kulturellen und erzieherischen Bedürfnisse des Volkes. Nachdem Rosenberg anfänglich glaubte annehmen zu können, daß Hitler diese Auffassung billigte, gewann eine andere Auffassung die Überhand, die glaubte, alle Kräfte der unmittelbaren Kriegswirtschaft zuführen zu müssen. Nur eines konnte Rosenberg erreichen und durchsetzen: die neue Agrarordnung vom 15. Februar 1942, die einen Übergang von der Kollektivwirtschaft der Sowjetunion zur persönlichen Ausnutzung, dann zum bäuerlichen Eigentum vorsah. Am 23. Juni 1943 erschien in Ergänzung hierzu die Eigentumsdeklaration. Mit ihrer Durchführung konnte zunächst wegen des Widerstandes des Reichskommissars Koch nicht begonnen werden, dann aber machten die militärischen Ereignisse allem weiteren ein Ende. Den Inhalt einer weiteren grundsätzlichen Verordnung bildete eine allgemeine Schulregelung, die Rosenberg ausarbeiten ließ, weil der Reichskommissar für die Ukraine dies selbst zu tun ablehnte. Rosenberg sah Volksschulen und höhere Fachschulen vor; der Reichskommissar legte Protest ein. Aus Anlaß des sich immer mehr verschärfenden Konflikts zwischen Rosenberg und dem Reichskommissar Koch gab Hitler im Juni 1943 die folgende schriftliche Anweisung: Der Reichskommissar dürfe keine Obstruktion üben, der Reichsminister für die besetzten Ostgebiete solle sich jedoch auf das Grundsätzliche beschränken und bei seinen Verfügungen dem Reichskommissar für die Ukraine vorher eine Stellungnahme ermöglichen, was praktisch einer Koordination Kochs neben Rosenberg gleichkam.
Die eigenartige staatsrechtliche Stellung Rosenbergs als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete und seine immer schwächer werdende politische Position hat der Zeuge Lammers bei seiner Vernehmung am 8. April 1946 geschildert. Ich möchte folgende markante und besonders wichtige Bekundungen des Zeugen hervorheben: Die Machtstellung des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete war durchlöchert durch die Wehrmacht, durch Göring als den Beauftragten für den Vierjahresplan, durch Himmler als Chef der Deutschen Polizei, durch Himmler als Reichskommissar zur Festigung des deutschen Volkstums (Umsiedlungsmaßnahmen), durch Sauckel als Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, durch Speer auf dem Gebiet der Rüstung und Technik und schließlich durch die Meinungsverschiedenheiten mit Goebbels als Propagandaminister. Weiter war Rosenberg eingeschränkt dadurch, daß für die besetzten Ostgebiete zwei Reichskommissare, Lohse und Koch, eingesetzt wurden. Der Höhere SS- und Polizeiführer war zwar dem Reichskommissar »persönlich und unmittelbar« unterstellt, konnte aber, wie Lammers bekundete, in fachlicher Beziehung keine Befehle von Rosenberg oder vom Reichskommissar erhalten, sondern nur von Himmler.
Lammers sagt weiter: Rosenberg hat im Osten immer eine gemäßigte Politik treiben wollen, er war zweifellos gegen eine »Politik der Ausrottung« und gegen eine »Politik der Deportation«, die anderweitig vielfach gepredigt wurde. Er hat sich Mühe gegeben, die Landwirtschaft in Ordnung zu bringen durch die Agrarordnung, das Schulwesen in Ordnung zu bringen, die Kirchenangelegenheiten, die Universitäten und die Schulen. Rosenberg ist nur schwer durchgekommen, weil vor allem der Reichskommissar für die Ukraine die Befehle Rosenbergs einfach nicht befolgt hat. Rosenberg war für die Herstellung einer gewissen Selbständigkeit der Ostvölker, ganz besonders lag ihm die kulturelle Betreuung derselben am Herzen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Koch und Rosenberg hätten, sagt Lammers, Bände von Akten gefüllt. Hitler bestellte Rosenberg und Koch bei sich zusammen und entschied, die beiden sollten sich jeden Monat einmal treffen und sich miteinander ins Benehmen setzen.
Der Zeuge Lammers sagt mit Recht, daß es für Rosenberg als den vorgesetzten Minister eine unerträgliche Zumutung war, sich mit dem ihm unterstellten Reichskommissar in jedem Fall ins Einvernehmen setzen zu müssen; in der Folgezeit stellte sich heraus, daß trotz des Treffens eine Einigung doch nicht zustande kam und daß dann letzten Endes doch Herr Koch beim Führer recht bekam. Rosenberg wurde, so sagt Lammers schließlich, zum letztenmal Ende 1943 vom Führer empfangen, und vorher hatte er auch schon immer starke Schwierigkeiten, beim Führer anzukommen. Sitzungen des Reichskabinetts fanden schon seit 1937 nicht mehr statt.
Hitlers Ideen gingen immer mehr nach der Richtung Bormann-Himmler. Der Osten wurde das Versuchsfeld. Für diesen Kreis schien es, wie erst heute ganz deutlich ist, hoffnungslos, bei Rosenberg Verständnis zu erhoffen für die von ihnen gewollte Entwicklung des Reiches. Rosenberg hatte keine Ahnung über den Umfang des Kampfes gegen ihn. Seine Auseinandersetzung mit dem Reichskommissar Koch, dem Exponenten Himmlers und Bormanns, ist ein Beweis dieser Unkenntnis, ist aber auch ein voller Beweis für die Integrität Rosenbergs.
Am 14. Dezember 1942 hat Rosenberg eine Instruktion an den Reichskommissar für die Ukraine erlassen (194-PS); die anderen sind leider nicht gefunden worden. Rosenberg fordert in ihr von den Verwaltungsführern anständige Haltung und Gesinnung, er fordert Gerechtigkeit und menschliches Verständnis für die Bevölkerung, die in Deutschland von jeher den Träger einer gesetzlichen Ordnung gesehen habe; der Krieg habe zwar furchtbare Härten, aber jedes Vergehen müsse gerecht geprüft und beurteilt werden und dürfe nicht ungebührlich hoch bestraft werden. Es sei auch unzulässig, daß deutsche Dienststellen in verächtlichen Redensarten der Bevölkerung gegenüberträten. Herr sei man nur durch entsprechende Haltung und Handlung, nicht aber durch aufdringliches äußeres Gebaren; die eigene Haltung müsse den anderen Achtung vor den Deutschen abringen; diejenigen Verwaltungsführer, die sich ihrer Aufgabe nicht würdig gezeigt hätten, die die ihnen anvertrauten Ämter mißbraucht und durch schädliches Betragen sich unserer Uniform unwürdig gezeigt hätten, seien entsprechend zu behandeln, vor Gericht zu stellen oder nach Deutschland abzutransportieren.
Das Echo, das solche Erlasse bei Koch gefunden haben, ergibt sich aus dessen Memorandum vom 16. März 1943 (192-PS). Koch schreibt: Es sei befremdend, daß nicht nur korrekte, sondern liebenswürdige Umgangsformen, gepaart mit einer nicht nachlassenden Hilfsbereitschaft den Ukrainern gegenüber gefordert werden. Es werde weiter von Rosenberg Achtung vor dem hochentwickelten Bewußtsein des ukrainischen Volkes verlangt und es sei nach Rosenberg ein hohes Maß kultureller Selbstverwaltung für die Ukraine zu wünschen; Völker von der Größe wie das ukrainische könnten nicht in dauernder Abhängigkeit gehalten werden, der Ostfeldzug sei ein politischer Feldzug und kein wirtschaftlicher Raubzug. Koch spricht dabei gegenüber Rosenberg in zynischer Weise von einem Höhepunkt der Beziehungen seines Hauses gegenüber der ukrainischen Emigration. Noch andere Erlasse Rosenbergs werden von Koch kritisiert. So ein Erlaß vom 18. Juni 1942, daß von Rosenberg insgesamt 2,3 Millionen Reichsmark für ukrainische Schulbücher zu Lasten des Haushalts des Reichskommissariats beschafft würden, ohne daß vorher mit Koch überhaupt Verbindung aufgenommen worden sei. Es sollten eine Million Fibeln, eine Million Lesebogen, 200000 Schulbücher, 300000 Sprachbücher, 200000 Rechenbücher in einer Zeit beschafft werden, in der für deutsche Schulkinder kaum das notwendigste Papier zur Verfügung steht.
Weiter sagt Koch:
»Es ist nicht notwendig, daß durch mehrfache Erlasse Ihres Ministeriums und durch fernmündliche Vorstellung immer wieder hingewiesen wird, daß jeder Zwang bei der Arbeiterwerbung zu unterbleiben hat, und daß sogar vom Ostministerium verlangt wird, daß bei jedem Fall von Zwangsanwendung dem Ministerium zu berichten sei.«
Durch einen weiteren Erlaß sei Koch zum Vorwurf gemacht, die Schließung von Fachschulen veranlaßt zu haben, und daß Rosenberg den Generalkommissaren eine andere Schulpolitik befohlen habe unter Umgehung seiner, des Reichskommissars, Zuständigkeit. Koch schließt mit der versteckten Drohung, daß ihm als altem Gauleiter der Weg zum Führer nicht verboten werden könne.
So viel herausfordernde Kritik an Rosenberg, so viel ungewolltes Lob und so viel Beweis für die absolute Anständigkeit seiner Haltung und die weitsichtige und staatsmännische Amtsführung als Chef der Ostverwaltung!
Ein letztes Dokument aus dem Kampf Rosenbergs gegen Koch ist der Bericht betreffend den Reichskommissar Koch und das Waldgebiet von Zuman vom 2. April 1943 (032-PS), worüber Rosenberg als Zeuge erschöpfende Auskunft gegeben hat. Gerade hier hat sich die Gewissenhaftigkeit Rosenbergs besonders deutlich gezeigt (Protokoll vom 16. April 1946, Band XI, Seite 556 ff. und vom 17. April 1946, Band XI, Seite 635-637).
Und nun eine andere Szene, die wir an uns noch einmal vorüberziehen lassen müssen, weil die Anklage ihr ein besonderes Gewicht beilegte: Bormann schreibt im Juli 1942 an Rosenberg, Rosenberg antwortet; ein Dritter, Dr. Markull, Mitarbeiter Rosenbergs in seinem Ministerium, schreibt eine Kritik dazu. Nach der Darstellung Dr. Markulls ist der Sinn des nicht mehr im Original vorhandenen Briefes Bormanns, zugespitzt, folgender gewesen: Die Slawen sollten für uns arbeiten; soweit wir sie nicht brauchen, sollen sie sterben; Gesundheitsfürsorge sei überflüssig, die slawische Fruchtbarkeit sei unerwünscht, die Bildung sei gefährlich; es genüge, wenn sie bis 100 zählen können. Jeder Gebildete sei ein zukünftiger Feind. Die Religion ließen wir ihnen als Ablenkungsmittel; an Verpflegung sollten sie nur das Notwendige bekommen; wir seien die Herren, wir kämen zuerst.
Auf diesen Brief des engsten Mitarbeiters Hitlers konnte es für Rosenberg nur eine Antwort geben: scheinbare Zustimmung und scheinbares Nachgeben. Im Schoße des Ostministeriums erhoben sich wegen dieser merkwürdigen scheinbaren Gesinnungsänderung ihres Chefs erhebliche Sorgen, die im Memorandum Dr. Markulls vom 5. September 1942 zum Ausdruck kommen. Rosenberg hat als Zeuge bekundet, und es kann bei unbefangenem Durchlesen dieses Schriftstückes keinem Zweifel unterliegen, daß er nur zur Beruhigung Hitlers und Bormanns zugestimmt hat. Er wollte sich schützen gegen einen Angriff aus dem Führerhauptquartier, den Rosenberg mit Sicherheit erwartete, weil er mehr für die Ostvölker täte als für das deutsche Volk, weil er mehr Ärzte verlangte, als das deutsche Volk für seine eigenen Kranken hätte und so weiter. Das Markull-Memorandum ist ein denkbar unverdächtiges Spiegelbild der Persönlichkeit und des Wirkens Rosenbergs, denn es beschwört der besorgte Untergebene den Geist seines Ministers, so wie er ihn in der Praxis seiner Amtsführung kennen und lieben gelernt hat, gegen ein fremdes Phantom, das an dessen Stelle getreten zu sein scheint. Es heißt da, daß jene Gedankengänge zwar mit der Politik des Reichskommissars Koch übereinstimmen, nicht aber mit den Erlassen des Reichsministers und der Auffassung von mindestens 80 Prozent der auf den Minister hoffenden Gebietskommissare und Sachbearbeiter, wonach man das Volk im Osten anständig und verständnisvoll behandeln müsse, daß es eine überraschend hohe kulturelle Begabung besitze, daß die Arbeitsleistung gut sei, daß wir aber im Begriffe seien, ein kostbares Kapital an Dankbarkeit, Liebe und Vertrauen zu verwirtschaften. Der Gegensatz zwischen Minister und Reichskommissar sei in allen Obersten Reichsbehörden bekannt, und man wisse, daß das Ministerium seine Politik gegen die Reichskommissare nicht durchsetzen könne, und daß die Reichskommissare das Ostministerium für vollkommen überflüssig halten; das Bormannsche Schreiben würde die gesamte bisherige Politik des Ostministers desavouieren, und man habe den Eindruck, daß Koch gegen den Minister bei Hitler recht bekommen hat; das Ministerium habe seit seiner Gründung einen steigenden Machtverlust zu beklagen. Die Höheren SS- und Polizeiführer lehnen es ab, den Generalkommissaren die normalen Ehrenrechte, wie Meldung, zu erweisen; eine Kompetenz des Ostministers nach der anderen würde seitens anderer Oberster Reichsbehörden herausgelöst, in den Berliner Dienststellen werde offen davon gesprochen, daß der Umbau des Ministeriums in einen bloßen Führungsstab zu erwarten sei. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete genieße andererseits um der Persönlichkeit seines Leiters willen in der Öffentlichkeit einen außerordentlichen Kredit.
Dr. Markull beschwört den Minister, bei seinen ursprünglichen Konzeptionen zu verbleiben; der unglückselige Herrenkomplex sei ebenso abzulehnen wie die Meinung, die Intelligenz sei volksfremd. Dem Wirken geistiger Kräfte müsse Rechnung getragen werden; Deutschland müsse ein »gerechter Richter« sein und die völkischen und kulturellen Rechte der Völker anerkennen. Dies sei die bisherige Konzeption des Ministers, diese müsse fortgesetzt werden.
Rosenbergs Haltung änderte sich auch tatsächlich nicht, gerade jetzt gab er die große Schulverordnung in Arbeit. Später erreichte er die Wiederöffnung vor allem der medizinischen Fachhochschulen, bis es dann zum Konflikt mit dem Führer im Mai 1943 kam.
Am 12. Oktober 1944 reichte Rosenberg über Lammers sein Abschiedsgesuch an den Führer ein (Dokument Rosenberg-14), weil die deutsche Ostpolitik im allgemeinen und die politische psychologische Behandlung der Ostvölker im besonderen seiner von Anfang an vorgetragenen Anschauung entgegengesetzt blieb, seinem Plan der Autonomie der Ostvölker und ihrer kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten inmitten der gesamten europäischen Konzeption einer Völkerfamilie des Kontinents. Er war nun innerlich fertig und sah ein großes staatsmännisches Programm gescheitert. Er konnte über die Versklavungs- und Ausbeutungspolitik, die in seinem Lande getrieben wurde, lediglich Memoranda seiner internen Mitarbeiter entgegennehmen oder bestenfalls mit Leuten wie Koch einen aussichtslos, gewordenen Federkrieg führen. Er war nicht stark genug gewesen gegen das, was mit Blindheit geschlagene Kräfte im Osten an Plänen verwirklichen wollten, und er war ohnmächtig gegen ihr Wirken, wobei ihm damals noch alle polizeilichen und militärischen Befehle unbekannt waren, die hier dem Hohen Gericht vorgelegt worden sind.
Als Rosenberg einmal bei Hitler an die Errichtung der Universität Kiew erinnerte, sagte Hitler scheinbar zu; als Rosenberg draußen und er mit Göring allein war, sagte Hitler: »Der Mann hat auch besondere Sorgen. Es gibt jetzt wichtigere Dinge für uns, als Universitäten in Kiew.«
Keine Episode beleuchtet besser als alle Dokumente das eine Thema: Rosenberg und die Wirklichkeit im Osten, und das andere Thema: Rosenberg als angeblicher Inspirator Hitlers.
Nachdem Rosenberg auf sein Abschiedsgesuch keine Antwort erhielt, hat er mehrfach versucht, Hitler persönlich zu sprechen. Es war umsonst.
Herr Dodd hat am 11. Dezember 1945 gesagt:
»Das System des Hasses, der Barbarei und der Verleugnung persönlicher Rechte, welches die Verschwörer zur Staatsphilosophie Deutschlands erhoben hatten, ist den nationalsozialistischen Herren gefolgt als sie Europa überrannten. Die ausländischen Arbeiter wurden die Sklaven des Herrenvolkes, wurden millionenweise deportiert und versklavt.«
Und General Rudenko sagte am 8. Februar 1946:
»In den langen Reihen ruchloser Verbrechen seitens der deutsch-faschistischen Besatzungstruppen nimmt die Zwangsdeportierung friedlicher Bürger in Sklaverei und Leibeigenschaft in Deutschland eine besondere Stellung ein.«
Für die unmenschlichen und barbarischen Verordnungen, Verkündungen und Befehle der Hitler-Regierung, deren Herausgabe die Durchführung der Deportierung von Sowjetmenschen in deutsche Sklaverei zum Zwecke gehabt hätte, seien insbesondere Göring, Keitel, Rosenberg und Sauckel verantwortlich.
Über die formale und individuelle Verantwortlichkeit Rosenbergs als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete habe ich mich schon geäußert. Ich habe auch schon ausgeführt, daß auf dem Gebiet des Arbeitseinsatzes nicht Rosenberg, sondern Sauckel als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz die oberste Spitze und der Verantwortliche gewesen ist, auf Grund des Führererlasses vom 21. März 1942 (580-PS). Sauckel war auf seinem Gebiet Rosenberg also übergeordnet. Am 3. Oktober 1942 zum Beispiel schreibt er an Rosenberg (Dokument Nummer 017-PS):
»Der Führer hat neue dringlichste Programme für die Rüstung gestellt, die den beschleunigten Einsatz von zwei Millionen weiterer fremdländischer Arbeitskräfte erforderlich machen. Der Führer hat mir daher in Durchführung seines Erlasses vom 21. März 1942 für meine weiteren Aufgaben neue Vollmachten erteilt und mich insbesondere ermächtigt, nach meinem Ermessen alle Maßnahmen im Reich... und in den besetzten Ost gebieten zu treffen, die den geordneten Arbeitseinsatz für die deutsche Rüstungswirtschaft unter allen Umständen gewährleisten.«
In seinem »Programm für den Arbeitseinsatz« vom 24. April 1942 (016-PS) betont er, daß alle technischen und verwaltungsmäßigen Vorgänge des Arbeitseinsatzes der ausschließlichen Zuständigkeit und Verantwortlichkeit des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, den Landesarbeitsämtern und den Arbeitsämtern obliegen. Die Verteidigung Sauckels ist nicht meine Aufgabe, ich darf aber darauf hinweisen, daß auch er nicht mit Haßgefühlen und Versklavungsabsichten an seine große und schwere Aufgabe herangetreten ist. In seinem soeben erwähnten Programm für den Arbeitseinsatz zum Beispiel sagt er unter anderem:
»Es ist alles zu vermeiden, was über die kriegsbedingten Einschränkungen und Härten hinaus den fremden Arbeitern und Arbeiterinnen den Aufenthalt in Deutschland erschweren oder gar unnötig verleiden könne. Es entspricht daher dem Gebot der Vernunft, ihren Aufenthalt und ihre Arbeit in Deutschland, ohne uns selbst etwas zu vergeben, so erträglich wie möglich zu machen.«
In diesem Punkte waren Sauckel und Rosenberg der gleichen Anschauung.
Es ist auch nicht meine Aufgabe darzulegen und zu beweisen, daß tatsächlich viele Hunderttausende von fremdvölkischen Arbeitern in Deutschland ein gutes Los getroffen haben, ja daß es tatsächlich unzähligen besser gegangen ist als in ihrer Heimat, sondern ich habe mich nur mit den dem Angeklagten Rosenberg zur Last gelegten Mißständen zu befassen.
Ich komme nun zur »Zentralstelle für die Angehörigen der Ostvölker«.
Hohes Gericht! Ich habe vor einigen Tagen die eidesstattliche Versicherung des Dr. Albert Beil vorgelegt. Sie enthält im wesentlichen aus autoritativem Munde das, was über dieses Thema zu sagen ist. Ich möchte deshalb dieses Thema »Zentralstelle für die Angehörigen der Ostvölker« überschlagen und das Gericht bitten, es als vorgetragen zu betrachten.
2. Zentralstelle für die Angehörigen der Ostvölker.
Der Krieg wurde immer intensiver in seiner Totalität und Brutalität, auch der deutsche Arbeiter und der Deutsche überhaupt hatte alles andere eher als ein Herrendasein; auch der Deutsche wurde in weitestem Umfang, soweit er nicht zum Heere eingezogen wurde, durch Arbeitsverpfilchtung zur Arbeit eingesetzt, mußte lange und schwer arbeiten, wurde von seiner Familie getrennt, mußte sich vielfach mit schlechter Unterkunft begnügen, besonders infolge der fortschreitenden Zerstörungen der Wohnungen durch den Luftkrieg, auch er wurde strengstens bei Arbeitsverweigerung oder Arbeitsversäumnis bestraft.
Daß auch der ausländische Arbeiter von dieser Totalität und Brutalität des Krieges erfaßt wurde, sicherlich in mancher Hinsicht noch schwerer als der deutsche, kann ganz gewiß nicht Rosenberg zur Last gelegt werden, weder in rechtlicher noch in moralischer Hinsicht. Er gründete in seinem Ministerium die Zentralstelle für Angehörige der Ostvölker, die von Vertrauensleuten aller Ostvölker besetzt war, die weder polizeiliche Aufgaben noch sonstige Zuständigkeiten in der Arbeitsverwaltung hatte, jedoch der Fürsorge für die Angehörigen der Ostvölker diente. In ihrem Bericht vom 30. 9. 1942 (Dok. Nr. 084-PS, US-199), weist sie auf allerlei Mißstände hin: daß die Unterbringung, Behandlung, Verpflegung, Entlohnung der Ostarbeiter vielfach zu starker Kritik Anlaß gebe; es habe sich zwar vieles gebessert (Stichtag 1. 10. 1942), die Gesamtlage der Ostarbeiter sei aber immer noch unbefriedigend. Rosenberg solle daher mit Hitler Rücksprache nehmen mit dem Ziel, diesen selbst um ein energisches Eingreifen zu bitten, insbesondere Himmler veranlassen, seine allgemeinen Bestimmungen über die Behandlung der Ostarbeiter außer Kraft zu setzen, die Parteikanzlei und die Partei anweisen, in der Menschenführung der Millionen ehemaliger Sowjetbürger sich der Verantwortung vor der Geschichte bewußt zu sein und den Reichsminister auch an den Maßnahmen zu beteiligen, die die im Reich eingesetzten Ostarbeiter betreffen; schließlich wird vorgeschlagen, die Zentralstelle für Angehörige der Ostvölker beschleunigt auszubauen, damit sie als der verlängerte Arm des Reichsministeriums Ost im Reich und als Vertretung der hier lebenden fremdvölkischen Personen aus den besetzten Gebieten ihre Belange schlagkräftig wahrnehmen kann. In diesem Sinne, nämlich im Sinne sozialer Betreuung und menschlicher Fürsorge wurde im Ostministerium für die Ostarbeiter gewirkt.
Zur Widerlegung der Anklage, daß Rosenberg als ein Vertreter des Systems des Hasses und der Barbarei, der Verleugnung persönlicher Rechte und der Versklavung tätig gewesen sei, muß ich noch weiteres anführen. Rosenberg erhielt weitere schlechte Berichte, so am 7. Oktober 1942 einen Bericht über schlechte Behandlung ukrainischer Facharbeiter (054-PS, US-198); es wurden Mißstände bei der Werbung und Übelstände auf dem Transport hervorgehoben; die Arbeiter würden nicht selten nachts aus den Betten geholt und bis zum Abtransport in den Kellern eingesperrt; Bedrohungen und Schläge durch die Dorfmilizen seien an der Tagesordnung; mitgebrachte Lebensmittel würden nicht selten durch die Milizen den Facharbeitern abgenommen; während des Transportes nach Deutschland kämen Nachlässigkeiten und Übergriffe durch die Begleitkommandos vor und so weiter.
Rosenberg hatte keinerlei Machtbefugnisse, hier Abhilfe zu schaffen. Aber er versuchte es mit dem Brief vom 21. Dezember 1942 an Sauckel. Rosenberg hebt zunächst seine grundsätzliche Übereinstimmung mit Sauckel hervor, aber schon nach einigen taktischen und höflichen Floskeln beschwert er sich eindringlich und ernst über die im Arbeitseinsatz angewandten Methoden – ich zitiere:
»Ich muß aus der mir für die besetzten Ostgebiete obliegenden Verantwortung heraus mit allem Nachdruck darum bitten, daß zur Erfüllung der befohlenen Kontingente Handhabungen ausgeschlossen werden, deren Duldung und Folgen eines Tages mir und meinen Mitarbeitern zur Last gelegt werden können.«
Weiter erklärt Rosenberg, daß er den Reichskommissar für die Ukraine ermächtigt habe, soweit erforderlich von seinem Hoheitsrecht Gebrauch zu machen und für die Abstellung von Werbemethoden Sorge zu tragen, die den Interessen der Kriegführung und Kriegswirtschaft in den besetzten Gebieten zuwiderliefen. Es müsse ihn, Rosenberg, und die Reichskommissare befremden, daß er in zahlreichen Fällen mit Maßnahmen, die von den Zivilbehörden hätten abgesprochen werden müssen, erst durch die Polizei oder durch andere Stellen erfahren habe... Ohne die Abstimmung der beiderseitigen Wünsche sei es ihm, Rosenberg, leider nicht möglich, eine Mitverantwortung für die Folgen, die sich aus den geschilderten Tatbeständen ergeben, zu übernehmen. Zum Schluß drückt Rosenberg den Wunsch aus, es möge im beiderseitigen Interesse diesen Zuständen bald ein Ende bereitet werden.
Rosenberg hat es auch mit mündlicher Rücksprache mit Sauckel versucht und sich von diesem versprechen lassen, daß Sauckel alles tun werde, um eine anständige Behandlung dieser Fragen herbeizuführen. (Besprechung vom 14. April 1942.) Es lag außerhalb der Kräfte und der Macht Rosenbergs, mehr zu tun. Sein geheimer und von höchster Stelle gestützter Widersacher war der Reichskommissar Koch, der ja einer der Hauptschuldigen für die grausamen Methoden der Werbung und des Einsatzes der Ostarbeiter gewesen ist und gegen den sich Rosenberg nicht durchsetzen konnte.
Wenn der Herr Ankläger (Brudno am 9. Januar 1946) dem Angeklagten vorwirft, er habe zwar dagegen protestiert, aber nicht aus Menschlichkeitsgründen, sondern auf Grund politischer Zweckmäßigkeit, so kann ich hierzu nur sagen, daß man ohne triftigen Grund meines Erachtens auch einem Angeklagten Rosenberg nicht jede menschliche Qualität absprechen darf.
Als Beispiel besonderer Bestialität des Angeklagten wird von der Anklage wiederholt auf die sogenannte »Heuaktion« hingewiesen (031-PS). Es handelt sich hier um die Absicht der Heeresgruppe »Mitte«, 40000 bis 50000 Jugendliche aus dem Operationsgebiet zu evakuieren, weil sie eine erhebliche Belastung des Operationsgebietes darstellten und außerdem zum größten Teil ohne elterliche Betreuung waren. Es sollten hinter der Front unter einheimischer Betreuung Kinderdörfer errichtet werden; mit einem solchen Kinderdorf hatte man bereits gute Erfahrungen gemacht. Man hoffte, über die Organisation Todt als einer auf Grund ihrer technischen und sonstigen Möglichkeiten besonders geeigneten Organisation, die Jugendlichen in erster Linie dem deutschen Handwerk als Anlernlinge zuzuführen, um sie nach zwei Jahren Ausbildung als Facharbeiterkräfte zu verwenden. Rosenberg als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete war zunächst dagegen, da er befürchtete, daß die Aktion als Kinderverschleppung angesehen werden könnte und andererseits die Jugendlichen keine wesentliche Stärkung der militärischen Kraft darstellten. Der Chef des Führungsstabes Politik trat nochmals an Rosenberg heran, daß die Heeresgruppe »Mitte« entscheidenden Wert darauf legte, daß die Kinder nicht durch den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz in das Reich gelangen, sondern durch die Dienststelle des Reichsministers Ost, da sie nur dann glaubte, die Gewähr für eine korrekte Behandlung zu haben. Die Heeresgruppe wünsche, daß die Aktion unter loyalsten Bedingungen durchgeführt werde und wünsche besondere Regeln hinsichtlich der Betreuung, des Postverkehrs mit den Eltern und so weiter. Bei einer eventuellen Wiederbesetzung des Gebietes könnte dann das Ostministerium die Jugendlichen zurückführen, die dann beim Aufbau des Gebietes mit ihren Eltern zusammen sicherlich ein politisches Positivum darstellen würden.
Zur Begründung des nochmaligen Ersuchens an den Minister wurde dann schließlich noch angefügt, daß die Jugendlichen für den Gegner zwar keine wesentliche Stärkung der militärischen Kräfte darstellten, daß es aber auch auf die Minderung der biologischen Kraft des Gegners auf weite Sicht ankomme; in diesem Sinne hätte sich nicht nur der Reichsführer- SS, sondern auch der Führer geäußert. Rosenberg hat dann schließlich der Aktion zugestimmt. – Hierzu ist zu sagen: Es handelt sich um ein Gebiet, das Rosenberg gar nicht verwaltungsmäßig unterstand; er wollte nicht fremdes Volkstum zerstören, wenn ihm auch unter anderem als Begründung eine biologische Schwächung – als von ihm nicht anerkannter Grund – vorgetragen worden war, sondern er wollte die Kinder erziehen, ausbilden lassen, um sie mit ihren Eltern gemeinsam später wieder in ihre Heimat zu bringen. Das ist ungefähr das Gegenteil von dem, was dem Angeklagten als Verbrechen zur Last gelegt wird. Rosenberg hat später (Spätsommer 1944) die Junkers- Werke in Dessau, in denen etwa 4700 weißruthenische junge Handwerker beschäftigt waren, und ein weißruthenisches Kinderlager besucht. Die Handwerker waren alle einwandfrei gekleidet, waren fleißig, wurden bestens behandelt und vertrugen sich mit den deutschen Arbeitern sehr gut. Die Jugend erhielt von russischen Lehrerinnen, wie Rosenberg sich durch Augenschein überzeugte, Sprach- und Mathematikunterricht. Die Kinder wurden in ihrem Waldlager von weißruthenischen Müttern und Lehrerinnen betreut. Im übrigen wurde die Zahl von 40000 nie erreicht, sondern kaum die Hälfte davon.
Der Versuch der Anklage, in diesem Kapitel in besonderer Weise das Menschliche zuungunsten des Angeklagten anklingen zu lassen, kann meines Erachtens keinen Erfolg haben. Denn gerade dieses Beispiel verpflichtet mich, auf folgendes besonders hinzuweisen: Wir befanden uns mitten im Kriege, der von beiden Seiten mit furchtbarer Intensität geführt wurde. Ist der Krieg nicht selbst eine »ungeheuerliche Bestialität«? Die »Minderung der biologischen Kraft der Völker« ist wahrhaft ein treffender Ausdruck für Ziel und Zweck des ganzen Krieges, denn hierauf geht das Sinnen und Trachten beider Kriegsparteien. Es wäre ein unmöglicher Gedanke, bei der Beurteilung der Taten der Angeklagten dies vergessen zu wollen und die Angeklagten nicht nur für die Entfesselung des Krieges, sondern auch noch dafür zu strafen, daß der Krieg seinem Wesen nach ein großes Verbrechen der Menschheit gegen sich selbst und gegen die Gesetze des Lebens ist.
Die Anklagebehörde bezeichnet Rosenberg auch insofern als schuldig, als er die unmenschlichen und barbarischen Verordnungen herausgegeben habe, welche die Durchführung der Deportierung von sowjetischen Menschen in die deutsche Sklaverei zum Zweck hatte. Ich bin deshalb zur Erörterung der Frage veranlaßt, ob die Arbeitspflichtverordnung vom 19. Dezember 1941 und die sonstigen Erlasse Rosenbergs über die Arbeitspflicht der Bewohner der Ostgebiete völkerrechtswidrig waren.
Die von Rosenberg verwalteten Ostgebiete waren kriegerisch besetzt. Durch diese occupatio bellica erlangte Deutschland die tatsächliche Herrschaft und hatte Hoheitsrecht wie auf seinem eigenen Gebiet. Während nach früherer völkerrechtlicher Auffassung der Okkupant unbekümmert um Recht und Gesetz nach Willkür schalten und walten konnte, beseitigte die neue Entwicklung des Völkerrechts das Machtprinzip und verhalf dem Humanitäts- und Kulturprinzip zum Siege; die ehedem unbeschränkte Gewalt verwandelte sich also in beschränktes Recht des Okkupanten, insbesondere hat die Haager Landkriegsordnung Rechtspflichten des Okkupanten statuiert.
Andererseits ist es aber auch nicht so, daß die Landkriegsordnung nur einzelne Rechte des Okkupanten aufstellt, sondern sie setzt lediglich Schranken des an sich unbeschränkten Rechts des Okkupanten zur Ausübung aller aus der Gebietshoheit im besetzten Gebiet fließenden Befugnisse fest.
VORSITZENDER: Wäre das ein passender Zeitpunkt, abzubrechen?