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[Pause von 10 Minuten.]

DR. DIX: Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß ich nicht pünktlich da war, aber ich wurde nicht hereingelassen.

Ich bin nun, meine Herren Richter, bei der Würdigung des Beginns der Opposition durch die bewußten Putsche und darf hier fortfahren.

Es ist hier völlig unerheblich und liegt durchaus neben der Sache, zu untersuchen, ob diese Putschversuche, die sich ja während des Krieges mit kürzeren oder längeren Intervallen fortsetzten, geeignet waren, für Deutschland einen besseren Friedensschluß zu erreichen. Für die strafrechtliche Wertung der Handlungsweise Schachts ist dies völlig bedeutungslos. Zweifelsfrei ist, daß ein vor Kriegsausbruch erfolgreich gelungener Putsch den Kriegsausbruch menschlicher Voraussicht nach verhindert hätte und daß ein nach Kriegsausbruch erfolgreicher Putsch zum mindesten die Kriegsdauer verkürzt hätte. Deshalb liefern derartige skeptische Überlegungen über den politischen Wert dieser Putschversuche keinen Beweis gegen die Ernstlichkeit der Putschpläne und -absichten. Auf diese aber kommt es bei der strafrechtlichen Würdigung allein an. Denn sie erweisen zunächst, daß derjenige, der sie ab 1938 und, wenn man an den Versuch mit Kluge denkt, schon ab 1937 verfolgte, unmöglich vorher Kriegsabsichten gehabt haben kann. Man versucht nicht, ein Regime, weil es Kriegsgefahr bedeutet, zu stürzen, wenn man selber vorher auf Krieg hingearbeitet hat. Man tut dies nur, wenn man mit allem, was man tat, auch wenn man eine Rüstung finanzierte, dem Frieden dienen wollte. Deshalb haben diese nachgewiesenen fortgesetzten Putschversuche bei Schacht nicht etwa die rechtliche Bedeutung einer sogenannten tätigen Reue über ein vorher getätigtes strafbares Verhalten, sondern sie sind ex post ein Beweis dafür, daß ihm auch vor 1938 ein bewußtes Hinarbeiten auf den Krieg nicht vorgeworfen werden kann, weil letzteres mit dieser Verschwörertätigkeit Schachts gegen Hitler begriffslogisch und psychologisch unvereinbar wäre.

Diese Putsche beweisen also die Glaubwürdigkeit Schachts hinsichtlich seiner Darstellung der Gründe und Absichten, welche ihn veranlaßten, aktiv in die Hitler-Regierung einzutreten, und in dem Ausmaß der von ihm gewährten Finanzhilfe, also in Höhe von 12 Milliarden, eine Rüstung zu finanzieren. Sie beweisen ex post den reinen Defensivcharakter dieser Rüstungsfinanzierung, sie beweisen die Glaubwürdigkeit von Schachts Darstellung, neben dieser Defensivwirkung taktisch eine allgemeine Rüstungsbeschränkung herbeizuführen. Glaubt man aber dieser Darstellung Schachts – und ich meine, man muß ihr glauben –, so kann von einer Mithilfe Schachts, den Angriffskrieg herbeizuführen, zum mindesten nach der subjektiven Seite hin keine Rede sein.

Diese Glaubwürdigkeit wird auch durch einen anderen Umstand erwiesen. Schacht hat der Bekundung von Gisevius und meiner sich auf der gleichen Linie bewegenden Fragestellung, er habe zu Beginn Hitler bewundert und ohne Einschränkung für einen genialen Staatsmann gehalten, widersprochen. Er hat dies bei seiner Vernehmung als einen irrtümlichen Ausgangspunkt bezeichnet, er habe manche Schwäche Hitlers, insbesondere seine Halbbildung, von vornherein erkannt und nur gehofft, in der Lage zu sein, die sich aus ihr ergebenden Nachteile und Gefahren zu meistern. Schacht hat durch diesen Widerspruch rein objektiv seine Verteidigung erschwert. Er ist klug genug, dies erkannt zu haben. Was er aber beweistechnisch zu seiner Entlastung damit bewußt verlor und preisgab, gewinnt er bei objektiver, auf psychologischer Erfahrung beruhender Beweiswürdigung hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit. Denn derjenige verdient erhöhte Glaubwürdigkeit, welcher durch Widerspruch der Wahrheit dient, auch da, wo die ihm suggerierte Unwahrheit oder halbe Wahrheit beweistechnisch und taktisch ihm nützlicher ist.

Gegenüber der führenden Teilnahme Schachts an der Tätigkeit der von Gisevius bekundeten verschiedenen Verschwörungen dürfte schon auf Grund der glaubhaften Aussage Gisevius' ein Zweifel nicht bestehen. Wenn aber Justice Jackson im Kreuzverhör Schacht Photographien vorgehalten hat und Filme hat zeigen lassen, die eine enge Verbundenheit mit Hitler und seinen Paladinen äußerlich dokumentieren, so kann dies nur geschehen sein, um die Ernstlichkeit seiner aktiven Gegnerschaft zu Hitler in Zweifel zu ziehen.

Ich muß deshalb auf diese Photographien und Filmargumente doch kurz eingehen. Justice Jackson hat diesen Vorhalt mit dem weiteren verbunden, daß er Reden zitiert hat, aus denen sich auch noch während der Putschperiode eine große Ergebenheit Schachts gegenüber Adolf Hitler äußerlich ergibt. Dieser Vorhalt liegt auf der gleichen Linie. Ich glaube, daß diese Argumentation weder vor der Lebenserfahrung noch vor der Betrachtung der Geschichte bestehen kann. Die Geschichte lehrt uns, daß gerade Verschwörer, namentlich wenn sie zu dem engeren Würdenträgerkreis des bedrohten Staatsoberhauptes gehören, zu ihrer Tarnung meist eine besondere Devotion zur Schau tragen. Es ist auch noch niemals beobachtet worden, daß solche Leute ihre Absichten in einer widerspruchsvollen Loyalität dem bedrohten Opfer vorher kund tun. Man könnte hierzu Beispiele aus der Geschichte häufen.

Es existiert ein recht wirkungsvolles deutsches Schauspiel von einem gewissen Neumann, welches sich mit der Ermordung des Zaren Paul durch seinen ersten Minister Graf Pahlen beschäftigt. Der Zar traut bis zuletzt der dort ostentativ zur Schau getragenen Devotion des Grafen Pahlen, während dieser bereits den Mordstahl wetzt. Und in den hinterlassenen historischen Dokumenten findet sich eine Anweisung des Grafen Pahlen an den Russischen Botschafter in Berlin ganz kurz vor dem Attentat, in welcher Graf Pahlen sich nicht genug tun kann, von »Notre Auguste Empereur« und so fort zu sprechen. Bezeichnenderweise trägt dieses Schauspiel den Titel »Der Patriot«.

Es gibt eben einen höheren Patriotismus als bloße formale Staatsdienertreue. Es kommt deshalb der psychologischen Wahrheit viel näher, wenn man eine outrierte, zur Schau getragene Devotion und Loyalitätsversicherung während dieser Periode mehr zugunsten der objektiven Glaubwürdigkeit der Schachtschen Darstellung verwenden würde als umgekehrt. Er mußte sich als Verschwörer besonders stark tarnen; bis zu einem gewissen Grade mußte dies fast jeder tun, der unter diesem Regime in Deutschland lebte.

Was nun die Photographien anlangt, so ist es wohl eine zwangsläufige Folge jeder sozialen und damit auch gesellschaftlich representativen Zugehörigkeit zu einem Gremium, daß man wohl oder übel mit Mitgliedern desselben ein Opfer der Kamera wird. Bin ich einmal Mitglied einer Regierung, so kann ich mich nicht entziehen, gelegentlich der Zusammenkünfte mit diesen Leuten mit ihnen photographiert zu werden. Es ergeben sich dann solche Bilder, wie Schacht zwischen Ley und Streicher und der Film über den Empfang Hitlers am Bahnhof. Ex post betrachtet, machen solche Bilder dem Betrachter keine Freude; sicherlich auch Schacht nicht. Sie beweisen aber nichts. Ich halte bei natürlicher Auswertung einer normalen durchschnittlichen Lebenserfahrung diese Bilder ohne jeden Beweiswert, weder pro noch contra.

Auch das Ausland hat in seinen prominenten Vertretern mit der Regierung Adolf Hitlers gesellschaftlichen Verkehr gehabt, nicht nur durch sein diplomatisches Korps. Ich bitte, versichert zu sein, daß die Verteidigung in der Lage wäre, viel groteskere Bilder zu produzieren, welche sich durchaus nicht so natürlich ergeben wie das gemeinsame Photographiertwerden Schachts mit Männern, die nun einmal seine Würdenträgerkollegen im Dritten Reiche waren. Solche Bilder zu produzieren, wäre vielleicht von der Verteidigung nicht sehr taktvoll. Wenn es zur ernsten Wahrheitserforschung notwendig ist, müßte aber ein Verteidiger auch das Odium der Taktlosigkeit auf sich nehmen. Ich glaube, es in diesem Falle nicht zu müssen, weil mir die Belanglosigkeit und Unerheblichkeit dieser Beweisführung durch Bilder bei repräsentativen Veranstaltungen des Dritten Reiches auf der Hand zu liegen scheinen.

Der einzige von der Anklage verwertete Belastungspunkt, der für mich zur Erörterung übrig bleibt, scheint mir nunmehr zu sein, daß Schacht bei seinem Ausscheiden als Wirtschaftsminister und auch noch nach seinem Ausscheiden als Reichsbankpräsident im Januar 1939 bis 1943 Minister ohne Portefeuille blieb. Schacht hat bekundet, daß dies zur Bedingung seiner Entlassung aus dem Wirtschaftsministerium von Hitler gemacht wurde. Zur Entlassung war Hitlers Unterschrift als Staatsoberhaupt notwendig. Hätte sich Schacht geweigert, als Minister ohne Portefeuille zu bleiben, so wäre er sicher über kurz oder lang als politisch verdächtig verhaftet worden und damit jeder Aktionsmöglichkeit gegen Hitler beraubt gewesen. Der Zeuge Gisevius hat die damaligen Überlegungen zwischen ihm und Schacht hinsichtlich eines Verbleibens Schachts als Minister ohne Portefeuille bekundet. Bei diesen spielte durchaus mit Recht eine Rolle, daß Schacht der Verschwörergruppe zum mindesten als Spähtrupp, als Patrouille, nützlicher sein konnte, wenn er in dieser Form, zum mindesten äußerlich, in der Reichsregierung verblieb. Auch als Minister ohne Portefeuille blieb Schacht in starker Gefahr, wie seine und Gisevius' Bekundungen zeigen und wie sich schon aus der Aussage Ohlendorfs ergibt, daß Schacht schon 1937 auf der schwarzen Liste der Staatspolizei stand.

Wie Hitler Schacht fürchtete, beweisen ja seine späteren Äußerungen Speer gegenüber, die hier erörtert worden sind, insbesondere seine Äußerungen über Schacht nach dem Attentat vom 20. Juli. Ich erinnere auch nochmals an die Denkschrift Hitlers von 1936, welche er Speer 1944 gab und aus welcher sich ergibt, daß er in Schacht einen Saboteur seiner Aufrüstungspläne sah. Es ist durch Lammers bekundet und erwiesen, daß Schacht später versucht hat, auch diese nominelle Stellung loszuwerden. Es ist des weiteren durch Lammers und Schacht erwiesen, daß diese Stellung als Minister ohne Portefeuille ohne jede substantielle Bedeutung war. Daher meine Bezeichnung Charaktermajor, das heißt, ein Major ohne Bataillon und Kommandobefugnisse, ein Scheinmajor. Schacht konnte die Stellung ohne Krach nicht loswerden, genau so wenig, wie die Stellung als Reichsbankpräsident. Schacht mußte also so manövrieren, daß er hinausgeworfen wurde. Dies gelang ihm, wie ich vortrug, als Reichsbankpräsident durch das bekannte Memorandum des Reichsbankdirektoriums und die in ihm enthaltene Kreditabsage der Reichsbank vom November 1938. Es gelang ihm für seine Stellung als Reichsminister ohne Portefeuille durch seinen defaitistischen Brief vom November 1942. Inzwischen benutzte er die Zeit für den Staatsstreichversuch im Herbst 1938 und für die verschiedenen Putschversuche bis zum 20. Juli 1944, welch letzterer ihn dann in das Konzentrationslager brachte.

Einen kriminellen Vorwurf kann man ihm als Minister ohne Portefeuille schließlich überhaupt nicht machen. Denn seine nachgewiesene Verschwörertätigkeit gegen Hitler in dieser ganzen Zeit schließt ja die Annahme schlechterdings und logisch zwingend aus, daß er während dieser Zeit die Kriegspläne und die Kriegführung Hitlers gefördert hat. Raum bleibt allenfalls nur, aber auch dies nur im luftleeren Raum der Abstraktion, für einen politischen Vorwurf gegen Schacht von 1933 bis 1937. Aber auch dieser wird wieder völlig kompensiert durch das außerordentlich mutige Verhalten Schachts nach dieser Zeit. Für dessen gerechte Würdigung darf ich an die interessante Bekundung von Gisevius erinnern, daß dieser, der der ursprünglichen Haltung Schachts auch eine gewisse Skepsis entgegenbrachte, nicht im kriminellen, aber im politischen Sinne, dann gänzlich mit Schacht ausgesöhnt wurde durch den außerordentlichen Mut, den Schacht als Opponent und Verschwörer gegen Hitler ab 1938 gezeigt hat. Ich meine deshalb, daß das Verbleiben Schachts als Minister ohne Portefeuille ihn weder direkt noch indirekt belastet, strafrechtlich von vornherein nicht, aber auch moralisch nicht, wenn man sein Gesamtverhalten, seine Beweggründe und die begleitenden Umstände und Verhältnisse berücksichtigt.

Wenn nun letztendlich die Anklage – fußend auf dem Wortlaut des vorerwähnten Memorandums des Reichsbankdirektoriums – dahin argumentiert, daß eine Kriegsgegnerschaft sich aus diesem Memorandum nicht ergäbe, sondern nur währungstechnische Bedenken, so brauche ich diesbezüglich nur auf meine früheren Ausführungen und die Aussage von Vocke zu verweisen. Und es bedarf der eigenen Darstellung Schachts gar nicht mehr zur Widerlegung dieser Argumentation. Vocke hat hier ganz eindeutig als engster Mitarbeiter bekundet, daß Schacht von dem Moment an die Rüstung beschränken und sabotieren wollte, als er in ihrem Ausmaß eine Kriegsgefahr erkannte. Dieser Aussage Vockes schließt sich die eidesstattliche Versicherung Hülses und die eidesstattliche Versicherung sämtlicher Mitarbeiter Schachts auch im Reichswirtschaftsministerium an. Ich brauche sie im einzelnen nicht zu zitieren. Sie sind dem Tribunal bekannt. Das Tribunal braucht zu ihnen auch keinen Verteidigerkommentar; sie sprechen für sich selbst. Und wenn nun schließlich mit dem Wortlaut des Memorandums von der Anklage argumentiert wird, der sich ja tatsächlich nur mit finanztechnischen Problemen befaßt, so kann ich auch hier die Bemerkung nicht unterlassen, daß eine solche Argumentation sich wiederum insofern im luftleeren Raum bewegt, als man die Erfahrungen der Geschichte und die allgemeine Lebenserfahrung nicht berücksichtigt. Selbstverständlich – ich sagte es schon – konnte das Reichsbankdirektorium nur mit Argumenten operieren, welche in sein Ressort fielen, insbesondere einem Hitler gegenüber. Man schlägt den Sack, und den Esel meint man. Hätte das Reichsbankdirektorium und mit ihm sein Präsident Schacht in diesem Memorandum dessen wahren Zweck offenbart, nämlich der Kriegsgefahr zu steuern und den Aggressionswillen Hitlers zu bekämpfen, so hätte es sich selbst die Wirkung sachlichen Ressorteinflusses genommen. Hitler hat den Zweck dieses Memorandums sehr wohl verstanden, als er nach seiner Lektüre rief: »Das ist Meuterei!« Damit hatte Hitler erkannt was allein von Schacht als Verschwörer gesägt werden kann: Er war nie ein Meuterer und Verschwörer gegen den Weltfrieden, sondern – soweit er ein Verschwörer und Meuterer war – war er dies nur gegen Adolf Hitler und sein Regime.

Auch hier muß ich jetzt das Tribunal bitten, sein Augenmerk auf den Annex II zu richten, den ich hier einfügen muß, weil er auch in den behandelten Gegenstand zeitlich nach der Einreichung meines Plädoyers zur Übersetzung kam; also Annex II. Ich sagte, daß Schacht – soweit er ein Verschwörer war – ein solcher gegen Adolf Hitler war.

Als solcher war er Gegenstand ironischer Verkleinerung durch den Generaloberst Jodl und Herrn Kollegen Nelte mit dem Epitheton »Gehrock- und Salonrevolutionär«. Nun, die Geschichte lehrt, daß die Qualität des Schneiders beim Revolutionär keine Rolle spielt. Und was die Salons anlangt, so haben die Hütten vor den Palästen kein revolutionäres Primat. Ich erinnere nur an die politischen Salons vor der großen französischen Revolution oder zum Beispiel – ein Beispiel unter vielen – an das elegante Offizierskasino des feudalen Regiments Preobraschensk unter manchen Zaren. Auch wenn die Herren meinten, Schacht und seine Konsorten hätten selbst schießen sollen, so kann ich nur sagen: Ja, wenn's so einfach wäre. Schacht hätte liebend gern geschossen; er hat es hier spontan ausgerufen. Ohne Macht, die bei den sicher kommenden Wirren nachstoßen und das Attentat zu einem revolutionären Erfolg führen konnte, ging es aber nicht. Deshalb waren Generale mit Truppen notwendig – ich will Generaloberst Jodl nicht Gleiches mit Gleichem vergelten und sage deshalb nicht »notwendiges Übel«.

Der weitere Vorwurf mangelnder Fundierung der Putsche in der Arbeiterschaft wird durch die soziale Zusammensetzung der Putschisten des 20. Juli widerlegt. Für die Entscheidung dieses Tribunals ist dies alles, wie ich schon sagte, unerheblich. Mein Herr Klient hatte aber ein moralisches Recht, daß sein Verteidiger diese im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit erfolgte ironisierende Polemik nicht völlig ignorierte.

Zusammenfassend ist also zu sagen:

Nach den Juliwahlen 1932 stand fest, daß Hitler die Macht ergreifen würde und mußte. Vorher hat Schacht namentlich das Ausland vor dieser Entwicklung gewannt, also nicht zu ihr beigetragen. Nach der Machtergreifung gab es für ihn, wie für jeden Deutschen, nur zwei Wege: Entweder sich zu distanzieren oder aktiv in die Bewegung hineinzugehen. Der Entschluß an diesem Scheideweg war ein rein politischer ohne jeden kriminellen Aspekt. Genau so, wie wir die Gründe würdigen, welche das Ausland veranlaßte, mit Hitler viel intensiver und deutschfreundlicher zusammenzuarbeiten als wie mit den vorangegangenen demokratischen Regierungen Deutschlands, genau so müssen wir die bona fides aller derjenigen Deutschen anerkennen, welche glaubten, innerhalb der Bewegung, also entweder innerhalb der Partei oder innerhalb des Beamtenapparates, dem Lande und der Menschheit wegen größerer Einwirkungsmöglichkeit besser dienen zu können als als grollende Beiseitestehende. Hitler als Minister und Reichsbankpräsident zu dienen, war ein politischer Entschluß, über dessen politische Richtigkeit man, namentlich ex post, streiten kann, dem aber jeder kriminelle Charakter fehlte. Dem Beweggrund seines Entschlusses, nämlich jeden Radikalismus von wirkungsvoller Stelle aus zu bekämpfen, ist Schacht immer treu geblieben. Es zeigte sich in der Welt, der seine oppositionelle Haltung wohl bekannt war, nirgends ein Warnungs- und Unterstützungssignal für ihn. Er sah nur, daß die Welt Adolf Hitler viel länger Vertrauen entgegenbrachte als er selbst, und ihm Ehrungen und außenpolitische Erfolge gestattete, die Schacht die Arbeit erschwerten, als diese schon lange darauf gerichtet war, Adolf Hitler und sein Regime zu beseitigen. Diesen Kampf gegen Adolf Hitler und sein Regime hat er mit einem Mute und einer Konsequenz geführt, die es als reines Wunder erscheinen lassen müssen, daß ihn das Schicksal des Konzentrationslagers und die Gefahr, seinen Kopf entweder durch den Volksgerichtshof oder einen Bravoakt der SS zu verlieren, erst nach dem 20. Juli 1944 erreichte. Er ist klug und selbstkritisch genug, um nicht zu wissen, daß, rein politisch betrachtet, sein Charakterbild in der Geschichte, zum mindesten in der nächsten Zukunft, von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwanken wird. Er stellt sich in Demut dem Urteil der Geschichte auch dann, wenn der eine oder andere Historiker seine politische Linie als unrichtig bezeichnen wird. Mit dem Stolz eines guten Gewissens aber stellt er sich dem Urteil dieses hohen Gerichts. Mit reinen Händen tritt er vor seine Richter. Er stellt sich diesem Tribunal auch mit Vertrauen, wie er schon in einem Brief bekundet hat, den er vor Beginn der Verhandlungen an dieses Gericht sandte und in welchem er zum Ausdruck bringt, daß er es dankbar begrüße, vor diesem Gericht und vor aller Weltöffentlichkeit sein Tun und Handeln und dessen Beweggründe offenzulegen. Er stellt sich diesem Gericht mit Vertrauen, weil er weiß, daß der Parteien Gunst und Haß bei diesem Gericht keine Rolle spielen wird. In aller Selbsterkenntnis der Relativität alles politischen Handelns in so schwierigen Zeiten ist er doch, was die gegen ihn erhobenen kriminellen Vorwürfe anlangt, selbstbewußt und voller Zuversicht, und dies mit Recht. Denn wer auch immer als schuldig erkannt werden würde, kriminell verantwortlich für diesen Krieg und die in ihm verübten Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten zu sein, Schacht kann nach dem hier mit minutiöser Genauigkeit festgestellten Tatbestand jedem Schuldigen die Worte entgegenrufen, welche Wilhelm Tell dem Kaisermörder Parricida entgegenwirft: »Zum Himmel hebe ich meine reinen Hände, verfluche Dich und Deine Tat«.

Ich beantrage deshalb, dahin zu erkennen, daß Schacht der gegen ihn erhobenen Anklage nicht schuldig und freizusprechen ist.

VORSITZENDER: Ich rufe Dr. Kranzbühler für den Angeklagten Dönitz auf.

FLOTTENRICHTER OTTO KRANZBÜHLER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN DÖNITZ: Herr Präsident, meine Herren Richter!

»Krieg ist ein grausam Ding, und er schleppt in seinem Gefolge Unrecht und Übeltaten die Menge.«1

Mit diesen Worten Plutarchs beginnt Hugo Grotius seine Untersuchung über die Verantwortung der Kriegsverbrechen, und sie sind heute so wahr wie vor 2000 Jahren. Zu allen Zeiten sind von den Kriegführenden Taten begangen worden, die Kriegsverbrechen waren oder von der Gegenseite als solche angesehen wurden. Aus dieser Tatsache sind aber immer nur gegenüber den Besiegten Konsequenzen gezogen worden, niemals gegenüber den Siegern. Das Recht, das hier angewendet wurde, war also notwendig immer das Recht des Stärkeren.

Während im Landkriege seit Jahrhunderten einigermaßen feste Regeln die Kriegshandlungen beherrschten, sind in den Seekriegen von jeher die völkerrechtlichen Auffassungen der Beteiligten scharf aufeinandergeprallt. Niemand weiß besser als die britischen Staatsmänner, wie sehr diese Auffassungen diktiert werden von den nationalen und wirtschaftlichen Interessen.

Ich berufe mich dafür auf bekannte Zeugen wie Lord Fisher und Lord Edward Grey2. Wenn daher jemals in der Geschichte eine Seemacht auf den Gedanken verfallen wäre, einem besiegten feindlichen Admiral den Prozeß zu machen, und zwar auf Grund ihrer eigenen Anschauungen von Seekriegsrecht, so wäre mit der Anklage auch bereits das Urteil gesprochen gewesen.

In diesem Verfahren ist nun Anklage erhoben worden gegen zwei Admirale wegen eines Seekrieges, der als verbrecherisch bezeichnet wird. Das Tribunal steht also vor der Entscheidung über Rechtsauffassungen, die notwendig so entgegengesetzt sind wie die Interessen einer Seemacht gegenüber denen einer Kontinentalmacht. Mit dieser Entscheidung ist nicht allein das Schicksal dieser beiden Admirale verknüpft. Hier geht es auch um den ehrlichen Namen von Hunderttausenden deutscher Seeleute, die einer guten Sache zu dienen glaubten, und die es nicht verdient haben, vor der Geschichte als Piraten und Mörder gebrandmarkt zu werden. Diesen Männern, den lebenden wie den toten, fühle ich mich verpflichtet, wenn ich es unternehme, die Anklage gegen den deutschen Seekrieg zurückzuweisen.

Welches sind, diese Anklagen? Sie gliedern sich in zwei große Gruppen: Unberechtigte Versenkung von Schiffen und vorsätzliche Tötung von Schiffbrüchigen.

Ich befasse mich zunächst mit dem Vorwurf der unberechtigten Versenkung von Schiffen.

Das Kernstück der Anklage hierzu bilden zwei Berichte von Herrn Roger Allen aus dem Britischen Auswärtigen Amt vom Herbst 1940 und Frühjahr 1941. Ich weiß nicht, an wen und zu welchem Zweck diese Berichte gemacht worden sind. Nach Form und Inhalt scheinen sie mir der Propaganda zu dienen, und ich halte schon aus diesem Grunde ihren Beweiswert für gering. Sogar die Anklage hat nur einen Teil der dort erhobenen Vorwürfe vorgebracht. Die Berichte führen nämlich nur ein Fünftel der angeblich ungesetzlichen Angriffe, die sie zusammenrechnen, auf U- Boote, dagegen vier Fünftel auf Minen, Flugzeuge oder Überwasserstreitkräfte zurück. Diese vier Fünftel läßt die Anklage fallen, und man mag sich diese Zurückhaltung daraus erklären, daß die Verwendung dieser Kampfmittel auf britischer Seite sich in nichts unterscheidet von der auf deutscher Seite.

Beim Einsatz der U-Boote dagegen scheint ein Unterschied zu bestehen zwischen den Grundsätzen der deutschen Seekriegführung und denen unserer Gegner. Jedenfalls hat das während des Krieges die Öffentlichkeit in den feindlichen und in vielen neutralen Ländern geglaubt und glaubt es wohl zum Teil auch heute noch. Die Propaganda beherrschte das Feld. Dabei wußte die große Masse aller Kritiker weder genau, welche Grundsätze überhaupt für den deutschen U-Bootkrieg galten, noch auf welchen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen sie beruhten. Es wird meine Aufgabe sein zu versuchen, das klarzustellen.

Die Berichte von Herrn Roger Allen gipfeln in der Behauptung, die deutschen U-Boote hätten vom Sommer 1940 an alles torpediert, was ihnen vor die Rohre kam. Ohne Zweifel haben sich die Methoden des U- Bootkrieges unter dem Druck der gegen Deutschland gerichteten Maßnahmen allmählich verschärft. Dieser Krieg ist jedoch niemals in eine wilde Schießerei ausgeartet, die nur von dem Gesetz der Zweckmäßigkeit beherrscht gewesen wäre. Vieles, was für das U-Boot zweckmäßig gewesen wäre, ist bis zum letzten Tag des Krieges unterblieben, weil es rechtlich als unzulässig anzusehen war, und alle Maßnahmen, die heute von der Anklage der deutschen Seekriegführung vorgeworfen werden, waren das Ergebnis einer Entwicklung, an der, wie bei jeder Entwicklung im Kriege, beide Seiten durch Zug und Gegenzug beteiligt waren.

Die rechtliche Grundlage für den deutschen U- Bootkrieg zu Beginn dieses Krieges bildete das Londoner Protokoll von 1936. Diese Bestimmungen wurden wörtlich übernommen in dem Artikel 74 der deutschen Prisenordnung, die sogar von Herrn Roger Allen als vernünftiges und nicht unhumanes Instrument bezeichnet wird. Diese Prisenordnung ging im Entwurf 1938 an die beiden damals vorhandenen U- Bootflottillen und die U-Bootschule und diente als Grundlage für die Ausbildung der Kommandanten. Das Anhalten und Durchsuchen von Handelsschiffen wurde als taktische Aufgabe geübt. Um den Kommandanten im Handelskrieg eine schnelle und richtige Beurteilung der Rechtslage gegenüber Schiff und Ladung des Feindes und des Neutralen zu erleichtern, wurde die Prisenscheibe konstruiert, die durch einfache Handgriffe Hinweise auf die anzuwendenden Artikel der Prisenordnung gibt. Soweit daher für den Handelskrieg durch U-Boote überhaupt Vorbereitungen getroffen waren, beruhten sie ausschließlich auf der deutschen Prisenordnung und damit auf dem Londoner Protokoll.

An dieser rechtlichen Grundlage hielt das deutsche Oberkommando bei Kriegsausbruch auch tatsächlich fest. Die Kampfanweisung für U-Boote vom 3. September 1939 befiehlt klipp und klar: U-Bootkrieg nach Prisenordnung. Versenkungen waren demnach nur zulässig nach Anhaltung und Durchsuchung, es sei denn, daß das Schiff zu entkommen versuchte oder Widerstand leistete. Dem Tribunal sind einige Beispiele vorgelegt worden aus der Fülle der möglichen Beispiele dafür, in welchem ritterlichen Geiste sich die deutschen U-Bootkommandanten an die erlassenen Weisungen hielten. Insbesondere die Fürsorge für die Besatzung der Schiffe, die nach Anhaltung und Durchsuchung rechtmäßig versenkt wurden, vollzog sich zum Teil in einem Umfang, der militärisch kaum zu verantworten war. Rettungsboote wurden über lange Strecken geschleppt und damit die wenigen vorhandenen U-Boote ihrem Kampfauftrag entzogen. Feindliche Dampfer, deren Versenkung rechtmäßig gewesen wäre, ließ man laufen, um mit ihnen die Besatzung früher versenkter Schiffe an Land zu geben. Es ist daher nur richtig, wenn Herr Roger Allen feststellt, daß sich die deutschen U-Boote in den ersten Wochen des Krieges streng an die Londoner Regeln hielten.

Weshalb ist es nun nicht bei diesem Verfahren geblieben? Weil das Verhalten der Gegenseite ein solches Verfahren militärisch unmöglich machte und zugleich die rechtlichen Voraussetzungen für seine Abänderung schuf.

Ich betrachte zunächst die militärische Seite. Gleich vom ersten Tage des Krieges an liefen beim Befehlshaber der U-Boote und bei der Seekriegsleitung die Meldungen der U-Boote darüber ein, daß kaum ein feindliches Schiff sich freiwillig der Anhaltung und Durchsuchung unterwarf. Die Handelsschiffe begnügten sich nicht mit dem Versuch zu entkommen, sei es durch Flucht, sei es dadurch, daß sie auf das U-Boot zudrehten und es so zum Tauchen zwangen.

Vielmehr wurde jedes gesichtete U-Boot sofort durch Funkspruch gemeldet und dann in kürzester Zeit von feindlichen Flugzeugen oder Seestreitkräften angegriffen. Den Ausschlag gab jedoch die vollständige Bewaffnung der Handelsschiffe. Bereits am 6. September 1939 wurde ein deutsches U-Boot von dem britischen Dampfer »Manaar« mit Artillerie beschossen, und das war der Startschuß für die große Auseinandersetzung, die stattfand zwischen dem U-Boot auf der einen und dem bewaffneten, mit Kanonen und Wasserbomben ausgerüsteten Handelsschiff auf der anderen Seite als gleichwertigen militärischen Gegnern.

Für die Wirkung all dieser Maßnahmen des Gegners habe ich dem Tribunal einige Beispiele vorgelegt, die ich nicht wiederholen möchte. Sie zeigen eindeutig, daß ein weiteres Vorgehen gegen feindliche Handelsschiffe nach Prisenordnung militärisch nicht mehr möglich und für das U-Boot selbstmörderisch war. Trotzdem beließ es die deutsche Führung noch wochenlang bei dem Verfahren nach Prisenordnung. Erst nachdem feststand, daß es sich bei den Aktionen der feindlichen Handelsschiffe, insbesondere bei der Verwendung der Waffen, nicht um Einzelfälle handelte, sondern um allgemein befohlene Maßnahmen, erging am 4. Oktober 1939 der Befehl zum warnungslosen Angriff auf alle bewaffneten feindlichen Handelsschiffe.

Die Anklage wird vielleicht den Standpunkt vertreten, daß statt dessen der U-Bootkrieg gegen bewaffnete Handelsschiffe hätte eingestellt werden müssen. Im letzten Kriege sind zu Lande wie aus der Luft die furchtbarsten Kriegsmittel von beiden Seiten rücksichtslos eingesetzt worden. Angesichts dieser Erfahrung läßt sich heute kaum die These vertreten, daß im Seekrieg einem Kriegführenden der Verzicht auf ein wirksames Kriegsmittel zuzumuten ist, nachdem der Gegner durch seine Maßnahmen die Anwendung in den bisherigen Formen unmöglich gemacht hat. Ein solcher Verzicht könnte jedenfalls nur dann überhaupt erwogen werden, wenn die neuartige Anwendung des Kriegsmittels einwandfrei ungesetzlich wäre. Das ist aber bei dem Einsatz der deutschen U-Boote gegenüber der feindlichen Handelsschiffahrt deswegen nicht der Fall, weil die feindlichen Maßnahmen außer der militärischen auch die rechtliche Lage verändert haben.

Die deutsche Rechtsauffassung ging jedenfalls dahin, daß ein zum Kampf ausgerüstetes und eingesetztes Schiff nicht unter den Schutz vor warnungsloser Vernichtung fällt, den das Londoner Protokoll dem Handelsschiff zuerkennt. Ich betone ausdrücklich, daß damit dem Handelsschiff nicht das Recht bestritten wird, sich zu bewaffnen und zu kämpfen. Es wird lediglich aus dieser Tatsache die Folgerung gezogen, die sich in der bekannten Formel widerspiegelt: »Wer Waffenhilfe in Anspruch nimmt, muß Waffeneinsatz gewärtigen.«

Die Anklage hat im Kreuzverhör eine derartige Auslegung des Londoner Protokolls als fraudulös bezeichnet. Sie will in engster wörtlicher Interpretation die Versenkung eines Handelsschiffes nur dann als zulässig ansehen, nachdem dieses aktiven Widerstand geleistet hat. Es ist nicht erstmalig, daß über die Auslegung eines Vertrages grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragspartnern herrschen, und die recht verschiedenartige Auffassung von der Bedeutung des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 bietet ein sehr aktuelles Beispiel dafür. Aus der Verschiedenheit der Auffassung läßt sich also keinesfalls der Schluß ziehen, daß der eine oder andere Teil bei der Unterzeichnung oder späteren Auslegung eines Vertrages fraudulös gehandelt habe. Wie unberechtigt dieser Vorwurf auch gegenüber der deutschen Auslegung des Londoner U-Bootprotokolls ist, werde ich zu zeigen suchen.

Zwei Begriffe sind es, bei denen die deutsche Auslegung ansetzt, nämlich »Handelsschiff« und »Leistung aktiven Widerstandes«.

Wenn ich nunmehr auf rechtliche Fragen eingehe, so soll das keinesfalls eine umfassende Erörterung darstellen. Ich kann die Probleme nur anschneiden und muß mich auch bei der Erwähnung wissenschaftlicher Quellen aus Zeitmangel beschränken. Bevorzugt werde ich dabei auf amerikanische Quellen hinweisen, weil die seestrategischen Interessen dieser Nation nicht so festgelegt waren, wie die der europäischen Nationen und ihre Wissenschaft daher wohl in besonderem Maße Anspruch auf Objektivität erheben kann.

Der Text des Londoner Protokolls von 1936 beruht bekanntlich auf einer Erklärung, die auf der Londoner Seekonferenz von 1930 unterzeichnet worden war. Über den vielumstrittenen Begriff des Handelsschiffs äußerte sich das damals eingesetzte Juristenkomitee in dem Bericht vom 3. April 1930:

»The Committee wishes to place on record that the expression ›merchant vessel‹ where it is employed in the declaration is not to be understood as including a merchant vessel which is at the moment participating in hostilities in such a manner as to cause her to lose her right to the immunities of a merchant vessel.«

Diese Definition macht zumindest das eine klar, daß keinesfalls jedes Schiff, das eine Handelsflagge führt, Anspruch auf Behandlung als Handelsschiff im Sinne des Londoner Abkommens hat. Darüber hinaus gibt die Erläuterung nur wenig Positives; denn die Frage, durch welche Teilnahme an Feindseligkeiten ein Schiff das Recht auf die Immunität eines Handelsschiffes verliert, ist erneut der Auslegung der einzelnen Vertragspartner unterworfen. Die Londoner Konferenz hat sich, soweit ich sehe, mit dieser heiklen Frage nicht weiter befaßt, und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß diese erstaunliche Zurückhaltung auf Erfahrungen beruht, die die gleichen Mächte acht Jahre vorher in Washington gesammelt hatten.

Diese Konferenz in Washington 1922 stand noch frisch unter den Eindrücken des ersten Weltkrieges, und es ist daher kein Wunder, wenn die Seemacht, die unter dem deutschen U-Bootkrieg im Weltkrieg am meisten gelitten hatte, Großbritannien, nunmehr versuchte, den Handelskrieg durch U-Boote überhaupt völkerrechtlich zu ächten und abzuschaffen. Diesem Ziel diente die nach dem amerikanischen Hauptdelegierten Root benannte Resolution, die in ihrem ersten Teil im wesentlichen dem Londoner Text von 1930 entspricht. Im zweiten Teil geht die Root-Resolution aber weiter und sieht vor, daß jeder Kommandant als Kriegsverbrecher wie ein Seeräuber bestraft werden soll, der – gleichviel, ob mit oder ohne höheren Befehl – die für die Versenkung von Handelsschiffen aufgestellten Regeln verletzt. Schließlich wird anerkannt, daß ein Handelskrieg durch U-Boote unter den in der Resolution festgelegten Voraussetzungen nicht möglich sei und daher der Verzicht der Vertragsmächte auf den Handelskrieg durch U-Boote überhaupt ausgesprochen. Die Root-Resolution bezeichnet diese Grundsätze als anerkannten Teil des Völkerrechts. Als solche wurden sie zwar von den Delegierten angenommen, aber von keiner der fünf beteiligten Seemächte, USA, England, Frankreich, Japan und Italien, ratifiziert.

Anläßlich der Root-Resolution kam aber auch noch eine andere Frage zur Sprache, die für die Auslegung des Londoner Protokolls von größter Bedeutung ist, nämlich der Begriff des Handelsschiffes. Hier zeigten sich klar die zwei in der ganzen U-Bootfrage bestehenden Fronten. Auf der einen Seite stand England, auf der anderen Frankreich,3 Italien und Japan, während die USA eine vermittelnde Stellung einnahmen. Nach dem Protokoll der Konferenz von Washington leitete der italienische Delegierte, Senator Schanzer, den Vorstoß der schwächeren Seemächte ein und betonte ausdrücklich, daß ein regulär bewaffnetes Handelsschiff von einem U-Boot ohne weiteres angegriffen werden könne. Schanzer wiederholt in einer späteren Sitzung die Feststellung, daß die Italienische Delegation den Ausdruck »Handelsschiff« in der Resolution nur auf unbewaffnete Handelsschiffe beziehe. Er bezeichnete das als ausdrücklich in Übereinstimmung mit den geltenden Regeln des Völkerrechts.4

Der französische Delegierte, M. Sarraut, erhielt damals von Außenminister Briand die Weisung, sich den Vorbehalten des italienischen Delegierten anzuschließen.5 Er beantragte daraufhin, die italienischen Vorbehalte im Sitzungsprotokoll festzulegen.

Der japanische Delegierte Hanihara unterstützte diese Richtung mit der Erklärung, er halte es für klar, daß Handelsschiffe, die sich mit militärischer Unterstützung des Feindes befaßten, tatsächlich aufhörten, Handelsschiffe zu sein.6

Man kann also wohl feststellen, daß 1922 drei von den fünf vertretenen Mächten ihre Auffassung dahin ausdrückten, daß bewaffnete Handelsschiffe nicht als Handelsschiffe im Sinne des Abkommens anzusehen seien. Da an dieser Meinungsverschiedenheit die ganze Resolution zu scheitern drohte, wurde ein Ausweg gefunden, der typisch für derartige Konferenzen ist. Root schloß die Debatte mit der Erklärung, die Resolution gelte seiner Ansicht nach für alle Handelsschiffe, solange das Schiff ein Handelsschiff bleibe.7 Mit diesem Kompromiß kam eine Formel zustande, die zwar einen momentanen politischen Erfolg darstellen konnte, der aber eine wirkliche Bedeutung für den Kriegsfall nicht zukam. Denn es blieb jeder beteiligten Macht überlassen, ob sie im Kriegsfalle dem bewaffneten Handelsschiff den Schutz der Resolution zubilligen wollte oder nicht.

Ich habe diese Vorgänge des Jahres 1922 näher dargelegt, weil an ihnen die gleichen Mächte beteiligt waren, zwischen denen die Flottenkonferenz von 1930 stattfand. Die Londoner Konferenz war die Fortsetzung der von Washington, und was auf der ersten besprochen und protokolliert worden war, hatte seine volle Bedeutung für die zweite. Auch die Wissenschaft, und zwar keineswegs nur die deutsche, sondern besonders die amerikanische und die französische, haben diese enge Verbindung der beiden Konferenzen ihren Untersuchungen zugrunde gelegt und gerade deshalb das in der Unterseebootfrage erzielte Ergebnis als zweideutig und unbefriedigend erklärt. Ich möchte hier nur verweisen auf den zusammenfassenden Bericht von Wilson über den Londoner Flottenvertrag.8

Gerade dort ist auch neben der Zweideutigkeit des Begriffes »Handelsschiff« auf die Ungewißheit hingewiesen, die mit den Worten »aktiver Widerstand« verbunden ist. Und gerade an diese Worte knüpft sich eine Ausnahme von dem Schutz der Handelsschiffe, die ebenfalls aus dem Wortlaut des Londoner Protokolls nicht hervorgeht, aber trotzdem allgemein anerkannt ist, ich meine Handelsschiffe im feindlichen Geleit. Bei einer wörtlichen Auslegung des Londoner Abkommens müßte man die Auffassung vertreten, daß auch Handelsschiffe im feindlichen Geleit nicht warnungslos angegriffen werden dürfen, sondern daß ein angreifendes Kriegsschiff eben zunächst die Geleitfahrzeuge niederkämpfen müsse, um dann die Handelsschiffe anzuhalten und zu durchsuchen. Diese militärisch unmögliche Forderung wird aber auch von der Anklage offensichtlich nicht gestellt. In dem mehrfach erwähnten Bericht des britischen Foreign Office heißt es:

»Ships sailing in enemy convoys are usually deemed to be guilty of forcible resistance and therefore liable to be sunk forthwith.«

Hier läßt also auch die Anklage eine Auslegung der Worte »aktiver Widerstand« zu, eine Auslegung, die sich in keiner Weise aus dem Vertrag selbst ergibt, sondern einfach eine Folge des militärisch Notwendigen und damit ein Gebot des gesunden Menschenverstandes ist.

Und gerade derselbe gesunde Menschenverstand gebietet es auch, das bewaffnete Handelsschiff genau so als schuldig des gewaltsamen Widerstandes zu erachten, wie das geleitete. Nehmen wir einmal ein extremes Beispiel, um das ganz deutlich zu machen. Ein unbewaffnetes Handelsschiff von 20000 Tonnen und mit 20 Knoten Geschwindigkeit, das geleitet wird von einem Trawler mit – sagen wir – zwei Geschützen und einer Geschwindigkeit von 15 Knoten, darf warnungslos versenkt werden, weil es sich dem Schutz des Trawlers anvertraut und damit des aktiven Widerstandes schuldig gemacht hat. Wird aber dieser Schutz des Trawlers weggelassen, statt dessen dem Handelsschiff aber die zwei Kanonen oder sogar vier oder sechs an Bord gegeben und ihm so ermöglicht, seine Geschwindigkeit voll auszunützen, dann sollte es nicht mehr im gleichen Maße wie vorher des aktiven Widerstandes für schuldig befunden werden? Ein solches Ergebnis scheint mir wirklich dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen. Nach der Auffassung der Anklage müßte das U-Boot dieses an Kampfkraft weit überlegene Handelsschiff zunächst einmal zum Anhalten auffordern und abwarten, bis das Handelsschiff die erste Breitseite auf das U-Boot geschossen hat. Erst dann dürfte es seinerseits die Waffen einsetzen. Da jedoch ein einziger Artillerietreffer für das U-Boot fast immer tödlich ist, einem Handelsschiff aber in der Regel wenig ausmacht, wäre das Ergebnis die fast sichere Vernichtung des U-Bootes.

»Wenn man eine Klapperschlange sieht, die sich aufrichtet, dann wartet man nicht, bis sie auf einen zuschnellt, sondern man vernichtet sie vorher.«

Das sind die Worte Roosevelts, mit denen er den Befehl an die amerikanischen Seestreitkräfte rechtfertigte, die deutschen U-Boote anzugreifen. Dieser Grund genügte ihm also, sofortigen Waffeneinsatz auch ohne Kriegszustand zu befehlen. Im Kriege aber ist es wohl einmalig, bei zwei bewaffneten Gegnern dem einen das Recht des ersten Schusses zuzubilligen und dem anderen die Pflicht aufzubürden, den ersten Treffer abzuwarten. Eine solche Auslegung widerspricht jeder militärischen Vernunft. Es ist daher kein Wunder, wenn bei so widerstreitenden Auffassungen die Völkerrechtler auch nach dem Londoner Vertrag und der Unterzeichnung des Londoner Protokolls von 1936 die Behandlung des bewaffneten Handelsschiffes im Seekrieg als eine ungelöste Frage ansahen. Auch hier möchte ich nur auf eine wissenschaftliche Quelle hinweisen, die sich besonders hoher Autorität erfreuen kann. Es ist der Entwurf eines Abkommens über die Rechte und Pflichten der Neutralen im Seekrieg, den führende amerikanische Professoren des Völkerrechts, wie Jessup, Borchard und Charles Warren im »American Journal of International Law« vom Juli 1939 veröffentlicht haben, zugleich mit einer Begründung, die eine vorzügliche Übersicht über den neuesten Stand der Meinungen gibt. Artikel 54 dieses Entwurfs entspricht wörtlich dem Text des Londoner Abkommens von 1936 mit einer bezeichnenden Ausnahme; der Ausdruck »Handelsschiff« ist ersetzt durch »unbewaffnetes Schiff«. Der nächste Artikel fährt dann fort:

»In their action with regard to enemy armed merchant vessels belligerent war ships whether surface or submarine, and belligerent military aircraft are governed by the rules applicable to their action with regard to enemy warships.«

Diese Auffassung wird zunächst mit der historischen Entwicklung begründet. In den Zeiten, in denen eine Bewaffnung der Handelsschiffe üblich war, also bis zum Beginn des vorigen Jahrhunderts war keine Rede von irgendeinem Schutz des Handelsschiffes vor sofortigem Angriff eines gegnerischen Kriegsschiffes. Mit der Einführung des Panzers wurde das Kriegsschiff dem bewaffneten Handelsschiff so überlegen, daß dessen Widerstand zwecklos wurde und die Bewaffnung daher allmählich aufhörte. Diese Wehrlosigkeit gegenüber dem Kriegsschiff, und nur sie allein, brachte dem Handelsschiff ein Privileg ein, durch den Kriegführenden nicht ohne weiteres mit Waffengewalt angegriffen zu werden.

»As merchantmen lost effective fighting power they acquired a legal immunity from attack without warning.«

Diese Immunität war niemals dem Handelsschiff als solchem konzediert, sondern nur dem wehrlosen und ungefährlichen Handelsschiff. Dazu sagt der amerikanische Völkerrechtler Hyde9 im Jahre 1922, also nach der Konferenz von Washington und der erwähnten Boot-Resolution über den U-Bootkrieg:

»Maritim states have never acquiesced in a principle that a merchant vessel so armed as to be capable of destroying a vessel of war of any kind should enjoy immunity from attack at sight, at least when encountering an enemy cruiser ot inferior defensive strength.«

Rechtliche wie praktische Gründe veranlassen daher nach Unterzeichnung des Londoner Abkommens und kurz vor Ausbruch dieses Krieges die genannten amerikanischen Autoritäten zu der Auffassung, daß bewaffnete Handelsschiffe nicht gegen warnungslosen Angriff geschützt sind.

Dabei wird auch die alte Unterscheidung zwischen defensiver und offensiver Bewaffnung als unbrauchbar abgelehnt. Bekanntlich hatte bereits der amerikanische Staatssekretär Lansing in seiner Note an die Alliierten vom 18. Januar 1916 den Standpunkt vertreten, daß jede Bewaffnung auf einem Handelsschiff dieses Schiff einem U-Boot an Kampfkraft überlegen mache und daher den Charakter einer offensiven Bewaffnung trage.10 Im späteren Verlauf des Weltkrieges haben dann die USA ihre Meinung dahin geändert, daß eine Aufstellung der Geschütze auf dem Heck als Beweis für den defensiven Charakter der Bewaffnung anerkannt werden könne. Einige internationale Abkommen und Entwürfe, sowie insbesondere die britischen Juristen haben sich diesen Standpunkt zu eigen gemacht. Der Praxis des Seekriegsrechts wird er nicht gerecht.

Zunächst einmal sind in diesem Kriege bei vielen Fahrzeugen die Geschütze von vorneherein auf dem Vorschiff aufgestellt worden, zum Beispiel grundsätzlich bei Fischdampfern. Ferner befanden sich die für das U-Boot besonders gefährlichen Flak-Waffen des Handelsschiffs häufig auf der Brücke, waren also nach allen Seiten verwendbar. Überdies läßt sich aber ein Unterschied zwischen defensiver und offensiver Bewaffnung auf Grund der Aufstellung der Waffen nicht durchführen.

Dafür kommt es allein auf die Befehle an und auf den Geist, in dem diese Waffen verwendet werden sollten. Die Befehle der britischen Admiralität waren schon bald nach Kriegsbeginn in deutsche Hand gefallen. Ihre Vorlage ist mir durch den Beschluß des Tribunals ermöglicht worden.

Sie sind enthalten zum Teil in dem »Confidential Fleet Orders« und in der Hauptsache im »Defense of Merchant Shipping Handbook«. Ergangen sind sie im Jahre 1938. Es handelt sich also nicht um Gegenmaßnahmen gegen ein unerlaubtes deutsches Vorgehen, sondern sie sind umgekehrt erlassen zu einem Zeitpunkt, wo in Deutschland der Krieg nach dem Londoner Abkommen die einzige in Erwägung gezogene Form des U-Bootkrieges war. Die Weisungen zeigen ferner, daß alle britischen Handelsschiffe vom ersten Tage des Krieges an nach Befehlen der britischen Admiralität handelten. Zur Frage der U-Bootbekämpfung behandeln sie folgende Punkte:

1. Die Meldung von U-Booten durch Funkentelegraphie.

2. Die Verwendung der Schiffsartillerie.

3. Die Verwendung von Wasserbomben.

Ergänzt wurden diese Weisungen durch eine am 1. Oktober 1939 durch Radio übermittelte Aufforderung, jedes deutsche U-Boot zu rammen.

Es könnte nach dieser Übersicht unnötig erscheinen, über die defensive oder offensive Bedeutung solcher Befehle überhaupt zu reden. Die Befehle über die Verwendung der Artillerie durch Handelsschiffe treffen jedoch eine solche Unterscheidung, und zwar sollen die Kanonen so lange nur denfensiv verwendet werden, wie der Gegner sich einerseits an die Bestimmungen des Völkerrechts hält und offensiv erst dann, wenn er das nicht mehr tut. Die Befehle über die praktische Durchführung dieser Richtlinien zeigen aber, daß zwischen der defensiven und der offensiven Verwendung überhaupt kein Unterschied besteht. Admiral Dönitz hat das in seiner Vernehmung im einzelnen erläutert, und ich will es nicht wiederholen. Tatsächlich hatte in allen Fällen das Handelsschiff von Kriegsbeginn an Befehl, auf jedes U-Boot zu schießen, das in Reichweite seiner Geschütze kam. Und so haben die Kapitäne der britischen Handelsschiffe auch gehandelt. Der Grund für dieses offensive Verhalten kann sicher nicht in dem Vorgehen der deutschen U-Boote in den ersten Wochen des Krieges gefunden werden; denn selbst der Bericht des britischen Foreign Office erkennt ja an, daß dieses Verhalten korrekt war. Dagegen mag die britische Propaganda eine große Bedeutung gehabt haben, die im Anschluß an die versehentliche Versenkung der »Athenia« am 3. September 1939 durch Reuter am 9. September die Behauptung des uneingeschränkten U-Bootkrieges verbreitete und beibehielt, obwohl das Vorgehen der deutschen U-Boote in den ersten Wochen des Krieges diesen Vorwurf widerlegte. Mit der Bekanntgabe des Rammbefehles der britischen Admiralität vom 1. Oktober 1939 wurde dann der Handelsschiffahrt erneut und offiziell mitgeteilt, die deutschen U-Boote hielten sich nicht mehr an das geltende Seekriegsrecht, die Handelsschiffe hätten ihr Verhalten dementsprechend einzurichten. Dabei scheint mir ohne Bedeutung, daß eine entsprechende schriftliche Ergänzung der Admiralitätsbefehle erst im Frühjahr 1940 herauskam; denn der Seekrieg wird heutzutage nicht durch Briefe, sondern durch Funksprüche gelenkt. Nach diesen mußten jedoch die britischen Kapitäne vom 9. September, spätestens aber vom 1. Oktober 1939 ab auf Grund des Handbuches der Admiralität ihre Kanonen offensiv gegen die deutschen U-Boote einsetzen. Der deutsche Befehl zum warnungslosen Angriff auf die bewaffneten feindlichen Handelsschiffe erging erst am 4. Oktober. Er war daher auf alle Fälle berechtigt, selbst wenn man eine unterschiedliche Behandlung von Schiffen mit defensiver und offensiver Bewaffnung anerkennen wollte.

Die Geschütze der Handelsschiffe und die Befehle für ihre Verwendung waren jedoch nur ein Teil aus einem umfassenden System zur militärischen Verwendung der Handelsschiffahrt. Von Ende September 1939 an erhielten gerade die schnellsten Schiffe, die also selbst durch das U-Boot am wenigsten gefährdet, andererseits zur U-Bootjagd aber besonders geeignet waren, Wasserbombenwerfer, also Waffen, die ein Aufsuchen des getauchten U-Boots erforderten und somit als typische Angriffswaffen zu werten sind.

Von allgemeinerer Bedeutung und auch von einer größeren Gefahr für das U-Boot war jedoch der Befehl, jedes feindliche Schiff sofort bei Sicht nach Typ und Standort zu melden. Diese Meldung sollte, wie es in dem Befehl heißt, eine vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit ausnutzen, durch eigene See- oder Luftstreitkräfte den Gegner zu vernichten. Das ist eine eindeutige Verwendung aller Handelsschiffe zum militärischen Nachrichtendienst zwecks unmittelbarer Schädigung des Gegners. Wenn man bedenkt, daß nach dem Lazarettschiff-Abkommen sogar die Immunität des Lazarettschiffes aufhört, wenn es militärische Nachrichten dieser Art sendet, so kann man keinen Zweifel über die Folgen eines solchen Verhaltens bei einem Handelsschiff haben. Wer mit dem Befehl und mit dem Willen zur See fährt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit den eigenen See- und Luftstreitkräften militärische Meldungen über den Gegner abzugeben, nimmt während der ganzen Dauer seiner Reise an den Feindseligkeiten teil und hat nach dem erwähnten Bericht des Juristenkomitees von 1930 keinen Anspruch darauf, als Handelsschiff angesehen zu werden. Jede andere Auffassung würde der unmittelbaren Gefährdung nicht gerecht werden, die eine Funkmeldung für das gemeldete Schiff bedeutet und die es oft schon nach wenigen Minuten dem Angriff der feindlichen Flugzeuge aussetzt.

Alle Weisungen der Admiralität zusammen ergeben, daß die britischen Handelsschiffe vom ersten Tage des Krieges an fest eingegliedert waren in das System der britischen Marine zur Bekämpfung der feindlichen Seestreitkräfte. Sie waren ein Teil des militärischen Nachrichtennetzes der britischen Kriegsmarine und Luftwaffe und ihre Ausrüstung mit Kanonen und Wasserbomben, die Ausbildung an den Waffen und die Befehle über den Einsatz waren eine Angelegenheit der britischen Kriegsmarine.

Wir betrachten es als ausgeschlossen, daß man eine so zum Kampf bestimmte und gebrachte Handelsflotte zu den Schiffen rechnen kann, denen der Schutz des Londoner Protokolls vor warnungsloser Versenkung zusteht. Auf Grund dieser Auffassung in Verbindung mit der rapide vervollständigten Bewaffnung aller feindlichen Handelsschiffe erging dann am 17. Oktober 1939 der Befehl, alle feindlichen Handelsschiffe warnungslos anzugreifen.

VORSITZENDER: Herr Doktor! Ich glaube, wir könnten an diesem Punkte abbrechen.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Ich bedaure, den Gerichtshof aufzuhalten; aber ich habe versprochen, den Gerichtshof über zwei Affidavits zu informieren, die für den Angeklagten Seyß-Inquart eingereicht wurden. Wir haben keinen Einwand dagegen. Ich hatte versprochen, Ihnen das heute mitzuteilen, Euer Lordschaft! Ich bedaure, Sie aufgehalten zu haben.