[Das Gericht vertagt sich bis
16. Juli 1946, 10.00 Uhr.]
1 De jure pacis ac belli, Buch II, Kapitel XXIV, Paragraph 10: »War is a cruel thing, and it brings in its train a multitude of injustices and misdeeds.«
2 Lord Edward Grey. »Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892-1916.« Übersetzung bei Bruckmann, München 1926. »Das Völkerrecht ist immer sehr dehnbar gewesen.... Ein Kriegführender mit einer übermächtigen Flotte hat immer noch nach einer Auslegung des Völkerrechts gesucht, die ein Maximum an Eingriffen gegen Güter, die voraussichtlich den Feind erreichen könnten, rechtfertigte. Diesen Standpunkt nahmen natürlich Großbritannien und die Verbündeten infolge ihrer Übermacht zur See ein. Die britische Haltung in dieser Frage war nicht immer die gleiche gewesen. Wenn wir zu den Neutralen gehört hatten, bestritten wir natürlich das von den Kriegführenden in Anspruch genommene Recht weitestgehender Eingriffe.«
3 Yamato Ichihalie, The Washington Conference and after, Stanford University Press, Cal. 1928, Seite 80 »The chief reason for the British plea was the apprehension of the craft in the hands of the French navy«.
4 Conference on the Limitation of Armaments Washington November 12, 1921 – February 6, 1922, Washington, Government Printing Office 1922, Seite 606, 688, 692.
5 Franz. Gelbbuch, La Conference de Washington, Seite 93.
6 Protokoll Seite 693, 702. »He thought it was also clear that merchant vessels engaged in giving military assistance to the enemy ceased in fact to be merchant vessels.«
7 Protokoll Seite 704. »So long as the vessel remained a merchant vessel.«
8 American Journal of International Law 1931, Seite 307.
9 Hyde, International Law, 1922, Band II, Seite 469.
10 U.S. Foreign Relations 1916, Supplement Seite 147.
Einhundertneunundsiebzigster Tag.
Dienstag, 16. Juli 1946.
Vormittagssitzung.
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Herr Vorsitzender, meine Herren Richter!
Ich möchte meine gestrigen Ausführungen zusammenfassen und zum Vorgehen der deutschen U-Boote gegen die feindliche Handelsschiffahrt folgendes bemerken:
Ich glaube, daß die deutsche Auslegung des Londoner Protokolls von 1936 – nach der in Fachkreisen allgemein bekannten Position einiger daran beteiligten Mächte, ebenso wie nach der bekannten Meinung zahlreicher und kompetenter Wissenschaftler aller Länder – keinesfalls fraudulös war. Wenn ich mich ganz zurückhaltend ausdrücken will, so muß ich sie zumindest als rechtlich durchaus haltbar bezeichnen, und es kann damit gegen die deutsche Seekriegführung nicht der mindeste Vorwurf erhoben werden, wenn sie ihren Befehlen eine vernünftige und durchaus vertretbare Auffassung zugrunde legt. Wir haben gesehen, daß diese Befehle erst ergingen, nachdem durch die bekanntgewordenen britischen Maßnahmen einwandfrei diejenigen Voraussetzungen geschaffen waren, welche die Befehle nach der deutschen Rechtsauffassung rechtfertigten.
Bevor ich dieses Thema verlasse, möchte ich das Tribunal an den besonderen Schutz erinnern, den die deutschen Befehle für Passagierdampfer vorsahen. Diese waren lange Zeit von allen Versenkungsmaßnahmen ausgenommen, und zwar sogar dann, wenn sie im feindlichen Geleit fuhren und damit auch nach britischer Auffassung ohne weiteres hätten versenkt werden dürfen. Diese Maßnahmen zeigen besonders deutlich, daß der Vorwurf der Rücksichtslosigkeit und Brutalität unberechtigt ist. Die Passagierdampfer wurden in die für die sonstigen Schiffe geltenden Befehle erst dann einbezogen, als es im Frühjahr 1940 einen harmlosen Passagierverkehr überhaupt nicht mehr gab, und gerade diese Schiffe auf Grund ihrer hohen Geschwindigkeit und starken Bewaffnung sich als besonders gefährliche Feinde des U-Bootes herausstellten. Wenn daher der Bericht von Herrn Roger Allen die Versenkung der »City of Benares« im Herbst 1940 als besonders gutes Beispiel für die Grausamkeit eines deutschen U-Bootes erwähnt, so ist dieses Beispiel nicht gerade glücklich gewählt; denn die »City of Benares« war bewaffnet und fuhr im Geleitzug.
Ich wende mich nun der Behandlung der Neutralen in der Führung des deutschen U-Bootkrieges zu und kann dabei auch hier gleich auf das von Herrn Roger Allen besonders herausgestellte Beispiel für die völkerrechtswidrige Versenkung eines Neutralen hinweisen. Es handelt sich um die Torpedierung des dänischen Dampfers »Vendia« Ende September 1939. Das Tribunal wird sich erinnern, daß dieses Schiff ordnungsgemäß angehalten und erst dann durch Torpedoschuß versenkt worden war, als es zum Rammstoß auf das deutsche U-Boot ansetzte. Die Angelegenheit führte zu einem Protest der Deutschen bei der Dänischen Regierung wegen feindseligen Verhaltens eines neutralen Schiffes.
Die Aufklärung dieses einen Beispiels mag nur zeigen, wie anders die Dinge aussehen, wenn man nicht nur das Ergebnis kennt, nämlich die Versenkung eines neutralen Schiffes, sondern auch die Ursachen, die zu diesem Ergebnis führten. Für die deutschen U-Boote hat bis zum letzten Tage des Krieges der grundsätzliche Befehl bestanden, als neutral erkannte Handelsschiffe nicht anzugreifen. Von diesem Befehl bestanden genau festgelegte Ausnahmen, die den Neutralen notifiziert waren. Sie betrafen erstens Schiffe, die sich verdächtig oder feindselig verhielten, zweitens Schiffe in bekanntgegebenen Operationsgebieten.
Zu der ersten Gruppe gehören zunächst diejenigen Fahrzeuge, die im Kriegsgebiet abgeblendet fahren. Am 26. September 1939 beantragte der Befehlshaber der U-Boote beim Oberkommando der Kriegsmarine die Erlaubnis zum warnungslosen Angriff auf abgeblendete Fahrzeuge im Kanal. Der Grund war klar. Dort lief nachts der feindliche Truppentransport- und Materialverkehr, mit dem die zweite Welle der britischen Expeditionsarmee nach Frankreich übergesetzt wurde. Es bestand damals noch der Befehl, französische Schiffe überhaupt nicht anzugreifen. Da sich aber französische Schiffe von den englischen nachts nicht unterscheiden ließen, hätte in Befolgung dieses Befehls der U-Bootkrieg im Kanal nachts völlig eingestellt werden müssen. Das Tribunal hat von einem Zeugen gehört, daß auf diese Weise ein 20000-Tonnen-Truppentransporter unangefochten vor den Rohren eines deutschen U-Bootes vorbeigelaufen ist. Ein derartiges Ergebnis in einem Kriege ist grotesk, und die Seekriegsleitung hat daher selbstverständlich den Antrag des Befehlshabers der U-Boote genehmigt.
Die Anklage hat nun besonderes Aufheben gemacht von einem Vermerk, den ein Mitarbeiter – Assistent – in der Seekriegsleitung, der Kapitänleutnant Fresdorf, aus diesem Anlaß geschrieben hat. Bereits der Abteilungschef, Admiral Wagner, hat die darin geäußerten Meinungen nicht gebilligt, sie haben deshalb auch nicht zu entsprechenden Befehlen geführt. Der Befehl zum Angriff auf abgeblendete Schiffe wurde durch Funkspruch ohne jeden Zusatz von der Seekriegsleitung erteilt, und er wurde am 4. Oktober von ihr auf weitere Gebiete rings um die englische Küste ausgedehnt, und zwar erneut ohne jeden Zusatz im Sinne des genannten Vermerks.
Über die rechtliche Beurteilung abgeblendeter Schiffe bemerkt der bekannte Praktiker des Seekriegsrechts Vanselow:1
»Ein abgeblendetes Schiff muß im Kriege im Zweifel als feindliches Kriegsschiff angesprochen werden. Ein neutrales, ebenso ein feindliches Handelsschiff, das abgeblendet fährt, verzichtet freiwillig während der Dunkelheit auf sein Vorrecht, nicht ohne Anhalt angegriffen zu werden.«
Ich verweise ferner auf die Erklärung Churchills im Unterhaus am 8. Mai 1940 über das Vorgehen der britischen U-Boote im Skagerrak. Diese hatten seit Anfang April Befehl, bei Tag alle deutschen Schiffe, bei Nacht alle Schiffe, also auch die neutralen, warnungslos anzugreifen. Das bedeutet die Anerkennung des dargelegten Rechtsstandpunktes. Es geht über den deutschen Befehl sogar noch hinaus, insofern, als auch mit vollen Lichtem fahrende neutrale Handelsschiffe in diesem Seegebiet warnungslos versenkt wurden. Es wäre angesichts dieser klaren Rechtslage wohl kaum nötig gewesen, die neutrale Handelsschiffahrt ausdrücklich vor verdächtigem oder feindlichem Verhalten zu warnen. Trotzdem hat die Seekriegsleitung darauf hingewirkt, daß das geschah.
Am 28. September 1939 ging die erste deutsche Note an die neutralen Regierungen mit der Aufforderung, ihre Handelsschiffe vor jedem verdächtigen Verhalten, wie Kursänderungen und Funkgebrauch beim Sichten deutscher Seestreitkräfte, Abblenden, Nichtbefolgen der Aufforderung zum Stoppen und so weiter, zu warnen. Diese Warnungen sind in der Folgezeit mehrfach wiederholt worden, und die neutralen Regierungen haben sie auch an ihre Kapitäne weitergegeben. Das alles ist durch die vorgelegten Dokumente bewiesen. Wenn daher neutrale Schiffe infolge verdächtigen oder feindseligen Verhaltens wie feindliche behandelt worden sind, so haben sie sich das selbst zuzuschreiben. Wer sich als Neutraler während des Krieges korrekt verhielt, der durfte von den deutschen U-Booten nicht angegriffen werden, und es gibt Hunderte von Beispielen dafür, daß dies auch nicht geschehen ist.
Ich wende mich nun der zweiten Gefahr zu, die die neutrale Handelsschiffahrt bedrohte: den Operationsgebieten. Die tatsächliche Entwicklung war kurz folgende:
Am 24. November 1939 richtete die Reichsregierung an alle seefahrenden Neutralen eine Note, in der sie auf die offensive Verwendung der feindlichen Handelsschiffe hinweist, sowie auf die Tatsache, daß die Regierung der Vereinigten Staaten ein genau abgegrenztes Seegebiet vor den mitteleuropäischen Küsten, die sogenannte USA-Kampfzone, für die eigene Schiffahrt gesperrt habe. Diese beiden Tatsachen geben, wie es in der Note heißt, der Reichsregierung Anlaß, ich zitiere:
»... erneut und verstärkt zu warnen, daß im Hinblick auf die mit allen Mitteln moderner Kriegstechnik geführten und sich häufenden Kampfhandlungen in den Gewässern rund um die britischen Inseln und in der Nähe der französischen Küste, dort Sicherheit für neutrale Schiffahrt nicht mehr als gegeben angesehen werden kann.«
Die Note empfiehlt dann für den Verkehr der Neutralen untereinander bestimmte Seewege, die durch deutsche Seekriegsmittel nicht gefährdet sind, sowie gesetzgeberische Maßnahmen nach dem Vorbild der USA. Am Schluß lehnt die Reichsregierung die Verantwortung für Folgen ab, die entstehen, wenn Warnung und Empfehlung nicht befolgt werden. Diese Note bedeutete die Bekanntgabe eines Operationsgebietes im Umfange der USA-Kampfzone mit der Einschränkung, daß nur in den durch Kampfhandlungen mit dem Gegner tatsächlich gefährdeten Seegebieten auf die neutrale Schiffahrt keine Rücksicht mehr genommen werden könne.
An diese Einschränkung hat sich die Seekriegsleitung auch gehalten. Den Neutralen blieb zunächst über sechs Wochen Zeit, die von der Deutschen Regierung zur Sicherheit ihres eigenen Schiffsverkehrs empfohlenen Maßnahmen zu treffen und diesen Verkehr auf die bekanntgegebenen Wege umzuleiten. Von Anfang Januar an gab die deutsche Führung dann innerhalb des bekanntgegebenen Operationsgebietes den deutschen Streitkräften genau abgegrenzte Gebiete rings um die englische Küste frei, in denen der warnungslose Angriff gegen alle dort noch verkehrenden Schiffe zulässig war. Dem Tribunal ist die Seekarte vorgelegt worden, auf der diese Gebiete eingetragen sind. Sie zeigt, daß nach und nach diejenigen Zonen erfaßt wurden und nur diejenigen, in denen durch wechselseitige Steigerung von Angriff und Abwehr zur See und aus der Luft ständige Kampfhandlungen stattfanden, so daß jedes Schiff, das sich in diesen Raum begab, in unmittelbarer Gegenwart der beiderseitigen Streitkräfte operierte. Die letzte dieser Zonen wurde Ende Mai 1940 festgelegt. Diese Zonen wurden nicht bekanntgegeben und brauchten nicht bekanntgegeben werden, weil sie sich sämtlich innerhalb des bekanntgegebenen Operationsgebietes vom 24. November 1939 befanden. Der Abstand dieser Zonen von der feindlichen Küste betrug durchschnittlich 60 Seemeilen. Außerhalb dieser Grenzen wurde die Operationsgebietserklärung vom 24. November nicht ausgenutzt, das heißt neutrale Schiffe durften dort nur nach Prisenordnung angehalten und versenkt werden.
Diese Lage änderte sich, als nach dem Zusammenbruch Frankreichs im Sommer 1940 nunmehr die britischen Inseln in den Mittelpunkt des Kriegsgeschehens traten. Am 17. August 1940 notifizierte die Reichsregierung den neutralen Regierungen eine Erklärung, in der das gesamte Gebiet der USA-Kampfzone um England herum ohne jede Einschränkung nunmehr als Operationsgebiet bezeichnet wird.
»Jedes Schiff« – so heißt es in der Note –, »das dieses Gebiet befährt, setzt sich der Vernichtung nicht nur durch Minen, sondern auch durch andere Kampfmittel aus. Die Deutsche Regierung warnt daher erneut und dringlich vor dem Befahren des gefährdeten Gebietes.«
Von diesem Zeitpunkt an wurde das Gebiet in seinem vollen Umfang ausgenutzt und allen See- und Luftstreitkräften der sofortige Waffeneinsatz gegen die darin angetroffenen Fahrzeuge freigegeben, soweit nicht besondere Ausnahmen befohlen waren. Die gesamte dargestellte Entwicklung wurde in der deutschen Presse offen behandelt, und der Großadmiral Raeder hat darüber auch der ausländischen Presse Interviews gegeben, aus denen der deutsche Standpunkt klar hervorging. Wenn daher in den erwähnten Seegebieten neutrale Schiffe und Besatzungen zu Schaden kamen, so können Sie sich zumindest nicht darüber beklagen, daß sie nicht vorher ausdrücklich und eindringlich gewarnt gewesen wären.
Diese Feststellung allein bedeutet nicht viel für die Frage, ob die Operationsgebiete als solche überhaupt eine zulässige Maßnahme darstellen. Auch hier wird sich die Anklage auf den Standpunkt stellen, daß in dem Londoner Protokoll von 1936 keinerlei Ausnahmen für Operationsgebiete gemacht worden sind und infolgedessen auch derartige Ausnahmen nicht bestehen.
Wie bekannt, ist die Erklärung von Operationsgebieten eine Schöpfung des ersten Weltkrieges. Die erste Erklärung dieser Art ging von der Britischen Regierung am 2. November 1914 aus und bestimmte das gesamte Gebiet der Nordsee zum Kriegsgebiet. Diese Erklärung war begründet als Repressalie gegen angebliche deutsche Verletzungen des Völkerrechts. Da diese Begründung selbstverständlich nicht anerkannt wurde, erwiderte die Kaiserliche Regierung am 4. Februar 1915 mit der Erklärung der Gewässer um England zum Kriegsgebiet. Auf beiden Seiten folgten noch gewisse Erweiterungen. Ich will nicht auf die einzelnen Formulierungen dieser Erklärungen eingehen und die scharfsinnigen juristischen Folgerungen, die für oder gegen die Zulässigkeit dieser Erklärungen aus ihrem Wortlaut gezogen worden sind.
Ob man diese Gebiete nun als Kriegsgebiet, Sperrgebiet, Operationsgebiet oder Warngebiet bezeichnet, der Kern der Sache war in allen Fällen, daß die Seestreitkräfte in dem bekanntgegebenen Gebiet die Erlaubnis hatten, jedes dort angetroffene Schiff zu versenken. Nach dem Weltkriege war die Überzeugung der Seeoffiziere, wie der Völkerrechtler allgemein, daß sich das Operationsgebiet als Mittel des Seekrieges erhalten werde. Es bestätigte sich hier die für das Seekriegsrecht typische Entwicklung, daß die neuartige Kriegstechnik zur Anwendung von Kriegsmethoden zwingt, die zunächst mit der Begründung als Repressalie eingeführt werden, dann aber allmählich auch ohne eine derartige Begründung praktisch angewandt und als rechtmäßig anerkannt werden.
Die technischen Gründe für diese Entwicklung liegen auf der Hand: Die Verbesserung der Mine ermöglichte es, große Seegebiete durch Minen zu gefährden. Wenn es aber zulässig war, durch Minen jedes Schiff zu vernichten, das trotz Warnung ein bekanntgegebenes Seegebiet befuhr, so war nicht einzusehen, weshalb nicht auch andere Seekriegsmittel in gleicher Weise in diesem Gebiet verwendet werden sollten. Dazu kam, daß die traditionelle Institution der Blockade unmittelbar vor den feindlichen Häfen und Küsten durch Minen, U-Boote und Luftwaffe praktisch unmöglich gemacht wurde, so daß die Seemächte nach neuen Wegen suchen mußten, um die Zufahrt zu den feindlichen Küsten zu sperren. Diese Notwendigkeiten waren es also, die zu einer Anerkennung der Operationsgebiete zwangen.
Allerdings war keineswegs eine einheitliche Auffassung vorhanden über die einzelnen Voraussetzungen, unter denen derartige Gebiete als zulässig zu erachten seien, ebensowenig wie über die Bezeichnung, die der Kriegführende zu wählen habe. Daran änderten auch die Konferenzen von 1922 und 1930 nichts. Das zeigen die Bemühungen, die auch nach 1930 insbesondere amerikanische Politiker und Völkerrechtler anstrengten zu einer Lösung dieser Frage.2
Es ist hier leider keine Zeit, um diese Fragen näher auseinanderzusetzen, und es muß daher für die Zwecke der Verteidigung genügen, festzustellen, daß während der Konferenzen von Washington 1922 und London 1930 das Operationsgebiet eine allen beteiligten Mächten bekannte Einrichtung war, und zwar mit der im ersten Weltkrieg von beiden Seiten festgelegten Wirkung, daß dort alle angetroffenen Schiffe sofortiger Vernichtung ausgesetzt waren. Wenn diese Einrichtung in den genannten Konferenzen, insbesondere in dem Vertrag von 1930 hätte beseitigt werden sollen, so hätte, wenn nicht im Text des Abkommens, so zumindest in den Verhandlungen darüber eine Einigung erzielt werden müssen. Die Protokolle ergeben nichts dergleichen. Das Verhältnis von Operationsgebiet und Londoner Protokoll blieb ungeklärt.
So betrachtet es auch der französische Admiral Castex.3 Der Admiral Bauer, Befehlshaber der U-Boote im ersten Weltkrieg, sprach sich 1931 gegen die Anwendbarkeit der Londoner Regel im Operationsgebiet aus, und diese Auffassung war der britischen Marine durchaus bekannt.4 In einer gründlichen Studie von Professor Ernst Schmitz5 aus dem Jahre 1938 wird ein Handelsschiff, das trotz allgemeinen Verbots in ein Operationsgebiet einläuft, als schuldig des »persistent refusal to stop« angesehen. Die an den Konferenzen von Washington und London beteiligten Mächte haben in diesen, wie in anderen Fällen, bewußt vermieden, Streitfragen anzuschneiden, über die keine Einigung zu erzielen war. Infolgedessen behielt jede Macht freie Hand, in der Praxis diejenige Auffassung zu vertreten, die ihrem Interesse entsprach. Darüber waren sich die Teilnehmer vollauf im klaren, und ich habe dafür keinen geringeren Zeugen als den damaligen französischen Außenminister Briand. In seiner Instruktion an den französischen Hauptdelegierten in Washington, Sarraut, vom 30. Dezember 1921, erklärt Briand die grundsätzliche Bereitschaft, ein Abkommen über den U-Bootkrieg zu schließen. Er bezeichnet dann aber eine Reihe von Fragen als wesentliche Bestandteile eines solchen Abkommens, darunter die Bewaffnung von Handelsschiffen und die Erklärung von Kriegsgebieten. Die Instruktion fährt fort:
»Il est indispensable d'examiner ces questions et de les résoudre d'un commun accord, aussi bien pour les bâtiments de surface que pour les bâtiments sous-marins et les aéronefs, sous peine de poser des regles inefficaces et trompeuses.«6
»Unwirksam und trügerisch«, so bezeichnet Briand die U-Bootsregeln gerade auch im Verhältnis zu der Frage des Operationsgebietes. Nach diesem Zeugnis wird niemand mehr die deutsche Auffassung als fraudulös bezeichnen können, daß Schiffen in bekanntgegebenen Operationsgebieten der Schutz des Londoner Protokolls nicht zusteht. Sogar der Bericht des Herrn Roger Allen räumt das ein.7
Die Angriffe der Anklage scheinen sich daher auch, wie ich aus den Kreuzverhören zu entnehmen glaube, weniger gegen die Tatsache solcher Gebiete, als gegen ihren Umfang zu richten, und wir haben wiederholt die Zahl von 750000 Quadratseemeilen gehört. In dieser Zahl ist, nebenbei bemerkt, die Landfläche Großbritanniens, Irlands und Westfrankreichs eingerechnet, das reine Seegebiet beträgt nur 600000 Quadratmeilen. Ich räume jedoch ohne weiteres ein, daß durch Operationsgebiete dieses Umfanges die Interessen der Neutralen stark beeinträchtigt werden. Um so bemerkenswerter ist, daß der schon erwähnte amerikanische Konventionsentwurf von 1939 über die Rechte und Pflichten der Neutralen eine erhebliche Ausdehnung des Operationsgebietes vorsieht. Ein derartiges, in dem Entwurf als »Blockadezone« bezeichnetes Gebiet soll den Seeraum bis zum Abstand von 50 Seemeilen von der blockierten Küste umfassen.
VORSITZENDER: Dr. Kranzbühler! Der Gerichtshof würde gern wissen, auf welchen amerikanischen Entwurf von 1939 Sie sich beziehen?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Es ist der von mir erwähnte Entwurf amerikanischer Professoren über die Rechte und Pflichten der Neutralen im Seekrieg, Jessup Borchard und Charles Warren, der veröffentlicht ist im American Journal of International Law vom Juli 1939.
VORSITZENDER: Jessup und Warren sagten Sie?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Jessup Borchard und Charles Warren.
VORSITZENDER: Danke.
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Das würde weitgehend dem Seegebiet entsprechen, in dem bis zum 17. August 1940 der warnungslose Angriff freigegeben war; es umfaßt etwa 200000 Quadratseemeilen.
Es erscheint mir jedoch unmöglich, an eine so eminent praktische Frage, wie die der Ausdehnung eines Operationsgebietes, überhaupt wissenschaftlich heranzugehen. Solange diese Frage nicht vertraglich geregelt ist, wird die tatsächliche Festsetzung immer ein Kompromiß sein zwischen dem militärisch Erwünschten und dem politisch Möglichen. Die Grenze des Rechts scheint mir dabei erst überschritten zu werden, wenn ein Kriegführender seine Macht gegenüber den Neutralen mißbraucht. Ob ein solcher Mißbrauch vorliegt, wird sowohl von dem Verhalten des Gegners gegenüber den Neutralen, wie von den Maßnahmen der Neutralen selbst abhängig zu machen sein.
VORSITZENDER: Einen Augenblick, Dr. Kranzbühler! Hängt nicht das Recht, eine Zone als Operationszone zu erklären, von der Macht ab, dies durchsetzen zu können?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich begreife nicht ganz den Sinn Ihrer Frage.
VORSITZENDER: Ihre Ansicht ist scheinbar, daß irgendein Staat, der sich im Kriegszustand befindet, das Recht hat, ein solches Operationsgebiet festzulegen, wie er es für richtig und mit seinen Interessen vereinbar hält. Ich frage Sie: Hängt nicht das Recht, eine Zone als Operationsgebiet zu erklären – wenn so ein Recht überhaupt besteht –, von der Fähigkeit oder der Macht des Staates ab, der diese Zone erklärt hat, nämlich diese Zone durchzusetzen, also Schiffe daran zu hindern, in diese Zone hineinzufahren, ohne entweder aufgebracht oder beschossen zu werden?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Darüber, Herr Präsident, sind einheitliche Meinungen in der Wissenschaft meiner Ansicht nach nicht vorhanden. Im Gegensatz zum Blockadegebiet im klassischen Sinne, in dem eine volle Wirksamkeit erforderlich ist, sieht das Operationsgebiet nur eine effektive Gefährdung durch ständige Kampfhandlungen vor, und diese effektive Gefährdung war meiner Auffassung nach in dem deutschen Operationsgebiet vorhanden, und ich beziehe mich zum Beweise dafür auf die Proklamation des Präsidenten Roosevelt über die USA-Kampfzone, die ja gerade das Befahren dieses selben Gebietes verbietet, unter Hinweis darauf, daß dort infolge der Kampfhandlungen notwendig die Schiffahrt ständig gefährdet wird.
VORSITZENDER: Aber die Proklamation des Präsidenten Roosevelt war doch nur an die Schiffe der Vereinigten Staaten gerichtet?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich beziehe mich auch nur zur Begründung der deutschen Auffassung darauf, daß dieses Gebiet gefährdet war, und diese Gefährdung, die effektive Gefährdung, scheint mir die einzig notwendige rechtliche Voraussetzung zu sein, um ein Operationsgebiet zu erklären.
VORSITZENDER: Wollen Sie damit sagen, daß eine Proklamation gültig wäre, wenn Deutschland den ganzen Atlantischen Ozean zum Operationsgebiet erklärt hätte?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich würde sagen, Herr Präsident, daß dies zu Beginn des Krieges nicht möglich gewesen wäre, weil die deutschen Streitkräfte damals ohne Zweifel nicht eine Gefährdung des gesamten Atlantiks für die gesamte atlantische Schiffahrt bewirkten. Ich bin aber der Auffassung, daß mit der Zunahme der U-Boote auf der einen Seite und mit der Zunahme der Abwehr durch die feindlichen Flugzeuge auf der anderen Seite das gefährdete Gebiet notwendig immer größer wurde und daß deshalb die Entwicklungen dieses Krieges auch ganz logisch dahin gingen, die Operationsgebiete allmählich zu erweitern.
VORSITZENDER: Wollen Sie damit sagen, daß Sie die Berechtigung eines Staates, eine Zone als Operationszone zu erklären, nicht auf die Fähigkeit des Staates gründen, seine Maßnahmen in dieser Zone durchzusetzen, sondern auf die mögliche Gefährdung in dieser Zone?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Jawohl.
VORSITZENDER: Sie sagen also, es hänge von der Möglichkeit einer Gefahr ab?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Jawohl; ich sage nicht die Möglichkeit einer Gefahr, Herr Präsident, sondern die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr und die Unmöglichkeit für die Kriegführenden, die Neutralen vor dieser Gefahr zu beschützen.
VORSITZENDER: Dann darf ich fragen: Welche sonstigen rechtlichen Grundlagen bestehen für die von Ihnen vorgetragene Theorie als die der Anwendung der Blockade?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich beziehe mich, als gesetzliche Grundlage, insbesondere auf die Praxis des ersten Weltkrieges, auf die Äußerungen der Wissenschaft nach dem ersten Weltkrieg und auf die allgemein anerkannten Regeln über die Minenwarngebiete. Die Minenwarngebiete haben sich ja tatsächlich in diesem Krieg als Operationsgebiete erwiesen, in denen mit allen Mitteln des Seekrieges warnungslos versenkt wurde. Ich komme darauf später noch zurück.
VORSITZENDER: Ich danke Ihnen.
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Das Tribunal hat bei der Vorlage der Dokumente alle diejenigen gestrichen, mit denen ich nachzuweisen gedachte, daß auch die britische Seekriegführung keine Rücksicht auf die Interessen der Neutralen nahm, wenn sie mit den eigenen im Widerspruch standen. Ich will auf die Einzelheiten dieser britischen Maßnahmen entsprechend dem Wunsche des Tribunals nicht eingehen und sie nur zusammenfassend insoweit erwähnen, als sie für die rechtliche Argumentation unentbehrlich sind. Es handelt sich im wesentlichen um folgende:
Erstens: Die britischen Banngutbestimmungen vom 3. September 1939, die durch Einführung der sogenannten »Hungerblockade« einen neutralen Handelsverkehr nach Deutschland praktisch verhinderten.
Zweitens: Die Verordnung über Banngutkontrollhäfen, mit der die neutralen Schiffe zu großen Umwegen mitten durch das Kriegsgebiet gezwungen wurden, und auf die ohne Zweifel eine Reihe von Verlusten an Schiffen und Besatzungen Neutraler zurückgeht.
Drittens: Die Verhängung einer Ausfuhrsperre gegen Deutschland am 27. November 1939, durch die den Neutralen der Import deutscher Waren abgeschnitten wurde.
Viertens: Die Einführung des Navicerts-Systems in Verbindung mit den Schwarzen Listen, die den gesamten neutralen Handel unter britische Aufsicht stellte und Schiffe, die sich diesem System nicht unterwarfen, der Beschlagnahme und Einziehung aussetzte.
Ich bin hier nicht mit der Frage befaßt, ob diese britischen Maßnahmen gegenüber den Neutralen völkerrechtlich zulässig waren oder nicht. Die Neutralen selbst hielten jedenfalls viele von ihnen für unzulässig, und es gab wohl keine, die nicht mehr oder weniger heftige Proteste auslöste, zum Beispiel von Spanien, den Niederlanden, Sowjetrußland und den USA. Die Britische Regierung hatte ihrerseits von vornherein einer richterlichen Nachprüfung ihrer Maßnahmen dadurch vorgebeugt, daß sie sich durch eine Note vom 7. September 1939 von der Fakultativklausel des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Haag lossagte. Dieser Schritt war ausdrücklich begründet mit der Notwendigkeit, die volle Handlungsfreiheit der britischen Flotte sicherzustellen.
Von britischer Seite wurde schon im ersten Weltkrieg und seither immer wieder betont, daß die britischen Maßnahmen wohl die Interessen und vielleicht auch die Rechte der Neutralen schädigten. Sie gefährdeten jedoch weder Schiffe noch Besatzungen und seien daher den unhumanen deutschen Maßnahmen moralisch überlegen. Zunächst gefährdete, wie erwähnt, der Zwang zum Anlaufen der Kontrollhäfen durchaus neutrale Schiffe und Besatzungen, und gerade aus diesem Grunde haben neutrale Staaten dagegen protestiert. Davon abgesehen scheint mir aber der tatsächliche Unterschied zwischen den britischen und deutschen Maßnahmen zur Blockierung des Gegners nicht auf Unterschieden in der Moral, sondern in der Seemacht zu beruhen. In den Seegebieten, in denen die britische Marine die Seeherrschaft nicht ausübte, nämlich im Vorfeld der von uns besetzten Küsten sowie in der Ostsee, wandte sie die gleiche Methode des Seekrieges an wie wir.
Die offizielle deutsche Auffassung ging jedenfalls dahin, daß die erwähnten britischen Kontrollmaßnahmen gegenüber den Neutralen unzulässig seien, und die Reichsregierung erhob gegen die neutralen Mächte den Vorwurf, daß sie zwar protestierten, sich aber tatsächlich den britischen Maßnahmen unterwürfen. Das ist klar ausgesprochen in der Proklamation anläßlich der Blockadeerklärung vom 17. August 1940. Für die deutsche Seekriegführung ergaben sich somit folgende Tatsachen:
Erstens: Einen legalen Handel der Neutralen mit den Britischen Inseln gab es nicht mehr. Auf Grund der deutschen Antworten auf die britischen Banngutbestimmungen und die britische Ausfuhrsperre war jeder Handel nach und von England Konterbandehandel, also völkerrechtlich illegal.
Zweitens: Die Neutralen unterwarfen sich praktisch allen britischen Maßnahmen, auch wenn diese ihren eigenen Interessen und ihren eigenen Rechtsauffassungen widersprachen.
Drittens: Die Neutralen unterstützten damit direkt die britische Kriegführung. Denn indem sie sich dem britischen Kontrollsystem im eigenen Lande fügten, ersparten sie der britischen Marine den Einsatz umfangreicher Seekräfte, die nach bisherigem Völkerrecht die Handelskontrolle auf See hätten ausüben müssen und nunmehr für andere Kriegsaufgaben zur Verfügung standen.
Als Folgerung daraus sah die Deutsche Regierung keinen Anlaß, bei der Unterbindung des illegalen Verkehrs nach den Britischen Inseln in der Festsetzung ihres Operationsgebietes die Rücksichten auf die Neutralen den eigenen militärischen Notwendigkeiten vorzuziehen. Das um so weniger, als die neutrale Schiffahrt, die entgegen allen Warnungen weiter nach England fuhr, sich dieses erhöhte Risiko schwer bezahlen ließ und daher trotz allen Gefahren in dem Handel mit England immer noch ein Geschäft erblickte.8
Dazu kam, daß die bedeutendsten Neutralen selbst Maßnahmen trafen, die man nur als völlige Neugestaltung des geltenden Seekriegsrechts ansehen kann. Alle amerikanischen Staaten gemeinsam verkündeten die panamerikanische Sicherheitszone, ein Gebiet längs der amerikanischen Küste bis zu einer Entfernung von etwa 300 Seemeilen. In diesem insgesamt mehrere Millionen Quadratmeilen umfassenden Seeraum verlangten sie von den Kriegführenden einen Verzicht auf die Ausübung derjenigen Rechte, die nach bisherigem Völkerrecht den kriegführenden Seestreitkräften gegenüber Neutralen zustanden. Auf der anderen Seite verbot, wie ich schon erwähnt habe, der amerikanische Präsident den eigenen Bürgern und den eigenen Schiffen am 4. November 1939 das Befahren eines Seegebietes vor den europäischen Küsten in einer Ausdehnung von etwa einer Million Quadratmeilen. Die seekriegsrechtliche Entwicklung drängte also, unter führender Beteiligung der Neutralen, zur Anerkennung von Großräumen, sei es zum Zwecke der Sicherung oder zu dem des Kampfes. Dabei wird in der Proklamation des amerikanischen Präsidenten ausdrücklich das von ihm gesperrte Seegebiet infolge der technischen Entwicklung als »durch Kampfhandlungen gefährdet« bezeichnet. Die Proklamation trug damit nur der modernen Waffenentwicklung Rechnung, der weitreichenden Küstenartillerie, die zum Beispiel den englischen Kanal mit Leichtigkeit überschoß, der Erfindung des Ortungsgerätes, das die Überwachung des Schiffsverkehrs von Land aus über Dutzende von Seemeilen ermöglichte, und insbesondere der gesteigerten Geschwindigkeit und Reichweite der Flugzeuge.
Die deutsche Seekriegführung zog aus dieser Entwicklung die gleichen Folgerungen wie die genannten Neutralen, daß nämlich in diesem Kriege Abwehr und Angriff notwendig große Seegebiete umfassen müßten. Es ist daher nicht Willkür, sondern Einfügung in ein auch von anderen Mächten als berechtigt anerkanntes System, wenn das deutsche Operationsgebiet den von der Anklage beanstandeten Umfang erhalten hat.
Um die Rechtmäßigkeit der deutschen Maßnahmen auch an der Praxis des Gegners nachzuprüfen, bitte ich das Tribunal, sich an die Seekarte mit den eingezeichneten britischen Warn- und Gefahrengebieten zu erinnern. Diese Gebiete umfassen etwa 120000 Quadratseemeilen. Wenn diese Ausdehnung auch geringer ist als die des deutschen Operationsgebietes, so scheint mir doch ein Unterschied zwischen 100000 und 600000 Quadratmeilen keine Frage der rechtlichen Beurteilung, sondern eher der Ausdehnung der Küsten und der seestrategischen Lage zu sein. Diese Betrachtung wird bestätigt durch die amerikanische Praxis gegenüber Japan, wie Admiral Nimitz sie bekundet hat. Er sagt:
»Im Interesse der Operationsleitung gegen Japan wurde das Gebiet des Pazifischen Ozeans zum Operationsgebiet erklärt.«
Dieses Operationsgebiet umschließt über 30 Millionen Quadratmeilen. In ihm wurden alle Schiffe, mit Ausnahme der eigenen und alliierten Sowie der Lazarettschiffe, warnungslos versenkt. Der Befehl dazu erging am ersten Tage des Krieges, dem 7. Dezember 1941, als der Chef der Marineleitung uneingeschränkten U-Bootkrieg gegen Japan anordnete.
Ob man diesen, am ersten Kriegstag ergangenen Befehl als Repressalie ansehen und rechtfertigen kann, habe ich nicht zu prüfen. Mir kommt es allein darauf an, die Praxis zu zeigen, und die ist eindeutig.
Einen besonderen Vorwurf leitet die Anklage her aus den Befehlen, innerhalb des Operationsgebietes warnungslose Angriffe möglichst ungesehen vorzunehmen, so daß Minentreffer vorgeschützt werden können. Derartige Befehle haben für die Zeit vom Januar bis August 1940 bestanden, also in dem Zeitraum, in dem für U-Boote das warnungslose Vorgehen nicht in dem gesamten Operationsgebiet vom 24. November 1939, sondern nur in den besonders festgelegten Zonen unter der englischen Küste freigegeben war. Die Anklage erblickt in dieser Tarnung den Beweis für ein schlechtes Gewissen und damit für das Bewußtsein des Unrechts. Die wirklichen Gründe für die befohlenen Maßnahmen waren doppelter Natur: militärische und politische. Für die beteiligten Admirale standen selbstverständlich die militärischen im Vordergrund, und dem Befehlshaber der U-Boote waren auch diese allein bekannt. Der Gegner sollte im unklaren gelassen werden, auf welchen Seekriegsmitteln seine Verluste beruhten, und seine Abwehr sollte dadurch irregeführt werden. Daß eine solche Irreführung des Gegners im Kriege vollauf berechtigt ist, versteht sich wohl von selbst. Die Maßnahmen hatten militärisch auch den gewünschten Erfolg, und in zahlreichen Fällen hat die britische Marine Minensuchverbände angesetzt, wo ein Schiff torpediert worden war, wie umgekehrt eine U-Bootjagd veranstaltet wurde, wo ein Verlust durch Minentreffer eingetreten war.
Für die oberste Führung waren jedoch wohl nicht diese militärischen, sondern die politischen Gründe entscheidend. Durch den ungesehenen Angriff sollte den Neutralen gegenüber die Möglichkeit geschaffen werden, eine Versenkung durch U-Boote abzuleugnen und sie auf Minen zurückzuführen. Das ist auch in einigen Fällen tatsächlich geschehen. Bedeutet das nun einen Beweis dafür, daß die deutsche Führung den warnungslosen Einsatz von U-Booten im Operationsgebiet selbst für rechtswidrig hielt?
Ich glaube nicht.
Angesichts der hier und bei anderen Gelegenheiten von der Anklage immer wieder aus der Tarnung von Maßnahmen oder Dementierung von Tatsachen hervorgeleiteten Vorwürfe muß ich wohl einiges sagen darüber, ob es in der internationalen Politik überhaupt eine Pflicht zur Wahrheit gibt. Mag das im Frieden sein, wie es will, im Kriege kann man jedenfalls eine Pflicht zur Wahrheit in einer Frage, die dem Gegner einen Vorteil verschafft, nicht anerkennen. Ich brauche da nur auf Hugo Grotius zu verweisen, ich zitiere:
»Man darf die Wahrheit weise verschleiern. Verheimlichung ist unbedingt notwendig und unvermeidlich.«9
Was hätte es nun für die Kriegslage bedeutet, wenn die Versenkung durch U-Boote in den hier behandelten Fällen nicht dementiert, sondern zugegeben worden wäre? Zunächst hätten wir einmal, da das auch dem Gegner bekanntgeworden wäre, den militärischen Vorteil eingebüßt, der in der Irreführung seiner Abwehr lag. Sodann hätten wir aber, und das ist nicht weniger wichtig, unserem Gegner unter Umständen Bundesgenossen, wenn nicht mit den Waffen, zum mindesten in der Propaganda zugeführt. Bei der starken Abhängigkeit einiger der betroffenen Neutralen von England hätten diese wahrscheinlich die deutsche Auffassung über die Rechtmäßigkeit der Operationsgebiete nicht anerkannt, zumal diese Auffassung ihren eigenen Interessen widersprach. Es wäre also zu politischen Spannungen, unter Umständen zum bewaffneten Konflikt gekommen. Den einzigen und unmittelbaren Vorteil davon hätten unsere Gegner gehabt. Unter diesen Umständen scheint mir das Bestreben, den U-Booteinsatz auch gegenüber den Neutralen zunächst zu tarnen, vom Standpunkt des Rechts aus nicht zu beanstanden zu sein.
Wenn die Anklage damit aber eine moralische Diffamierung beabsichtigt, so werden hier Maßstäbe angelegt, die für die Kriegführung und die Politik keines anderen Landes in der Welt bisher angelegt worden sind. Gerade im Seekriege sind die gleichen Methoden der Tarnung auch von der Gegenseite angewendet worden. Die Operationsgebiete, die Großbritannien vor den europäischen Küsten von Norwegen bis zur Biskaya erklärte, waren mit Ausnahme des Gebietes der Biskaya als Minenwarngebiete bezeichnet. Wir wissen aber aus der Erklärung Churchills vom Mai 1940 sowie aus den Zeugenaussagen, daß in diesen Gebieten uneingeschränkt mit Unterseebooten, Schnellbooten und vor allem mit der Luftwaffe angegriffen wurde. Sehr häufig wußte also weder die deutsche Führung, noch der von einem Angriff betroffene neutrale Staat, ob ein in einem solchen Gebiet eingetretener Verlust nun wirklich auf eine Mine oder auf ein anderes Mittel des Seekrieges zurückzuführen war. Der Schluß von der Tarnung einer Maßnahme auf ihre Unrechtmäßigkeit scheint mir somit völlig unbegründet.
Innerhalb des deutschen Operationsgebietes wurden grundsätzlich alle Schiffe warnungslos angegriffen. Es waren jedoch für bestimmte Neutrale Ausnahmen befohlen, zum Beispiel anfänglich für Japan, die Sowjetunion, Spanien und Italien. Die Anklage hat darin das Bestreben der Seekriegsleitung gesehen, die kleineren Neutralen zu terrorisieren, während man mit den großen nicht anzubinden wagte. Den wirklichen Grund für diese unterschiedliche Behandlung gibt der Vermerk über den Vortrag des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine beim Führer vom 16. Oktober 1939 in dem Dokument UK-65.
Danach werden die genannten neutralen Regierungen aufgefordert zu erklären, daß sie keine Bannware fahren werden, andernfalls werden sie wie andere neutrale Nationen behandelt. Die unterschiedliche Behandlung lag also einfach darin begründet, daß bestimmte Staaten willens und in der Lage waren, ihren Schiffen den Konterbandeverkehr nach England zu verbieten, während andere das nach ihrer politischen Haltung oder ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von England nicht tun konnten oder wollten. Es handelt sich mithin nicht um Terrorisierung kleiner und Schonung großer Neutraler, sondern um Unterbindung des Konterbande- und Schonung des legalen Handelsverkehrs. Da es keinen allgemeinen Rechtssatz gibt, der den Kriegführenden zur gleichmäßigen Behandlung aller Neutralen verpflichtet, dürfte das völkerrechtlich nicht zu beanstanden sein. Es wäre auch verwunderlich, wenn hier im Namen der Humanität die Forderung gestellt würde, daß die deutschen U-Boote auch solche Schiffe hätten versenken müssen, die sie gar nicht versenken wollten.
Aus den vorgelegten ständigen Kriegsbefehlen hat das Tribunal ersehen, daß im weiteren Verlauf des Krieges gerade auch die kleinen Mächte, die ja als einzige Neutrale blieben, auf Grund von Schiffahrtsabkommen das Operationsgebiet auf bestimmten Wegen durchqueren konnten, ohne dabei von deutschen U-Booten belästigt zu werden. Auf diese Weise haben zum Beispiel Schweden und die Schweiz, ebenso wie die Türkei ihren Seehandel während des ganzen Krieges durchführen können.
Außerhalb des bekanntgegebenen Operationsgebietes ist es den deutschen U-Booten niemals erlaubt gewesen, neutrale Schiffe anzugreifen. Hier wurde gegenüber Neutralen überhaupt auf jeden Handelskrieg durch U-Boote verzichtet, da ein Anhalten und Durchsuchen infolge der feindlichen Luftüberwachung für deutsche U-Boote zu gefährlich war. Dem Nachteil des U-Bootkrieges innerhalb des Operationsgebietes stand also außerhalb des Gebietes für die Neutralen der Vorteil gegenüber, daß sie völlig unbehelligt blieben, auch wenn sie Banngut fuhren und damit an sich der Versenkung nach Anhalten unterlagen. Außerhalb des Operationsgebietes war das neutrale Schiff also nur dann gefährdet, wenn es sich verdächtig oder feindselig benahm, oder wenn es nicht einwandfrei als neutral gekennzeichnet war. Und die deutsche Seekriegsleitung hat immer wieder die neutralen Mächte auf diese Notwendigkeit hingewiesen.
Ich muß in diesem Zusammenhang wohl den Befehl vom 18. Juli 1941 erwähnen, durch den die Schiffe der USA im Operationsgebiet den Schiffen aller anderen Neutralen gleichgestellt wurden, das heißt warnungslos angegriffen werden durften. Die Anklage hat ihn als besonderen Beweis dafür angesehen, daß der U-Bootkrieg gegen die Neutralen »zynisch und opportunistisch« geführt wurde. Wenn das bedeuten soll, daß er auch von politischen Erwägungen beeinflußt war, so gebe ich das gerne zu. Ich erblicke darin jedoch keinen Vorwurf; denn da der ganze Krieg ein Mittel der Politik ist, entspricht es nur seinem Wesen, wenn auch seine einzelnen Abschnitte unter der Herrschaft der Politik stehen. Ein Vorwurf kann insbesondere in den Befehlen der deutschen Führung über den U-Booteinsatz gegenüber den Vereinigten Staaten in keiner Weise erblickt werden, weil gerade sie ein Beweis für das Bestreben waren, mit den Vereinigten Staaten keinesfalls in Konflikt zu geraten.
Wie dem Tribunal aus den Dokumenten und Zeugenaussagen bekannt ist, waren in den ersten Kriegsjahren die Schiffe der Vereinigten Staaten von allen Seekriegsmaßnahmen ausgenommen, und zwar auch dann noch, als sie entgegen der ursprünglichen amerikanischen Gesetzgebung in die USA-Kampfzone und damit in das deutsche Operationsgebiet hineinfuhren, um Kriegsmaterial nach England zu bringen.
Diese Politik wurde erst dann geändert, als zu der Fülle der vorangegangenen unneutralen Handlungen der aktive Einsatz der amerikanischen Kriegsmarine zur Sicherung des britischen Nachschubes befohlen worden war.
Bekannt sind die damaligen Äußerungen des Präsidenten Roosevelt von der »Schiffsbrücke über den Atlantik« und von der Unterstützung Englands »mit allen Mitteln außer Krieg«. Es mag zweifelhaft sein, ob die damals für die USA-See- und Luftstreitkräfte befohlene »realistische Haltung«10 nicht bereits einen illegalen Krieg darstellte, wie gerade jetzt von amerikanischer Seite behauptet worden ist.11
Zumindest hatten die USA aber ihre Neutralität aufgegeben und die Stellung eines »Nicht-Kriegführenden« für sich in Anspruch genommen, die ebenfalls eine völkerrechtliche Neuerscheinung in diesem Kriege gewesen ist. Wenn man in diesem Zusammenhang den Vorwurf des Zynismus erheben will, so dürfte er sich kaum gegen die Befehle richten, mit denen die berechtigten Folgerungen aus der amerikanischen Haltung gezogen wurden.
Ich habe mich bemüht, dem Tribunal einen Überblick über die wesentlichen der ergangenen Befehle zu geben und einiges über ihre Rechtsgrundlagen zu sagen.
Nun kamen ohne Zweifel Fälle vor, in denen Schiffe angegriffen wurden, die nach den genannten Befehlen nicht hätten angegriffen werden dürfen. Es gilbt nur wenige derartige Fälle, und einige davon sind in diesem Verfahren zur Sprache gekommen. Der bekannteste betrifft die Versenkung des britischen Passagierdampfers »Athenia« am 3. September 1939 durch das von Kapitänleutnant Lemp geführte »U- 30«. Die Versenkung dieses Schiffes beruhte darauf, daß der Kommandant es irrtümlich für einen Hilfskreuzer hielt.
Wenn das Tribunal Bedenken hätte, in diesem kritischen und durch die Propaganda besonders ausgenutzten Punkt den übereinstimmenden Aussagen aller hier vernommenen Zeugen zu glauben, so müßten diese Bedenken ausgeräumt werden durch das Verhalten des gleichen Kommandanten in den der Versenkung folgenden Tagen und Wochen. Wie das Kriegstagebuch von »U-30« aus dieser Zeit ergibt, hat sich der Kapitänleutnant Lemp bei allen folgenden Aktionen genauestens an die Prisenordnung gehalten, und ich habe gerade aus seinem Kriegstagebuch einige Beispiele vorlegen können für faires und ritterliches Verhalten der deutschen Kommandanten in Fällen, in denen sie dadurch ihr U-Boot aufs stärkste gefährdeten.
Der ganze Sachverhalt betreffend die Versenkung der »Athenia« wurde dem Befehlshaber der U-Boote und dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine erst nach Rückkehr von »U-30« von seinen Operationen Ende September 1939 bekannt. Der Kommandant meldete sofort nach dem Einlaufen sein inzwischen von ihm selbst erkanntes Versehen dem Befehlshaber der U-Boote und wurde von diesem nach Berlin zur Berichterstattung gesandt.
Mit der politischen Entwicklung dieser Angelegenheit wird sich Dr. Siemers befassen. Ich erörtere hier nur, was militärisch geschah. Admiral Dönitz erhielt von der Seekriegsleitung die Mitteilung:
Erstens: Die politische Weiterverfolgung geschehe in Berlin.
Zweitens: Eine kriegsgerichtliche Untersuchung sei nicht erforderlich, da der Kommandant in gutem Glauben gehandelt habe.
Drittens: Der ganze Vorfall sei unbedingt geheimzuhalten.
Auf Grund dieser Weisung ordnete der Befehlshaber der U-Boote an, den Bericht über die Versenkung der »Athenia« aus dem Kriegstagebuch von »U-30« zu entfernen und das Kriegstagebuch so zu ergänzen, daß das Fehlen der Eintragung nicht auffalle.
Wie das Tribunal gesehen hat, war die Ausführung dieses Befehls recht unvollkommen, offensichtlich, weil der damit befaßte Offizier keinerlei Übung in derartigen Maßnahmen hatte.
Die Anklage hat die Änderung des Kriegstagebuches als einen besonders verbrecherischen Akt der Fälschung hingestellt. Das scheint mir auf einer Verkennung der Sachlage zu beruhen. Das Kriegstagebuch ist nichts weiter als ein militärischer Bericht des Kommandanten an seine vorgesetzten Dienststellen. Welche Ereignisse in einen derartigen Bericht aufzunehmen sind und welche nicht, darüber gibt es weder rechtliche noch moralische Grundsätze; das ist allein eine Frage der militärischen Anordnung. Das Kriegstagebuch war zwar geheim, aber es war – wie viele Geheimsachen – trotzdem einem sehr großen Kreise zugänglich. Das ergab sich schon daraus, daß es in acht Ausfertigungen hergestellt wurde, von denen einige nicht an höhere Stäbe, sondern an Schulen und Ausbildungsflottillen gingen. Wenn also ein Ereignis auf einen kleinsten Mitwisserkreis beschränkt werden sollte, dann durfte im Kriegstagebuch nicht darüber berichtet werden. Da das Kriegstagebuch fortlaufend geführt ist, mußte der fehlende Zeitraum notwendig mit einer anderen, also unrichtigen Eintragung überbrückt werden. Ich sehe in einer solchen Maßnahme nichts Unmoralisches, geschweige denn Rechtswidriges. Solange es eine Geheimhaltung im Kriege gibt – und die gibt es wohl in allen Ländern –, beruht sie eben darin, daß man nicht allen Leuten alle Tatsachen mitteilen kann und zu diesem Zwecke manchmal auch unrichtige Behauptungen aufstellen muß. Einen gewissen moralischen Vorwurf könnte man im Falle der »Athenia« in einem solchen Verfahren vielleicht dann erblicken, wenn damit für alle Zeiten eine Geschichtsfälschung beabsichtigt gewesen wäre. Das war aber keineswegs der Fall. Der Bericht des Kommandanten über die Versenkung der »Athenia« wurde selbstverständlich den unmittelbaren Vorgesetzten, dem Befehlshaber der U-Boote und dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine in unveränderter Form vorgelegt und bei beiden Stellen verwahrt.
Mit einem Wort möchte ich noch erwähnen, daß es einen allgemeinen Befehl, bestimmte Ereignisse nicht im Kriegstagebuch einzutragen, nie gegeben hat.
Der »Athenia«-Fall zeigt noch ein Weiteres; wie nämlich die Einhaltung der erteilten Befehle durch die U-Bootkommandanten auch durchgesetzt wurde. Trotz der berechtigten Auffassung der Seekriegsleitung, daß der Kommandant im guten Glauben gehandelt habe, wurde er von Admiral Dönitz mit Arrest bestraft, weil er bei größerer Sorgfalt doch vielleicht hätte erkennen können, daß es sich nicht um einen Hilfskreuzer handelte. Auch in anderen Fällen der irrtümlichen Überschreitung der Befehle sind Bestrafungen erfolgt.
Dem Tribunal sind die Funksprüche vom September 1942 bekannt, durch die anläßlich der Versenkung der »Monte Gorbea« dem Kommandanten angekündigt wird, daß er nach Rückkehr vor ein Kriegsgericht gestellt werde wegen Verletzung der Befehle über das Verhalten gegenüber Neutralen. Alle Kommandanten erhielten von dieser Maßnahme Nachricht.
Ich bitte das Tribunal zu berücksichtigen, was derartig strenge Androhungen für einen in See befindlichen Kommandanten bedeuten. Wenn man die Richtlinien des amerikanischen Handbuchs für die Kriegsgerichte zugrunde legt, dann sollten kriegsgerichtliche Verfahren gegen Offiziere nur in solchen Fällen eingeleitet werden, in denen eine Entfernung aus dem Dienst geboten scheint.12 Das dürfte bei der versehentlichen Verletzung eines Befehls niemals der Fall sein. Es ist für einen Befehlshaber, der ja mit seinen Soldaten Krieg führen und Erfolge erringen soll, auch außerordentlich schwer und unter Umständen geradezu ein Fehler, einen von einer erfolgreichen Operation zurückkehrenden Kommandanten wegen eines dabei vorgekommenen Versagers vor ein Kriegsgericht zu stellen.
Nach diesen Grundsätzen handelt jede militärische Führung. Ich verweise dazu auf die uneingeschränkte Anerkennung, die der Kommandant des britischen Zerstörers »Cossak« für die Befreiung der Gefangenen von der »Altmark« erhalten hat, trotz der sicher auch von britischer Seite bedauerten Zwischenfälle, die sich dabei ereignet haben.
Ich mußte auf diese Dinge eingehen, um dem Vorwurf zu begegnen, daß etwa irgendeine befehlswidrige Versenkung von der Führung nachträglich dadurch genehmigt wurde, daß nicht drastische Schritte gegen den Kommandanten unternommen wurden. Die Einhaltung der gegebenen Befehle wurde gerade im Bereich der U-Bootwaffe durch die ständige persönliche Verbindung der Kommandanten mit ihrem Befehlshaber gesichert. Über jedes Feindunternehmen mußte nach Abschluß mündlich berichtet werden, und alle getroffenen Maßnahmen unterlagen einer scharfen Kritik, zugleich mit vorbeugenden Belehrungen für künftiges Verhalten.
Die deutschen U-Boote haben in diesem Kriege viele Tausende von Kampfhandlungen vorgenommen. Nur in ganz seltenen Fällen sind dabei die ergangenen Befehle verletzt worden. Wenn man bedenkt, wie schwer es für ein Unterseeboot ist, seinen genauen Schiffsort und die Grenzen eines Operationsgebietes festzustellen, ein bewaffnetes von einem unbewaffneten, einen Passagierdampfer von einem Truppentransporter, ein neutrales von einem feindlichen Schiff zu unterscheiden, so muß die geringe Zahl auch nach deutscher Auffassung unberechtigter Versenkungen als ein Beweis für eine besonders wirksame und gewissenhafte Führung angesehen werden.
Nachdem ich so den tatsächlichen Entwicklungsgang des deutschen U-Bootkrieges erörtert habe, muß ich noch auf die Vorwürfe eingehen, die von der Anklage aus einigen vorbereitenden Überlegungen über die Gestaltung des U-Bootkrieges hergeleitet werden.
Gleichzeitig mit der Kampfanweisung vom 3. September 1939, in der den U-Booten Krieg streng nach Prisenordnung befohlen worden war, war in der Seekriegsleitung ein Befehl vorbereitet worden zum warnungslosen Vorgehen für den Fall der Bewaffnung der feindlichen Handelsschiffe.
Ferner fand in den gleichen ersten Tagen des Krieges ein Schriftwechsel mit dem Auswärtigen Amt über die Erklärung von Sperrgebieten statt.
Die Anklage betrachtet diese beiden Dokumente als einen Beweis für den Willen, von vornherein einen Krieg gegen das Völkerrecht zu führen. Ich betrachte gerade diese Dokumente als einen Beweis dafür, daß die Seekriegsleitung auf einen Krieg mit England völlig unvorbereitet war und erst nach der britischen Kriegserklärung anfing, die primitivsten Erwägungen darüber anzustellen, wie ein derartiger Krieg durchzuführen sei. Da weder das warnungslose Vorgehen gegen bewaffnete Handelsschiffe noch die Verkündung von Sperrgebieten gegen das Völkerrecht verstoßen, muß einem Kriegführenden ja wohl auch gestattet sein, nach Kriegsausbruch einmal die Frage zu studieren, ob und wann er von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen will. Wie wir aus den erwähnten Befehlen der britischen Admiralität wissen, waren dort alle sich aus dem Handelskrieg ergebenden Möglichkeiten bereits im Jahre 1938 eingehend studiert und praktisch vorbereitet.
Dieselbe Beurteilung gilt auch für die von der Anklage mehrfach zitierte Denkschrift der Seekriegsleitung vom 15. Oktober 1939. Sie ist schon durch ihre Überschrift als eine Studie gekennzeichnet: »Möglichkeiten zur Verschärfung des Seekrieges«. Entsprechend dieser Überschrift werden in der Denkschrift die militärischen Forderungen für einen wirksamen Seekrieg gegen England geprüft und die rechtlichen Möglichkeiten, diese Forderung zu erfüllen. Das Ergebnis ist der Befehl vom 17. Oktober 1939 zum sofortigen Waffeneinsatz gegen alle feindlichen Handelsschiffe, dessen Berechtigung sich, wie dargelegt, aus deren Bewaffnung und Eingliederung in das militärische System ergab. Darüber hinaus werden Verschärfungen zur Zeit als noch nicht berechtigt angesehen und vorgeschlagen, zunächst das weitere Verhalten des Gegners abzuwarten.
Ein Satz in dieser Denkschrift erweckt nun das besondere Mißtrauen der Anklage. Es heißt dort nämlich, der Seekrieg müsse sich grundsätzlich im Rahmen des geltenden Völkerrechts halten, es müßten jedoch Maßnahmen, die kriegsentscheidende Erfolge erwarten ließen, auch dann getroffen werden, wenn damit neues Seekriegsrecht geschaffen werde.
Liegt darin wirklich eine Absage an das Völkerrecht? Im Gegenteil. Eine Abweichung vom geltenden Völkerrecht wird von zwei ganz engen Voraussetzungen abhängig gemacht:
Erstens: einer militärischen, daß es sich nämlich um Maßnahmen von kriegsentscheidender, das heißt, auch kriegsverkürzender Bedeutung handelt.13
Zweitens: einer moralischen, daß nämlich die neue Maßnahme ihrem Wesen nach geeignet ist, den Bestandteil eines neuen Rechts zu bilden.
Die Denkschrift sagt selbst, daß dies nur im Rahmen der Gebote soldatischer Kampfsittlichkeit möglich ist, und die Einhaltung dieser Kampfsittlichkeit wird daher strikt und ausnahmslos gefordert. Unter diesen Voraussetzungen kann an der Möglichkeit zu völkerrechtlichen Neubildungen kaum ein Zweifel bestehen.
Wie der bekannte Völkerrechtler Freiherr von Freytagh-Loringhoven sich ausdrückt, ist es – ich zitiere:
»... zu allen Zeiten der Krieg gewesen, aus dem das Völkerrecht die stärksten Impulse empfing. Sie waren bald positiver, bald negativer Art, führten zur Fortentwicklung schon bestehender Institute und Normen und zu Neubildungen oder zu Rückbildungen, nicht selten allerdings auch zu Mißbildungen.«14
Gerade in diesem Verfahren, das selbst der Entwicklung neuen Völkerrechts dienen soll, kann die Möglichkeit einer solchen Entwicklung nicht verneint werden.
VORSITZENDER: Dr. Kranzbühler! Wir vertagen uns.