[Das Gericht vertagt sich bis
29. Juli 1946, 10.00 Uhr.]
Einhundertzweiundachtzigster Tag.
Freitag, 19. Juli 1946.
Vormittagssitzung.
PROFESSOR DR. FRANZ EXNER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN JODL: Herr Präsident, meine Herren Richter!
Ich setze mit der Verlesung meines Exposés fort. Ich erinnere daran, daß ich gestern gezeigt habe, daß Jodl jedenfalls nicht bis zum Jahre 1939 Mitglied einer Verschwörung gewesen sein kann. Verzeihung, Seite 8.
Aber vielleicht wird behauptet, Jodl sei erst nach 1939 der Conspiracy beigetreten.
Wie einer meiner Vorredner bereits dargetan hat, kann ein Offizier, der an der ihm zugewiesenen Stelle an der Durchführung eines Kriegsplanes mitwirkt, nie als Verschwörer betrachtet werden. Er hat zwar einen Plan, der ihm mit seinem Oberhaupt gemein ist, aber er hat ihn nicht freiwillig zu dem seinigen gemacht, er hat kein »agreement« abgeschlossen, sondern: Innerhalb der normalen Dienstordnung tut er einfach das, was der Posten, auf dem er steht, verlangt.
Gerade Jodl kann dafür als ein charakteristisches Beispiel betrachtet werden. Er geht nicht auf Grund freier Entscheidung nach Berlin. Daß er im Kriegsfall in den Stab des Führers einzutreten habe, stand längst fest. Das bestimmte die Ordnung, die für das laufende Mobilmachungsjahr getroffen war. Dieses Mobilmachungsjahr ging mit dem 30. September 1939 zu Ende, für das folgende Jahr war bereits General von Sodenstern als Chef des Wehrmachtführungsstabes bestimmt. Wäre also der Krieg sechs Wochen später ausgebrochen, wäre Jodl als Kommandeur seiner Gebirgsdivision in den Krieg gezogen. Er würde dann aller Wahrscheinlichkeit nach heute nicht auf dieser Anklagebank sitzen. Man erkennt: Seine gesamte Tätigkeit im Krieg ist durch eine Regelung bestimmt, die von seinem Willen unabhängig und im voraus längst festgelegt gewesen ist. Diese Tatsache ist meines Erachtens allein schon ein schlagender Beweis gegen seine Teilnahme an einer Verschwörung zur Führung von Angriffskriegen.
Als Jodl am 23. August 1939 in Berlin eintraf, war der Kriegsbeginn auf den 25. August festgesetzt. Aus ihm unbekannten Gründen wurde er sodann noch sechs Tage aufgeschoben. Der Plan für den Feldzug lag fertig vor; ihn herzustellen, brauchte er nicht zu konspirieren. Wenn es damals eine Verschwörung gegen Polen gab, so saßen, wie wir jetzt aus dem deutsch-russischen Geheimvertrag wissen, die Mitverschwörer ganz wo anders.
Dem Führer wurde Jodl erst am 3. September 1939 vorgestellt, also erst nach Kriegsbeginn, zu einer Zeit, in der das Entscheidende bereits entschieden war.
Von nun an führte ihn seine Dienststellung in die Nähe Adolf Hitlers. Freilich muß man beifügen: Nur in seine räumliche Nähe. Wirklich nahegestanden ist er ihm nie. Er lernte Hitlers Pläne und Absichten auch jetzt nicht kennen und wurde jeweils nur so weit in sie eingeweiht, als seine Arbeit es unbedingt erforderte. Jodl wurde nie Vertrauter Hitlers und kam nie in innerliche Beziehung zu ihm. Es blieb ein rein dienstliches Verhältnis und oft genug ein Konfliktverhältnis.
Auch sonst war Jodl der Partei fremd geblieben. Keine Rede davon, daß er etwa in Wien Berührung mit den dortigen Parteiführern gesucht hätte, obgleich das nahe genug gelegen gewesen wäre.
Die meisten Parteiführer und die meisten der Angeklagten lernte er erst bei ihren gelegentlichen Besuchen im Führerhauptquartier kennen. Mit Ausnahme der Offiziere blieb er ohne Beziehung zu ihnen. Die Parteiclique im Hauptquartier war ihm ein Greuel und ein unerfreulicher Fremdkörper im Rahmen des Militärischen. Gegen die Parteieinflüsse in der Wehrmacht hat er zu kämpfen nie aufgehört.
Parteiveranstaltungen hat er auch jetzt nicht mitgemacht. An Reichsparteitagen hat er nicht teilgenommen, abgesehen davon, daß er dort einmal – dienstlich befohlen – die Vorführungen der Wehrmacht mit angesehen hat. Die Münchener Gedenktage am 9. November hat er nie mitgemacht.
Nun hat der Ankläger immer wieder seine Gauleiterrede herangezogen, um zu beweisen, daß Jodl sich trotz alledem mit der Partei und ihren Bestrebungen identifiziert habe, daß er doch nicht nur Soldat, sondern am Politiker war, daß er ein enthusiastischer Anhänger Hitlers gewesen ist.
Da ist zunächst festzustellen: Das Dokument L-172, das uns als diese Gauleiterrede vorgelegt wird, ist nicht das Manuskript dieser Rede, sondern eine von seinem Stab zusammengestellte Materialsammlung, auf deren Grundlage Jodl erst sein Manuskript verfaßte. Überdies wurde die Rede frei gehalten; bei keinem Wort dieses Dokuments ist erwiesen, daß Jodl es wirklich gesprochen hat.
Ferner muß der Anlaß der Rede in Rücksicht gezogen werden. Nach vier harten Kriegsjahren, nach dem eben erfolgten Abfall Italiens und vor der neuerlichen ungeheuren Belastung, welche Hitler als letzte äußerste Anstrengung der Bevölkerung auferlegen wollte, in diesem kritischen Moment hing alles davon ab, daß der Wille des Volkes zu weiterem Durchhalten aufrecht blieb. Daher versuchte die Partei eine fachmännische Information über die Kriegslage zu bekommen, um den sinkenden Mut wieder stärken zu können. Für diese Aufgabe bestimmte der Führer den Generaloberst Jodl. Herr Präsident, ich befinde mich auf Seite 13. Jodl war dafür zweifellos die allein zuständige Persönlichkeit. Mancher hätte diese Gelegenheit begrüßt, sich bei den Parteiführern beliebt zu machen. Aber Jodl übernahm die Aufgabe contre cœur, gegen seinen Willen. Der Titel des Vortrags lautet:
»Die militärische Lage am Anfang des 5. Kriegsjahres.« Sein Inhalt ist eine rein militärische Darstellung der Kriegslage an den verschiedenen Fronten und wie es zu ihr gekommen war. Anfang und Ende bringen, nach dem vorliegenden Dokument wenigstens, ein Loblied auf den Führer, aus dem die Ankläger bedenkliche Schlüsse ziehen. Allein, wenn ein Redner vor allem zuerst einmal das Vertrauen seiner Hörerschaft, dieser aus Parteiführern bestehenden Hörerschaft, gewinnen muß, und seine Aufgabe ist, Zuversicht zu verbreiten in die höchste militärische Führung, sind derartige rhetorische Floskeln etwas ziemlich Selbstverständliches.
Übrigens bestreitet Jodl ja nicht, manche Eigenschaften und Fähigkeiten des Führers aufrichtig bewundert zu haben. Nur sein Vertrauter war er nie, nie sein Mitverschwörer, und er ist auch im Oberkommando der Wehrmacht der unpolitische Mensch geblieben, der er immer war.
Jodl war also nicht Glied einer Verschwörung, und kein Conspiracy-Begriff kann helfen, ihn verantwortlich zu machen für Handlungen, die er nicht selbst schuldhaft begangen hat.
Ich wende mich nun diesen einzelnen Handlungen zu, die Jodl zum Vorwurf gemacht werden.
Nach Artikel 6 der Charte ist das Gericht zuständig für gewisse Verbrechen gegen den Frieden, gegen Kriegsrecht, gegen die Menschlichkeit, die in der Charte aufgezählt sind und für die man individuelle strafrechtliche Haftbarkeit der schuldigen Einzelpersonen festgesetzt hat. Wenn wir zunächst absehen von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für die etwas Besonderes gilt, sind es zwei Voraussetzungen, unter denen eine individuelle Bestrafung der Angeklagten stattfinden kann:
Erstens: Es muß eine Völkerrechtswidrigkeit vorliegen, an der sie sich irgendwie mitschuldig gemacht haben. Der Sinn dieses ganzen Prozesses und der Sinn der Charte liegt ja darin, daß die Normen des Völkerrechts durch strafrechtliche Sanktionen in ihrer Kraft verstärkt werden sollen. Wenn also eine Völkerrechtswidrigkeit bestimmter Art begangen wird, soll nicht nur, wie bisher, die Haftung des rechtsverletzenden Staates eintreten, sondern darüber hinaus sollen künftig schuldige Einzelpersonen dafür bestraft werden.
Daraus folgt: Ohne Völkerrechtswidrigkeit keine Strafe.
Zweitens: Aber nicht für alle Völkerrechtswidrigkeiten ist eine derartige Haftung von Einzelpersonen vorgesehen, sondern nur für die im Statut ausdrücklich genannten. Artikel 6 a nennt die Verbrechen gegen den Frieden, Artikel 6 b Verbrechen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges. Andere Taten, mögen sie auch völkerrechtswidrig sein, gehören nicht hierher.
Es wäre uns mancher Verhandlungstag erspart geblieben, wenn die Anklagebehörde diese zwei Punkte von Anfang an berücksichtigt hätte. Denn, wie noch zu erweisen ist, zeigt sich die Tendenz, über diese Grenzen hinaus die Angeklagten auch für Völkerrechtswidrigkeiten, die nicht in der Charte genannt sind, in Anspruch zu nehmen; aber damit nicht genug: Auch für Taten, die überhaupt nicht rechtswidrig sind, sondern allenfalls als unmoralisch gelten können, sollen sie zur Verantwortung gezogen werden.
Ich halte mich in folgendem an die klare Disposition des anglo-amerikanischen Trial-Briefes und füge hinzu, was noch von den beiden anderen Anklägern gegen Jodl vorgebracht worden ist.
Punkt 1: Die Mithilfe zur Ergreifung und Konsolidierung der Macht seitens der Nationalsozialisten ist, wie schon hervorgehoben, fallen gelassen.
Punkt 2 und 3 betrifft Aufrüstung und Rheinlandbesetzung.
Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und mit der Aufrüstung hatte Jodl nichts zu tun.
Jodls Tagebuch enthält kein Wort über Aufrüstung. Er war Mitglied des Reichsverteidigungsausschusses, der aber mit Aufrüstungsfragen nicht befaßt war.
Er beschäftigte sich hier mit den Maßnahmen, welche die Zivilbehörden für den Mobilmachungsfall zu ergreifen hatten. Darin lag nichts Rechtswidriges. Eine Mobilmachung, zum Beispiel im Falle eines feindlichen Angriffs, war uns nicht versagt. Die Vorbereitungen in der entmilitarisierten Zone, die Jodl dem Ausschuß vorschlug, beschränkten sich ebenfalls auf die Zivilbehörden und bestanden ausschließlich darin, eine Räumung des westrheinischen Gebietes vorzubereiten, um im Falle einer französischen Besetzung die Rheinlinie zu verteidigen. Diese Arbeiten waren rein defensiv. Wenn Jodl trotzdem strengste Geheimhaltung dieser defensiven Maßnahmen empfahl, zeugt das doch nicht von verbrecherischen Plänen, sondern war eine Selbstverständlichkeit. In der Tat war besondere Vorsicht nötig, denn die französische Ruhrbesetzung stand ja noch in frischer Erinnerung.
Auch mit der Rheinlandbesetzung hatte Jodl nichts zu tun, er erfuhr erst fünf Tage vor der Ausführung von diesem Beschluß des Führers.
Weitere Ausführungen meinerseits sind überflüssig, denn nach der Charte gehört weder die Aufrüstung noch die Rheinlandbesetzung, mögen sie auch völkerrechtswidrig gewesen, sein, zu den Straftaten des Artikels 6:
Nur wenn man darin eine Vorbereitung eines Angriffskrieges zu erblicken hätte, fielen diese Fälle unter die Charte. Allein wer hätte in jener Zeit an einen Angriffskrieg gedacht? Wir konnten 1938 mangels ausgebildeter Mannschaften nicht den sechsten Teil der Divisionen ins Feld stellen wie unsere vermutlichen Gegner: Frankreich, die Tschechoslowakei und Polen. Die erste Stufe der Aufrüstung sollte 1942 erreicht, der Westwall 1952 fertig werden, schwere Artillerie fehlte ganz, die Panzer waren in der Erprobung, die Munitionslage war katastrophal.
1937 hatten wir kein einziges Schlachtschiff, noch 1939 nicht mehr als 26 ozeanfahrende U-Boote, das war weniger als ein Zehntel der englischen und französischen. An Kriegsplänen existierte nur ein Grenzschutzplan gegen den Osten. Sehr charakteristisch ist die Darstellung unserer Lage im Reichsverteidigungsausschuß: Als ganz selbstverständlich wurde gesagt, daß ein künftiger Krieg im eigenen Land sich abspielen würde, also nur ein Defensivkrieg sein könne. Dies war, wohlgemerkt, eine Äußerung in einer geheimer Sitzung jenes Ausschusses. Die Eventualität einer Offensivaktion wurde gar nicht erwähnt. Aber auch zu ernster Defensive waren wir damals nicht fähig. Darum kamen sich die Generale schon bei der Rheinlandbesetzung als Vabanquespieler vor. Daß aber jemand von ihnen utopisch genug gewesen wäre, an eine Offensive zu denken, dafür liegt nicht der Schein eines Nachweises vor.
Als Punkt 4 bis 6 nennt der Trial-Brief: Teilnahme an der Planung und Ausführung des Angriffs auf Österreich und die Tschechoslowakei.
Einen Aufmarschplan gegen Österreich gab es überhaupt nicht. Die Ankläger haben das Dokument C-175 als solchen angeführt. Allein das ist ein Mißverständnis. Es ist dies ein Programm für die Ausarbeitung der verschiedensten Kriegspläne, also zum Beispiel für einen Krieg gegen England, gegen Litauen, gegen Spanien und so weiter. Unter diesen theoretischen Kriegsmöglichkeiten wird auch der Fall »Otto« erwähnt, das heißt eine Intervention in Österreich im Falle eines Restaurationsversuches der Habsburger. Dieser Fall sei zwar nicht auszuarbeiten, sondern lediglich zu »durchdenken«, so heißt es in dem Dokument. Allein da keinerlei Anzeichen für einen derartigen Versuch der Habsburger vorhanden waren, wurde hierfür überhaupt nichts vorgearbeitet.
Die Sitzung am 12. Februar 1938 am Obersalzberg hat Jodl nicht mitgemacht. Zwei Tage nachher wurde befohlen, gewisse Täuschungsmanöver vorzuschlagen, offenbar um einen Druck auf Schuschnigg auszuüben, sich an die Obersalzberger Abmachungen zu halten. Darin liegt nichts Rechtswidriges, wenn auch der Ankläger von »verbrecherischen Methoden« spricht. Vom Einmarschbeschluß des Führers wurde Jodl zwei Tage vor dessen Durchführung völlig überrascht. Diesen Einmarschbefehl gab der Führer telephonisch. Jodls schriftlicher Befehl diente nur dazu, ihn aktenkundig zu machen. Wäre dies erst der maßgebende Befehl gewesen, wäre er ja viel zu spät gekommen. Er wurde am 11. März um 9.00 Uhr abends ausgegeben, der Einmarsch fand am nächsten Morgen statt. Sein Verlauf wurde uns hier geschildert. Die Truppe war rein friedensmäßig ausgerüstet. Die Österreicher kamen ihr über die Grenze zur Begrüßung entgegen. Österreichische Truppen fügten sich in den Zug ein und machten den Marsch nach Wien mit. Es war ein Triumphzug mit Jubel und Blumen.
Es folgt der Fall Tschechoslowakei.
Noch im Frühjahr 1938 erklärte Hitler, er beabsichtige nicht, »die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit anzugreifen«. Nach der unprovozierten tschechischen Mobilisierung änderte er diesen Standpunkt und beschloß, ab 1. Oktober 1938 – also nicht am 1. Oktober 1938 – die tschechische Frage zu lösen, wofern ein Eingreifen der Westmächte nicht zu erwarten sei. Jodl hatte daher die generalstabsmäßigen Vorbereitungen zu treffen. Er tut es in der Überzeugung, daß seine Arbeit Theorie bleiben würde, denn da der Führer einen Konflikt mit dem Westen unter allen Umständen vermeiden wollte, waren friedliche Vereinbarungen zu erwarten. Jodl bemühte sich nur darum, daß nicht durch eine tschechische Provokation dieser Plan gestört würde. In der Tat ist es so, wie erwartet, gekommen. Nachdem die Untersuchung durch Lord Runciman die Unhaltbarkeit der nationalen Verhältnisse in der Tschechoslowakei und die Berechtigung des deutschen Standpunktes dargetan hatte, kam es zum Münchener Abkommen mit den Großmächten.
Jodl wird nun der Vorwurf gemacht, daß er in einer Vortragsnotiz vorgeschlagen hat, eventuell einen Zwischenfall als Anlaß des Einmarsches »organisieren« zu lassen; die Gründe dafür hat er uns hier dargetan. Es ist jedoch nicht zu einem Zwischenfall gekommen.
Ein Völkerrechtsbruch ist diese Vortragsnotiz schon darum nicht, weil es sich um interne Erwägungen handelt, die nach außen nie Bedeutung erlangt haben. Aber selbst wenn es zur Ausführung der Idee gekommen wäre, so sind doch derlei Listen immer üblich gewesen, seit die Griechen ihr trojanisches Pferd gebaut haben. Odysseus, der Urheber dieses Gedankens, ist deshalb vom antiken Dichter als der »Listenreiche« gepriesen, nicht aber als »verbrecherisch« gebrandmarkt worden. Ich sehe in Jodls Verhalten auch nichts Unmoralisches, schließlich gelten im Verkehr der Staaten doch etwas andere Moralgrundsätze als in Erziehungsinstituten für christliche junge Mädchen.
Die Besetzung des Sudetenlandes selbst ist ebenso friedlich verlaufen wie die Österreichs. Von der befreiten Bevölkerung auf das herzlichste begrüßt, marschierten die Truppen in das deutsche Gebiet ein, das das tschechische Militär bis zur verabredeten Linie geräumt hatte.
Diese beiden Einmärsche sind keine nach der Charte strafbaren Taten. Das waren keine Angriffe, dazu gehört Gewaltanwendung, noch weniger Kriege, dazu gehört Waffenkampf, geschweige denn Angriffskriege. Derartige friedliche Invasionen als »Angriffskriege« zu betrachten, ginge noch über die berüchtigten Analogieschlüsse der nationalsozialistischen Strafgesetzgebung hinaus. Die vier Signatarstaaten hätten ja diese Invasionen, die noch in frischer Erinnerung waren, in den Artikel 6 mit aufnehmen können, allein man tat es nicht, man wollte eben offenbar die völlig neuartige Bestrafung von Einzelpersonen auf Kriege beschränken, nicht aber auf derartige unkriegerische Aktionen. Ganz allgemein muß man ja sagen: Jede extensive Auslegung der Strafbestimmungen der Charte ist unzulässig. Es gilt der alte Satz: »Privilegia stricte interpretenda sunt.« Hier liegt nun ein Privilegium odiosum vor. Ja, es hat wohl kaum je ein sinnfälligeres Beispiel eines Privilegium odiosum gegeben als die Strafverfolgung einseitig nur von Angehörigen der Achsenmächte.
Man könnte nun noch auf den Gedanken kommen, Jodl dafür verantwortlich zu machen, daß er einen Aufmarschplan gegen die Tschechoslowakei zu einer Zeit entworfen hat, in der der friedliche Ablauf noch nicht gesichert war.
Allein Jodl hat mit einer friedlichen Lösung gerechnet und sie mit guten Gründen erwartet. Es fehlte ihm also die Absicht, einen Angriffskrieg vorzubereiten.
Zu dieser tatsächlichen Feststellung, welche die Schuldfrage ausschließt, kommt eine juristische Erwägung: Wir haben festgestellt, und darüber dürfte kein Zweifel sein: Keine Strafe für Verbrecher gegen den Frieden ohne Völkerrechtswidrigkeit. Wenn nun die Charte Vorbereitung des Angriffskrieges unter Strafe stellt, so meint sie offenbar: Wer einen stattgefundenen Angriffskrieg vorbereitet, solle bestraft werden. Kriegspläne dagegen, die Pläne bleiben, gehören nicht hierher. Sie sind nicht völkerrechtswidrig. Das Völkerrecht kümmert sich nicht um das, was in den Köpfen und Büros geschieht. Was international bedeutungslos ist, widerspricht nicht dem internationalen Recht. Angriffspläne, die unausgeführt blieben, ebenso die Angriffsabsichten, mögen unmoralisch sein, rechtswidrig sind sie nicht und fallen nicht unter die Charte.
Hier nun handelt es sich um unausgeführte Pläne, denn die auf internationaler Vereinbarung beruhende friedliche Besetzung des Sudetenlandes war kein Angriffskrieg, und die übrigens ebenfalls widerstandslos und ohne Krieg erfolgte Besetzung des restlichen Landes hing mit Jodls Plänen nicht mehr zusammen.
Diese Besetzung des restlichen tschechoslowakischen Gebietes im März 1939 braucht hier nicht näher besprochen werden, denn Jodl war damals in Wien und an dieser Aktion unbeteiligt. Er hatte auch mit ihrer Planung nichts zu tun, denn sie steht mit Jodls seinerzeitigen Generalstabsarbeiten in keinerlei Zusammenhang. Seither hatte sich ja die militärische Lage völlig geändert: Das Sudetenland mit seinen Grenzbefestigungen war jetzt in deutschem Besitz. Der kampflose Einmarsch, der nun stattfand, geschah daher nach ganz anderen Plänen, sofern solche überhaupt vorhanden waren. An diesem Einmarsch selbst nahm Jodl nicht teil.
Punkt 7 des Trial-Briefes betrifft Kriegsplanung gegen Polen: Hierüber ist das Wesentliche schon gesagt. Als Jodl Berlin verließ, existierte kein Aufmarschplan gegen Polen, als er am 23. August 1939 zurückkehrte, bestand die Absicht, am 25. in Polen einzumarschieren, der Plan dafür war natürlich fertig, Jodl an ihm unbeteiligt.
In der Anklage wird noch hervorgehoben, Jodl sei am 3. September in Polen im Führerzug anwesend gewesen, das sei ein Beweis, daß er den Krieg mitgemacht habe. Ist auch dies ein Vorwurf gegen einen Soldaten?
Punkt 8 des Trial-Briefes betrifft Angriffe auf die sieben Staaten von Norwegen bis Griechenland. Der Trial-Brief faßt diese Kriege in einem Punkt zusammen. Mit Recht. Sie bilden eine Einheit, weil sie alle mit militärischer Notwendigkeit und logischer Konsequenz sich aus dem Polenkrieg und dem Eingreifen Englands ergeben haben. Gerade darum ist es für die Beurteilung Jodls so wichtig, daß er mit der Entfesselung des Polenkrieges nichts zu tun hatte.
Die Historiker werden noch lange zu forschen haben, ehe man weiß, wie alles wirklich kam. Für das Urteil über Jodls Verhalten ist allein entscheidend, wie sich für ihn jeweils die Lage zeigte, ob er nach dem, was ihm bekannt war, den jeweiligen Kriegsentschluß Hitlers als berechtigt ansah und wieweit er Einfluß auf die Entwicklung hatte. Nur dies geht uns hier an.
a) Norwegen und Dänemark.
In dieser Hinsicht, meine Herren Richter, kann ich mich auf das berufen, was Dr. Siemers hier vorgestern ausgeführt hat, und ich übergehe daher das Nächstfolgende, möchte aber eine Einfügung machen, und zwar eine Einfügung völkerrechtlicher Natur, die in meinem Manuskript nicht enthalten ist; im Hinblick nämlich auf die Ausführungen, die Dr. Siemers vorgestern hierzu gemacht hat, möchte ich, um jedes Mißverständnis auszuschließen, folgendes sagen:
Erstens: Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß die Handelsschiffe eines kriegführenden Staates neutrales Küstengewässer durchfahren dürfen. Wenn sein Gegner also zwecks Verhinderung eines derartigen Verkehrs das Küstengewässer vermint, ist dies ein klarer Neutralitätsbruch.
Auch Kriegsschiffe haben das Durchfahrtsrecht, sofern sie sich an die vorgeschriebenen Fristen halten und im Küstengewässer keine Kampfhandlungen vornehmen. Wenn dies sogar für Kriegsschiffe gilt, gilt es um so mehr für Schiffe, die Kriegsgefangene transportieren.
Zweitens: Die Tatsache, daß ein Krieg ein Angriffskrieg ist, beeinflußt in keiner Weise die Geltung und Anwendung des normalen Kriegs- und Neutralitätsrechts. Die gegenteilige Auffassung würde zu absurden Ergebnissen führen und würde ein Totengräber des gesamten Kriegsrechts sein. Es gäbe keine neutralen Staaten, und die Beziehungen der Kriegführenden wären beherrscht von den Grundsätzen nackter Gewaltanwendung. Jeder Schuß wäre Mord, jede Gefangennahme strafbare Freiheitsberaubung, jede Bombardierung kriminelle Sachbeschädigung. Dieser Krieg ist jedenfalls von keiner Seite nach solchen Grundsätzen geführt worden. Auch die Anklage steht nicht auf diesem Standpunkt...
DER VORSITZENDE, LORD JUSTICE SIR GEOFFREY LAWRENCE: Einen Augenblick, Herr Dr. Exner.