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DR. VON LÜDINGHAUSEN: Geboren als Sproß eines alten Geschlechts, das seiner engeren Heimat Württemberg so manchen treuen hohen Staatsbeamten geschenkt hatte, war der Angeklagte von Neurath in einfacher und strenger Erziehung aufgewachsen in einem Elternhaus, das erfüllt war nicht nur von echtem Christengeist und wahrer Menschenliebe, sondern auch von glühender, aufopferungsbereiter Liebe zu seinem deutschen Volk und Vaterland und das ihm von Kindesbeinen an als Richtschnur für sein ganzes Leben, sein Denken und Handeln den Wunsch und Willen, die heilige Pflicht eingepflanzt hatte, alle seine Kräfte, all sein Können, all seine Gaben und Fähigkeiten in den Dienst des Wohles seines Volkes zu stellen, diesem alle seine persönlichen Interessen unterzuordnen, ja zu opfern. Aber, und das muß schon an dieser Stelle betont werden, neben diesem Streben lebte und webte in ihm in gleicher Stärke eine tiefe und wirkliche Religiosität, Wahrhaftigkeit und Menschenliebe, die ihn von vornherein jeglicher Gewaltanwendung gegen seine Mitmenschen abhold machte, nicht nur in seinem persönlichen Leben, in seiner Einstellung zu seinen Mitmenschen, die vielmehr in gleichem Maße seine ganze amtliche Tätigkeit auch nach dem Vertrage von Versailles beherrschte, dieser den Stempel aufprägte und ihm das Gesetz seines amtlichen Handelns sowohl als Vertreter des Reiches bei anderen Staaten wie auch als Außenminister und schließlich als Reichsprotektor von Böhmen und Mähren vorschrieb. Nicht nur durch sein konziliantes, liebenswürdiges Wesen, seine bei einem Manne seiner Herkunft und Erziehung selbstverständliche Gewandtheit und Auftreten, sondern in erster Linie durch die alle seine Handlungen als Diplomat und Staatsmann durchdringende Friedensliebe und Aufrichtigkeit hat er sich überall in der Welt auf allen seinen Posten die uneingeschränkte und ehrliche Achtung und Zuneigung aller Menschen erworben, mit denen er in Berührung kam, auch seiner politischen Gegenspieler. Als eindeutigen Beweis für diese Tatsache, deren Wahrheit Ihnen, meine Herren Richter, Ihre eigenen Diplomaten bestätigen werden, genügt es, darauf hinzuweisen, daß, wie Sie aus der beschworenen Aussage meines Klienten wissen, keine geringeren als der König Georg V. und der König Eduard VIII. von England den Angeklagten anläßlich seiner Anwesenheit in London im Jahre 1933 und 1935 in einer privaten Audienz empfingen; daß die Englische Regierung ihn im Sommer 1937 und noch einmal im Jahre 1938, als er schon nicht mehr Außenminister war, zu einem Besuch in England zu politischen Besprechungen eingeladen hat und daß endlich an seinem 65. Geburtstag am 2. Februar 1938 das gesamte diplomatische Korps in Berlin bei ihm erschien, um ihm zu gratulieren und durch den damaligen Doyen, Monsignore Orsenigo, seinen Dank und seine Anerkennung für die stets verständnisvolle und verständigungsbereite Führung seiner Geschäfte als Außenminister hat aussprechen lassen.

Trauen Sie, meine Herren Richter, Ihren eigenen Diplomaten und Staatsmännern so wenig Menschenkenntnis, so wenig Erfahrung und Weltklugheit zu, daß sie, wenn die Behauptung der Anklage, Herr von Neurath habe sich und seinen guten Ruf bewußt von den Nazis als Aushängeschild benutzen lassen und alle seine Handlungen und Äußerungen und Versicherungen als Außenminister nur eine Tarnung, das heißt ein bewußter Betrug der ganzen Welt gewesen sei, dies im Verlaufe der sechsjährigen Tätigkeit des Angeklagten als Außenminister nicht erkannt haben sollten?

Es ist dabei doch wohl als selbstverständlich zu unterstellen daß so alte und erfahrene Demokratien wie England, Amerika, Frankreich, daß der Vatikan auf den damals wichtigsten Posten eines Botschafters in Berlin ihre klügsten und erfahrensten Diplomaten gestellt haben. Und ich mochte fast annehmen, daß die Anklagebehörde sich doch wohl nicht ganz im klaren gewesen ist, welch ein Armutszeugnis sie mit ihrer oben gekennzeichneten Behauptung über den Angeklagten ihren eigenen Diplomaten ausgestellt hat, wobei sie für diese ihre Behauptung lediglich den reichlich fanatischen Bericht des amerikanischen Konsuls Messersmith anführen kann. Ich bin im übrigen felsenfest davon überzeugt, daß Sie, meine Herren Richter, selbst auf Grund Ihrer langen richterlichen Erfahrung viel zu viel Menschenkenntnis besitzen, um nicht auf den ersten Blick zu erkennen, daß mein Klient nach seiner ganzen Persönlichkeit zu einer solchen perfiden und verlogenen Handlungsweise gar nicht fähig ist, geschweige, ihm ein solches Maß an Schauspielkünsten zuzutrauen ist, um sechs Jahre lang die fähigsten und erfahrensten Diplomaten der ganzen Welt hinters Licht zu führen. Ein Mann, der 60 Jahre lang ein ehrenhaftes und grundanständiges Leben geführt hat wie der Angeklagte, würde nie und nimmer am Ende eines solchen Lebens sich zu einer derartigen Verleugnung und Verneinung all dessen, was er bis dahin hochgehalten hat, hergegeben haben. Das widerspräche jeder Lebenserfahrung.

Und auf dem gleichen Niveau steht die Behauptung der Anklage, Herr von Neurath habe durch seinen Eintritt und sein Verbleiben in der Regierung Hitlers als Fünfte Kolonne in den konservativen Kreisen Deutschlands gedient mit dem ausgesprochenen Zweck, diese zum Nationalsozialismus herüberzuziehen. Diese, übrigens von der Anklage ohne jeden Versuch eines Beweises aufgestellte Verleumdung des Angeklagten wird durch die eidlichen Aussagen aller Zeugen und die vorgelegten Affidavits widerlegt, die übereinstimmend bekundet haben, daß das Ausscheiden des Angeklagten aus dem Amt als Außenminister gerade in diesen Kreisen mit allergrößter Bestürzung und Sorge aufgenommen wurde, weil diese Kreise dieses Ausscheiden des Angeklagten aus der Regierung gerade als ein Zeichen dafür ansahen, daß nunmehr eine ausgesprochene Friedenspolitik durch eine andere, nämlich kriegerisch orientierte Außenpolitik abgelöst werden würde, die man mit Recht für ein nationales Unglück ansah. Denn wie alle teilten sie die Überzeugung des Reichspräsidenten von Hindenburg, daß Herr von Neurath der Exponent der friedlichen Außenpolitik des Reiches war und der Garant für eine konsequente Fortführung dieser Friedenspolitik gegen jedwede möglichen unerwünschten aggressivem Experimente Hitlers und der Nazi-Partei war und daß aus diesem Grunde der Reichspräsident bei der Berufung Hitlers zum Reichskanzler das Verbleiben des Angeklagten in dessen Kabinett als Reichsaußenminister ausdrücklich zur Bedingung gemacht hätte. Diese Tatsache ist durch die eidlichen Aussagen sämtlicher darüber vernommenen Zeugen, sowie durch das von mir im Durchschlag vorgelegte Schreiben des Zeugen Dr. Köpke vom 2. Juni 1932 an den Gesandten Rümelin, Dokumentenbuch 1, Nummer 8, und das Affidavit der Baronin Ritter, Dokumentenbuch 1, Nummer 3, einwandfrei bewiesen.

Dieses letztere beweist aber auch gleichzeitig, wie schwer und erst nach welch langem Sträuben der Angeklagte sich damals zur Annahme dieser seiner Berufung entschlossen hat und untermauert damit die eigene eidliche Bekundung des Angeklagten, daß er sich erst dann dazu entschloß, als der von ihm so hochverehrte Reichspräsident an seine Vaterlandsliebe appellierte und ihn an das ihm zwei Jahre vorher gegebene Versprechen erinnerte, ihn, den Reichspräsidenten, nicht im Stiche zu lassen, wenn er seiner bedürfe. Es bedarf aber wohl keines weiteren Beweises für die völlige Haltlosigkeit und Unrichtigkeit der ebenfalls beweislos aufgestellten Behauptung der Anklage, der Angeklagte habe seine Stellung, sein Ansehen, seine Verbindungen und seinen Einfluß dazu verwendet, um Hitler und die Nazi-Partei in den Sattel zu heben, ihnen zur Erlangung der Macht im Reich zu verhelfen. Ich brauche daher wohl auch kaum noch auf die diesbezüglichen Aussagen des Angeklagten Göring und anderer Zeugen, insbesondere des Dr. Köpke, zu verweisen, aus denen eindeutig hervorgeht, daß damals keinerlei Verbindungen zwischen Hitler und den Nazis und dem Angeklagten bestanden, geschweige denn, daß der Angeklagte auch nur im geringsten bei den Verhandlungen, die der Berufung Hitlers zum Kanzler vorausgingen, mitgewirkt hat. Vaterlandsliebe, tiefste Verantwortung, tiefste Sorge um das Wohl und Wehe seines Volkes und das Versprechen, den Reichspräsidenten von Hindenburg in der Stunde der Not nicht im Stiche zu lassen, waren die alleinigen Motive dieses Mannes, die ihn veranlaßten, den ihm lieb gewordenen Posten als Botschafter in London zu verlassen und in dieser kritischen und schicksalhaften Stunde das schwere Amt des Außenministers des Reiches und die ihm als solchen vom Reichspräsidenten von Hindenburg zugewiesene Aufgabe zu übernehmen, auch gegen den etwaigen Willen Hitlers die Außenpolitik des Reiches in friedlichen Bahnen weiterzuführen. Der Angeklagte von Neurath kann mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen, daß er dieser schweren Aufgabe in jeder Minute, auch über den Tod des Reichspräsidenten von Hindenburg hinaus, mit allen seinen Kräften und mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit gerecht geworden ist bis zu dem Moment, da er einsehen mußte, daß diese Aufgabe über seine Kräfte ging, daß Hitler sich selbst nicht mehr von ihm beeinflussen ließ, sondern außenpolitische Wege zu gehen entschlossen war, auf denen der Angeklagte ihm nach seiner innersten Überzeugung und seinen Ansichten nicht zu folgen vermochte.

Bis zum 5. November 1937, jener berühmten Ansprache Hitlers an die Befehlshaber der Wehrmachtsteile, hat der Angeklagte von Neurath in treuester Erfüllung des von ihm dem Reichspräsidenten von Hindenburg gegebenen Versprechens, auch über dessen Tod hinaus, auf seinem Posten ausgeharrt und hat aus dieser Treue heraus auch dem toten Reichspräsidenten gegenüber in manchen die Innenpolitik Hitlers betreffenden Fällen das Odium auf sich genommen, als Mitglied der Reichsregierung stillschweigend Dinge geschehen lassen zu müssen, die seiner eigenen Einstellung, seinen Ansichten nicht entsprachen, ja diesen direkt zuwiderliefen. Sie zu verhindern, lag nicht in seiner Macht. So mußte er sich darauf beschränken, nach Möglichkeit ihre Folgen und Auswirkungen in Einzelfällen zu mildern und zu beseitigen, wie Sie aus dem Affidavit des Landesbischofs Dr. Wurm – Dokumentenbuch 1, Nummer 1 – und den Aussagen der übrigen darüber vernommenen Zeugen ersehen haben. Der Vorwurf der Anklage, daß er solche Fälle nicht zum Anlaß genommen habe, sein Amt als Minister niederzulegen, sie vielmehr bewußt durch sein Verbleiben im Amt gutgeheißen und mitgemacht habe, geht völlig fehl. Das oberste Gesetz seines Handelns war die Erfüllung der ihm vom Reichspräsidenten von Hindenburg übertragenen Aufgabe, die friedliche Außenpolitik des Reiches sicherzustellen. Er wäre vor sich selbst wortbrüchig geworden, wenn er seinen Posten als Außenminister verlassen hätte, bevor dieser erfüllt war oder nicht mehr erfüllt werden konnte. Welcher objektiv denkende Mann brächte es über sich, ihm hieraus einen Vorwurf zu machen oder ihn gar, wie es die Anklage tut, mit den Nazis zu identifizieren?

In dieser Einstellung des Angeklagten liegt aber auch der alleinige Grund, weshalb er die ihm von der Anklage zum Vorwurf gemachte und als Beweis für seine angebliche nationalsozialistische Gesinnung angesehene Ernennung zum Ehrengruppenführer der SS im September 1937 sowie die Verleihung des goldenen Parteiabzeichens in der Kabinettssitzung vom 30. Januar 1937 durch Hitler nicht zurückgewiesen hat, wie es der Minister Eltz von Rübenach getan hat. Denn, wie die Aussage des Angeklagten Göring bezüglich des letzteren beweist, wäre eine solche Zurückweisung auch bei dem Angeklagten von Neurath von Hitler, ebenso wie bei Eltz von Rübenach, als eine Brüskierung empfunden und von ihm unweigerlich mit der sofortigen Entlassung des Angeklagten beantwortet worden. Das wollte und mußte aber der Angeklagte geradezu vermeiden, denn zu der fraglichen Zeit konnte er noch der ihm vom Reichspräsidenten übertragenen Aufgabe, ein Garant des Friedens in der Außenpolitik des Reiches zu sein, voll und ganz gerecht werden, da damals nach seiner durchaus berechtigten Überzeugung sein Einfluß auf Hitler noch gerade groß genug war, um dessen Zustimmung zu der von ihm betriebenen friedlichen Außenpolitik zu gewährleisten.

Daß es sich in beiden Fällen nicht um einen tatsächlichen Eintritt in die SS und die Partei handelte, sondern in ersterem Fall nur um eine Uniformfrage, um eine äußerliche Eitelkeit Hitlers bezüglich der Herren seines Gefolges bei dem bevorstehenden Besuch Mussolinis, im zweiten Falle um einen sichtbaren Ausdruck der Anerkennung für die vom Angeklagten als Außenminister geleisteten Dienste, in der gleichzeitig ein Beweis für das uneingeschränkte Einverständnis Hitlers mit der von dem Angeklagten geführten friedlichen Außenpolitik lag, also um eine reine Ordensauszeichnung, wie sie in jedem Staate üblich ist, ist durch die Beweisaufnahme einwandfrei erwiesen. Die Verleihung eines Ordens in gewöhnlichem Sinne war damals noch nicht möglich, weil solche damals im Dritten Reich noch nicht existierten. Daß der Angeklagte in beiden Fällen trotzdem sofort zum Ausdruck brachte, daß er unter gar keinen Umständen durch seine Annahme dieser von Hitler alt Ehrung gedachten Verleihung seinen Eintritt oder seine Aufnahme in die SS oder die Partei dokumentieren wolle, ist durch die eidliche Aussage des Angeklagten bewiesen. Im übrigen hat er auch den zur Mitgliedschaft in der SS vorausgesetzten Eid niemals geleistet, niemals auch nur die geringste Tätigkeit in der SB ausgeübt und die SS-Uniform nur zweimal in seinem Leben auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers getragen. Auch dies ist durch seine eidliche Bekundung bestätigt.

In Wirklichkeit handelte es sich in beiden Fällen um ein persönliches Opfer des Angeklagten, das er seinem Hindenburg gegebenen Versprechen brachte. Wenn daher die Anklage glaubt, aus diesen beiden Vorgängen eine nationalsozialistische Gesinnung, eine Zustimmung des Angeklagten zu dem Gedankengut und dem ganzen Regierungssystem Hitlers folgern zu sollen, so befindet sie sich völlig auf einem Abweg. Und noch weniger ist für diese Behauptung der Anklage die Verleihung des Adlerordens ein Beweis. Denn dieser wurde ihm und ebenso dem Angeklagten von Ribbentrop nicht etwa als eine persönliche Auszeichnung für geleistete Dienste verliehen, vielmehr galt sie lediglich der Stellung des Reichsaußenministers beziehungsweise des Reichsprotektors als solcher, um diesem Orden, der nur zur Verleihung an ausländische Persönlichkeiten bestimmt war, in den Augen des Auslandes eine besondere Bedeutung zu geben, was schon daraus hervorgeht, daß er vom Angeklagten bei seinem Abschied zurückgegeben werden mußte.

Die Beweisaufnahme hat durch die eidlichen Aussagen sämtlicher dazu vernommener Zeugen eindeutig ergeben, daß der Angeklagte von Anfang bis zum Ende dem nationalsozialistischen System und seinen Maximen ablehnend gegenüberstand und deshalb auch vielfach von gewissen Parteikreisen dauernd angefeindet und bekämpft wurde. Denn diese Kreise wußten genau, daß der Angeklagte von Neurath, wie durch seine eigene Aussage und diejenigen der Zeugen Dr. Köpke und Dr. Dieckhoff bewiesen ist, sich gegen alle Versuche, Parteigenossen als Beamte in das Außenministerium zu bringen und dieses dadurch nazistischen Einflüssen zu öffnen, bis zum letzten Tage sehr energisch und erfolgreich gewehrt hat und trotz mancherlei Intrigen nicht von seiner klaren Friedenspolitik abzubringen war. Auch diese Anfeindungen und Intrigen nahm der Angeklagte auf sich aus seinem unantastbaren Verantwortungsbewußtsein und seiner Vaterlandsliebe, erfüllt allein von dem Bestreben, die deutsche Außenpolitik in den Bahnen zu führen, die nach seiner in langen Jahren erfolgreichster diplomatischer Tätigkeit erlangten Überzeugung die einzig und allein richtigen waren. Er war sich völlig im klaren darüber, daß, wenn er von seinem Amt zurücktrat, damit der letzte Schutzwall gegen eine Infiltrierung auch des Reichsaußenministeriums mit Parteigenossen und Nazi-Geist fiel und die Gefahr einer Abkehr von der von ihm verkörperten Friedenspolitik vor der Türe stand, wie dies nach seinem Abschied am 4. Februar 1938 auch alsbald eingetreten ist.

Es war daher für den Angeklagten eine der schwersten, vielleicht die schwerste Enttäuschung seines amtlichen Lebens, als er an jenem ominösen 5. November 1937 durch die Ansprache Hitlers erkennen mußte, daß sein ganzes Streben, sein ganzer Kampf, all seine persönlichen Opfer in den letzten fünf Jahren vergeblich zu sein schienen, daß sein Einfluß auf Hitler gebrochen war, dieser sich von ihm und der von ihm vertretenen Politik des Friedens und der Verständigung abzuwenden und sich gegebenenfalls zur Erreichung seiner in dieser Ansprache dargelegten, mehr wie utopischen Pläne und Absichten auch kriegerischer Mittel sich zu bedienen entschlossen hatte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn nichts hatte bis dahin darauf hingedeutet, daß Hitler nicht mehr mit der von dem Angeklagten betriebenen Friedenspolitik einverstanden sein könnte. Wie schwer dieser Schlag ihn traf, der alle seine Hoffnungen, alle seine Bemühungen, Deutschland, vor außenpolitischen Gefahren, vor kriegerischen Verwicklungen und einer möglichen, wenn nicht wahrscheinlichen Katastrophe zu bewahren, zu vernichten schien, mag der Herzanfall beweisen, den er am folgenden Tage erlitt. Aber aus seinem Verantwortungsbewußtsein, seiner brennenden Sorge um seines Volkes Zukunft heraus, hat er, bevor er die letzte, für ihn selbstverständliche Konsequenz zog und demissionierte, sich für verpflichtet gehalten, noch einmal den Versuch zu machen, Hitler von seinen unseligen Plänen und Absichten in einer sehr eingehenden und sehr ernsten Unterredung abzubringen. Doch als er in dieser Aussprache erkennen mußte, daß Hitlers Entschluß unabänderlich war, hat er nicht eine Sekunde länger gezögert, Hitler zu erklären, daß er diese unheilvolle Politik unter gar keinen Umständen mitzumachen entschlossen sei und Hitler sich für eine solche Außenpolitik einen anderen Außenminister suchen müsse. Diesem Abschiedsgesuch entsprach Hitler mit Schreiben vom 4. Februar 1938.

Gibt es, so frage ich Sie, meine Herren Richter, einen eindeutigeren und klareren Beweis wie diesen Rücktritt für die absolute Unrichtigkeit, die völlige Haltlosigkeit der in diesem Prozeß gegen meinen Klienten erhobenen Anklage, er habe bei der Planung und der Vorbereitung von Angriffskriegen, wie sie ein-einhalb Jahre später erfolgt sind, durch die von ihm geführte Außenpolitik mitgewirkt oder mitwirken wollen? Gibt es einer eindeutigeren und klareren Beweis für die innere Widersinnigkeit der Anwendung der Grundsätze der Conspiracy auf Taten und Handlungen von Staatsmännern und des Angeklagten im besonderen? Gibt es endlich einen eindeutigeren und klareren Beweis für die Absurdität einer retrospektiven Beurteilung der Politik von Staaten, wie sie hier einen der Grundpfeiler der ganzen Anklage bildet?

Sie alle, meine Herren Richter, die Sie hier Recht sprechen sollen, wissen es aus Ihrer eigenen Tätigkeit und Erfahrung mindestens ebensogut wie ich, wie gefährlich Rückschlüsse aus Handlungen eines Menschen zu einer gewissen Zeit auf Jahre zurückliegende Gedanken, Ansichten und Taten dieses Menschen sind. Tempora mutantur et nos in illis. Ein jeder von uns allen hat sicherlich die Wahrheit dieses Satzes mehr als einmal in seinem eigenen Leben erfahren. Überzeugungen und Ansichten, Absichten und Entschlüsse, die wir zu einer gewissen Zeit gehabt und ausgeführt haben, haben wir im Laufe der Jahre geändert und gewechselt, teils aus der Wandlung des eigenen Ichs, teils infolge äußerer Umstände, der Änderung der Verhältnisse. Will man deshalb wirklich die These aufstellen und in retrospektiver Betrachtung den Schluß ziehen, daß die früheren Ansichten, Äußerungen und Handlungen nur Tarnungsmanöver waren und der Mensch damals schon das zu tun beabsichtigte und entschlossen war, was er Jahre später unter ganz anderen Verhältnissen getan hat? Warum wollen Sie bei einem Politiker, einem Staatsmann, einen anderen Maßstab anlegen? Auch er ist ja nur ein Mensch und unterliegt denselben Wandlungen in seinen Ideen, seinen Ansichten und Absichten, wie jeder andere. Ja, er ist noch weit mehr äußeren Einflüssen, äußeren Verhältnissen, gewissen Imponderabilien unterworfen und davon abhängig wie der gewöhnliche Mensch. Nur ein Beispiel hierfür: Was würden Sie zu einem Manne sagen, der ernstlich zu behaupten wagte, daß Napoleon Bonaparte bereits zu der Zeit, als er während der großen Revolution nach Paris ging oder später, als er den Oberbefehl über die französischen Armeen in Oberitalien übernahm, bereits den Gedanken oder gar den Plan oder die Absicht gehabt hat, sich 1804 zum Kaiser der Franzosen zu machen und im Jahre 1812 nach Moskau zu marschieren? Ich glaube, wer diese Behauptung aufstellte, würde allein in der Welt dastehen. Und doch könnte ein geschickter Dialektiker mit nicht mehr oder weniger scheinbarer Logik und Berechtigung diese Behauptung aus der geschichtlichen Entwicklung der Dinge begründen, wie es die Anklage hinsichtlich ihrer Behauptung, Hitler habe schon zur Zeit der Machtübernahme, ja bereits bei der Aufstellung des Parteiprogramms im Jahre 1920 nicht nur die Absicht, sondern sogar schon den Plan zur Führung seiner späteren Angriffskriege gehabt und alles, was Hitler und die Nazis beziehungsweise seine Mitarbeiter von dem Moment der Machtergreifung innen- und außenpolitisch getan haben, sei die bewußte Vorbereitung dieser Angriffskriege gewesen.

Meine Herren Richter! Ich glaube, wer hierin der Anklage und ihrer denn doch auf sehr schwachen Füßen stehenden Begründung und ihrer retrospektiven Betrachtung der Dinge folgt, der überschätzt doch wohl nicht nur die geistigen, sondern auch die staatsmännischen Fähigkeiten nicht nur seiner Trabanten, sondern auch Hitlers selbst ganz gewaltig. Denn es ist doch immerhin schon ein Beweis für eine gewisse geistige Beschränktheit, wenn ein Mensch und erst recht ein Staatsmann seine Politik auf die Annahme gründet, wie es Hitler unbestreitbar getan hat, daß die Regierungen und Staatsmänner der übrigen Staaten sich immer wieder durch die gleichen Methoden täuschen und düpieren lassen würden, sich immer wieder die immer gleichbleibenden, von ihnen als Vertragsverletzungen empfundenen Handlungen gefallen lassen und ruhig zusehen würden, bis Hitler so weit zu sein glaubte, nunmehr mit Waffengewalt fast die ganze Welt angreifen zu können. Und ist es nicht erst recht ein Beweis von geistiger Beschränktheit, wenn ein Staatsmann dergestalt die Fähigkeiten und Klugheit, aber auch die Machtmittel seiner Gegner unterschätzt, wie es Hitler getan hat? Zu dem allen kommt aber noch eines hinzu, was auch nicht unterschätzt werden darf, das ist die Hitler eigene Sprunghaftigkeit seines Denkens und seiner daraus resultierenden Entschlüsse. Ich glaube, Ihnen für diese keine weiteren Beweise bringen zu müssen, sie ist allgemein bekannt. Hitler war aber auch ein Mensch, der keinen Widerspruch, keine Widerstände ertrug und der, wenn er solchen begegnete und auf Hindernisse traf, die er nicht durch ein Machtwort beseitigen konnte, blitzartig seine Pläne und Absichten änderte und sich zu Entschlüssen hinreißen ließ, die oft gerade das Gegenteil von dem waren, was er bis dahin gewollt, geplant und getan hatte.

Dies alles spricht gegen die von der Anklage Hitler unterstellte Absicht der Planung und Vorbereitung von Kriegen zur Zeit der Machtübernahme, ja schon Jahre vorher. Die Unmöglichkeit dieser Unterstellung wird noch unterstrichen, wenn man folgendes bedenkt: Unstreitig hat Hitler, wie aus den von mir vorgelegten Dokumenten ersichtlich, vom Tage der Machtübernahme bis 1937 in öffentlichen Reden, Ansprachen und diplomatischen Noten mehrfach nicht nur seinen Friedenswillen bekundet, sondern auch positive Vorschläge zur praktischen Durchführung der Begrenzung der Rüstungen aller Staaten, also auch Deutschlands gemacht, aus denen unbestreitbar ersichtlich ist, daß er sich bezüglich der Deutschen Wehrmacht und ihrer Stärke im Verhältnis zu den Rüstungen der Westmächte mit einem Verhältnis zu begnügen bereit erklärte, das von vornherein jeden Angriffskrieg gegen die anderen Staaten ausschloß. Und nun unterstellen Sie einmal, eines dieser Angebote Hitlers wäre von den übrigen Staaten angenommen worden, dann wäre doch der von Hitler angeblich seit langen Jahren geplante und vorbereitete Angriffskrieg überhaupt nicht möglich gewesen. Alle auf einen solchen aufgewendete Mühe, Arbeit und Kosten wären umsonst gewesen. Oder halten Sie es vielleicht für denkbar, daß Hitler voraussah und damit rechnete, daß seine Angebote abgelehnt würden und daß er sie nur in dieser Erkenntnis machte? Dann wäre er wirklich ein geradezu dämonisches Genie, ein prophetischer Seher ersten Grades gewesen. Wollen Sie das wirklich unterstellen und daraus die Behauptung der Anklage von der bereits lange vor der Machtergreifung beschlossenen Planung der Angriffskriege im Jahre 1939 bejahen? Und selbst wenn Sie diese Frage für die Person Hitlers bejahen wollten, trauen Sie auch seinen Mitarbeitern, seinen Trabanten, ja allen Parteigenossen eine solche Sehergabe zu? Diese Frage stellen heißt sie verneinen. Mit dieser Frage allein fällt die ganze gequälte und gekünstelte Konstruktion der Begründung der Anklage. Und mit dieser fällt auch die Subsumierung des ganzen Tatbestandes und insbesondere der Mitverantwortlichkeit aller Mitarbeiter Hitlers schlechthin unter den Begriff der Conspiray, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem weitesten Kreisen seiner Gefolgschaft erkennbar wurde, daß Hitler endgültig den Krieg wollte und zu diesem entschlossen war. Damit zugleich wird aber auch die unbedingte Richtigkeit des von mir am Anfange meiner Ausführungen aufgestellten Postulats nach der Prüfung der subjektiven Mitschuld jedes einzelnen Angeklagten, nach der Ablehnung der Mitverantwortlichkeit jedes einzelnen nur aus der Tatsache seiner Mitwirkung bei dem von der Anklage als Vorbereitung des Angriffskrieges angesehenen Handlungen zu irgendeinem Zeitpunkt schlechthin ohne Prüfung und Erforschung seines Wissens um die Ziele und Absichten Hitlers evident.

Es würde jedem, dem primitivsten wie dem höchstentwickeltsten Rechtsgefühl aller Völker der Erde widersprechen, wenn man, wie es die Anklage tut, dieses Postulat einfach beiseiteschieben und unbeachtet lassen würde. Das mit diesem Prozeß erstrebte Summum jus würde zur Summa injuria werden.

Der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung ist der Angeklagte von Neurath selbst. Ist es nicht heller Wahnsinn, ist es nicht Summa injuria, diesen Mann der bewußten Mithilfe einer Planung und Vorbereitung von Angriffskriegen zu bezichtigen, diesen Mann, der seine einzige Aufgabe darin sah und dieser Aufgabe so manches persönliche Opfer brachte, jedwede kriegerische Verwicklung zu verhindern, der in dem Augenblick, als er erkennen mußte, daß seine Aufgabe seine Kräfte überstieg, sofort sein Amt niederlegte und seinen Abschied forderte? Dies fühlt anscheinend auch die Anklage selbst, denn sonst hätte sie nicht als Beweis für die angebliche Mitschuld des Angeklagten seine Anwesenheit bei der Ansprache Hitlers am 5. November 1937 angeführt, aber geflissentlich verschwiegen, daß der Angeklagte diese Ansprache mit der Abkehr Hitlers von der Friedenspolitik zu einer kriegerischen Politik zum Anlaß nahm, seine weitere Mitarbeit zu verweigern und damit zu erkennen zu geben, daß er weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft an der Planung, Vorbereitung oder Führung eines Angriffskrieges mitgewirkt habe, noch mitzuwirken oder einen solchen zu billigen bereit sei. Damit entfällt von vornherein und ein für allemal jede Schuld des Angeklagten von Neurath im Sinne der Anklage. Denn selbst wenn man auch unterstellen wollte, daß er als verantwortlicher Leiter der deutschen Außenpolitik internationale Verträge gebrochen habe, so muß demgegenüber darauf hingewiesen werden, daß nach dem klaren Wortlaut des Statuts der Bruch internationaler Verträge an sich keineswegs ein strafwürdiges Verbrechen darstellt, sondern erst dann zu einem solchen wird, wenn er der Vorbereitung von Angriffskriegen dient. Daß ein solcher Bruch diesem Zweck dient, muß im Willen oder zumindest im Bewußtsein des Täters liegen.

Daß dem Angeklagten von Neurath dieser Wille, ja selbst das mindeste Bewußtsein völlig gefehlt hat, beweist sein Rücktritt vom Amt als Außenminister ganz eindeutig. Ich werde Ihnen aber auch zeigen, daß selbst dieser Vorwurf einer Verletzung oder eines Bruches internationaler Verträge nicht begründet ist.

Als am 2. Juni 1932 der Angeklagte von Neurath auf den Wunsch Hindenburgs das Außenministerium übernahm, waren es zwei Fragen, die alle übrigen europäischen Probleme an Bedeutung weit überragten und dringend ihrer Lösung harrten: Das war das Problem der deutschen Tributzahlungen und das Problem des Abrüstung der Siegerstaaten und der damit untrennbar zusammenhängenden Gleichberechtigung Deutschlands.

Die erste Frage: Gelang es dem Angeklagten und dem damaligen Reichskanzler von Papen auf der wenige Tage nach dem Amtsantritt des Angeklagten am 10. Juni 1932 in Lausanne beginnende Konferenz der Mächte dieses Problem einer befriedigenden Lösung entgegenzuführen? In der Schlußsitzung der Konferenz am 9. Juli 1932 wurde Deutschland gegen Zahlung einer einmaligen Abschlußzahlung von drei Milliarden Mark aus der Schuldknechtschaft des Versailler Vertrags endgültig entlassen. Der Young-Plan war gefallen, und es blieben nur noch die Verpflichtungen Deutschlands aus den ihm gewährten Anleihen bestehen. Damit war politisch gesehen für Deutschland erreicht, daß der Teil VIII des Versailler Vertrags, in dem die Reparationsverpflichtungen auf Grund des Artikels 232 verankert waren, dahingefallen war. Die erste Bresche war geschlagen.

Ganz anders das Abrüstungsproblem. Dieses hatte, wie ich als bekannt voraussetzen darf, seinen Entstehungsgrund in der in Teil V des Versailler Vertrags enthaltenen Deutschland auferlegten Verpflichtung zur Abrüstung, als deren Gegenleistung im Fall ihrer Erfüllung in der Präambel zu diesem Teil die Verplichtung der hochgerüsteten Siegerstaaten gleichfalls abzurüsten, stipuliert war. Deutschland hatte abgerüstet, es hatte seine Verpflichtungen, wie unstreitig feststand und auch vom Völkerbund ausdrücklich anerkannt worden war, bereits im Jahre 1927 in vollem Umfange erfüllt. Damit war der Anspruch Deutschlands auf die in der Präambel zu Fall V verankerte Gegenleistung der übrigen Vertragsparteien existent geworden. Und Deutschland hatte diese seine Forderung auf Abrüstung auch der hochgerüsteten Staaten und damit im Zusammenhange auf Anerkennung seiner Gleichberechtigung schon längere Zeit vor dem Amtsantritt des Angeklagten angemeldet. Die daraufhin in der sogenannten Abrüstungskonferenz begonnenen Verhandlungen aber hatten bis zur Übernahme des Außenministeriums durch den Angeklagten nicht nur keine Fortschritte gemacht, sie hatten sich vielmehr gerade im Sommer 1932 noch wesentlich versteift. Im einzelnen darf ich mich angesichts der vorgeschriebenen Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit auf das in meinem Dokumentenbuch 2, Nummer 40, befindliche deutsche Memorandum vom 29. August 1932 und das ebenfalls dortselbst unter Nummer 41 befindliche Interview meines Klienten vom 6. September 1932 mit einem Vertreter des Wolffschen Telegraphenbüros beziehen. Und endlich darf ich auf eine dem Gericht unter Nummer 45 meines Dokumentenbuches 2 überreichte Erklärung des Angeklagten vom 30. September 1932 vor der deutschen Presse verweisen. Aus allen diesen Erklärungen, die zugleich als Vorbereitung der am 16. Oktober 1932 wieder beginnenden Verhandlungen der Abrüstungskonferenz dienen und der Welt und den Westmächten den Ernst der Situation vor Augen führen sollten, geht klar und eindeutig die große, die ganze Politik des Angeklagten von Anfang an beherrschende und sich bis zu seinem Abschiede hindurchziehende Grundtendenz seiner Auffassung, seiner Denkart und seiner Absichten als Mensch, Diplomat und Außenminister hervor, die sich in die Worte zusammenfassen läßt: Vermeidung und Verhinderung der Austragung jeder Differenz durch Waffengewalt, Erreichung aller Ziele und Aufgaben der deutschen Außenpolitik lediglich mit friedlichen Mitteln, die Ausschaltung des Krieges als ein Mittel der Politik, mit einem Wort: Sicherung und Erhaltung des Friedens unter den Völkern. Es ist dieselbe Tendenz, der der frühere Französische Botschafter in Berlin, M. François-Poncet, in seinem von mir dem Gericht unter Nummer 157 meines Dokumentenbuches 5 überreichten Schreiben als das Charakteristikum des Angeklagten so beredt Ausdruck gegeben hat und wie es auch von sämtlichen Zeugen und Affidavits einmütig bestätigt worden ist. Trotzdem die Verhandlungen der Abrüstungskonferenz zunächst geradezu mit einem Affront Deutschlands begannen, der den deutschen Delegationsführer zu der Erklärung veranlaßte, unter solchen Umständen den Verhandlungen nicht länger beiwohnen zu können, vermochten die Westmächte doch nicht, sich der Ethik einer unter diesen Tendenzen geführten Politik zu verschließen, und es kam auf Anregung der Britischen Regierung unter dem 11. Dezember 1932 zu dem bekannten, in meinem Dokumentenbuch 2, Nummer 47 a, befindlichen Fünfmächte-Abkommen, in welchem England, Frankreich und Italien unter Beitritt der Vereinigten Staaten von Amerika Deutschlands Gleichberechtigung anerkannten. Der Hauptausschuß der Abrüstungskonferenz nahm am 14. Dezember 1932 von diesem Abkommen mit Befriedigung Kenntnis, und der deutsche Vertreter erklärte sich bereit, an den kommenden Konferenzverhandlungen wieder teilzunehmen, indem er betonte, daß diese am 11. Dezember 1932 anerkannte Gleichberechtigung Deutschlands die Conditio sine qua non für diese weitere Teilnahme Deutschlands sei. Ein großer Schritt weiter auf dem Wege zu einer Verständigung über die Abrüstungsfrage schien damit getan.

Doch es sollte anders kommen: Alsbald nach Eröffnung der Verhandlung in der am 2. Februar 1933 wieder in Genf zusammengetretenen Abrüstungskonferenz kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen der Deutschen und der Französischen Delegation, in deren Verlauf der französische Vertreter Paul Boncour sogar so weit ging, das Fünfmächte-Abkommen vom 11. Dezember 1932, da nur zwischen fünf Mächten abgeschlossen, als nicht rechtsverbindlich zu erklären. Die Veranlassung zu diesen sich ständig verschärfenden Differenzen war die in dem den Verhandlungen zugrunde gelegten französischen Plan vom 14. November 1932 zur Überraschung nicht nur Deutschlands zum Ausdruck gelangende grundsätzliche Änderung der Haltung Frankreichs zu der Grundfrage des ganzen Abrüstungsproblems. Denn entgegen den Grundsätzen des Versailler Vertrags und seiner eigenen bisherigen Einstellung stellte sich Frankreich in diesem Plan plötzlich auf den Standpunkt, daß Heere mit langdienenden Berufssoldaten aggressiven Charakter trügen und als solche eine Bedrohung des Friedens bedeuteten und nur Heere mit kurzer Dienstzeit defensiven Charakter hätten. Angesichts der mir zur Verfügung stehenden Zeit muß ich es mir versagen, nicht nur auf die Einzelheiten dieses französischen Planes, sondern auch auf den Verlauf der sich immer mehr zuspitzenden Differenzen zwischen Deutschland und den übrigen Mächten näher einzugehen; sie vielmehr als bekannt voraussetzen und mich darauf beschränken, darauf hinzuweisen, daß die von der Abrüstungskonferenz zu ihrer eigenen gemachten neuen französischen These sich klar und eindeutig gegen Deutschland und seiner nach den Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags geschaffenen Reichswehr richtete und im Falle ihrer Verwirklichung infolge der dann erforderlichen Umwandlung der Reichswehr in eine kurz dienende Milizarmee eine noch weitere Verminderung seiner an und für sich schon für eine wirkliche Verteidigung gegen einen Angriff völlig unzureichenden Rüstung bedeutete. Die Aufstellung dieser These bewies aber auch deutlich, daß Frankreich nicht abzurüsten gewillt sei, was auch aus den eigenen Erklärungen des französischen Vertreters hervorging. Dieser neue Plan Frankreichs war ebenso wie seine Haltung besonders in der Frage des Verhältnisses der Herabsetzung der einzelnen Heere zueinander nur ein neuer Ausdruck seiner alten These: Erst Sicherheit, dann Abrüstung, mit der es nicht nur alle bisherigen, sondern auch die Verhandlungen über einen zur Vermeidung eines drohenden Abbruches der Verhandlungen von England vorgelegten neuen Vermittlungsplan, den sogenannten MacDonald-Plan zu Fall brachte. Deutschlands Hinweis auf eine Berücksichtigung auch seiner Sicherheit und die aus seiner am 11. Dezember 1932 anerkannten Gleichberechtigung sich ergebende Forderung nach allseitiger Abrüstung wurde von der Gegenseite als Herausforderung empfunden und ihm die Schuld an einem etwaigen Scheitern der Verhandlungen zugeschoben. Mein Klient hat sich damals im Interesse der Klarstellung der Dinge und der Zuspitzung der ganzen Lage vor der Weltöffentlichkeit veranlaßt gesehen, in der bekannten in Genf erscheinenden Zeitschrift »Völkerbund« unter dem 11. Mai 1933 – Dokumentenbuch 2, Nummer 51 – einen Artikel zu veröffentlichen, in dem er sich mit den bisherigen Ergebnissen der Konferenz auseinandersetzte, die deutsche Haltung präzisierte und zum Schluß feststellte, daß die deutsche Forderung nach praktischer Verwirklichung der deutschen Gleichberechtigung durch die Abrüstung der hochgerüsteten Staaten am mangelnden Abrüstungswillen dieser Staaten gescheitert sei und daß Deutschland infolgedessen im Interesse seiner eigenen Sicherheit genötigt wäre, zu Rüstungsergänzungen zu schreiten, wenn und soweit die allgemeine Beschränkung und Abrüstung im Rahmen des englischen MacDonald- Planes seinen berechtigten Forderungen auf Sicherheit nicht genügen würde.

Diese Schlußfolgerung war angesichts der ganzen damaligen außenpolitischen Lage durchaus gerechtfertigt. Denn die sich bis zur Krise verschärfenden Vorgänge in der Abrüstungskonferenz waren nur ein kleiner Teil, gewissermaßen der Ausdruck der seit der Machtergreifung Hitlers eingetretenen internationalen Spannung. Das Ausland hatte zunächst mit Staunen, aber auch mit einer gewissen Verständnislosigkeit die innerpolitischen Vorgänge in Deutschland beobachtet. Bald nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 bildete sich aus Gründen, die zu erörtern hier zu weit führen würden, im Ausland eine Ansicht über diese sogenannte deutsche Revolution heraus, die diese nicht nur in Frankreich und seinen Verbündeten, sondern auch in England als eine europäische Gefahr erscheinen ließ. Die Furcht vor einer solchen wirkte sich in zunehmendem Maße in dem Verhalten der Westmächte auf der Abrüstungskonferenz aus, wo man den durchaus folgerichtigen, von jeher vertretenen Standpunkt Deutschlands jetzt als eine Herausforderung ansah. Aber diese ihre Besorgnisse, ihre Unsicherheit dem neuen Deutschland gegenüber führten zu noch viel weiteren Maßnahmen und Drohungen.

Mit Zustimmung Englands ging Frankreich in den ersten Tagen des Mai 1933 zu militärischen Vorbereitungen über, indem es seine bereits im Winter mit verstärkten Besatzungen versehenen Grenzbefestigungen alarmierte, die großen Lager in Lothringen, der Aufmarschzone seiner Rheinarmee, in Bereitschaft setzte und zwischen Belfort, Mülhausen und St. Ludwig eine große Probemobilmachung durchführte, zu der der Chef des französischen Generalstabs, General Weygand, persönlich erschien, und zur gleichen Zeit erklärte der französische Außenminister Paul Boncour vor dem französischen Senat in seiner Rede vom 12. Mai 1933 ostentativ, daß angesichts der revolutionären Explosionen in Deutschland Italien im Kreise der Westmächte festgehalten werden müsse und fügte als Antwort auf das Verhalten Deutschlands in der Abrüstungskonferenz hinzu, wenn Deutschland die Reichswehr behalten wolle, so müsse es sich streng an den Vertrag von Versailles halten. Und diese nur als Drohung aufzufassenden Worte des französischen Ministers wurden noch unterstrichen und bekräftigt durch ähnliche Erklärungen des britischen Kriegsministers Hailsham und des sonst so pazifistisch gesinnten Lord Cecil im englischen Unterhaus, welch letzterer Frankreich geradezu zur Vornahme weiterer militärischer Aktionen ermunterte. Die Lage war so gespannt, daß Europa unmittelbar vor einem neuen Kriege zu stehen schien.

Diese Zuspitzung der Dinge, diese offensichtliche Krise, die Europa dicht an den Abgrund führte, ist eine der Grundlagen für die ganze weitere Politik des Angeklagten von Neurath in den kommenden Jahren. Es muß daher so kurz wie möglich die Frage untersucht werden, welche Konsequenzen sie vom deutschen Standpunkt aus und damit für die deutsche Außenpolitik haben mußte und gehabt hat. Eines steht unleugbar fest: Deutschland war in diesem Frühling 1933 überhaupt nicht in der Lage, einen Krieg zu führen, es wäre purer Wahnsinn, reiner Selbstvernichtungswille gewesen, mit der kleinen Reichswehr von 100000 Mann, die motorisch über keinerlei Angriffswaffen, keine Tanks, keine schwere Artillerie, keine militärischen Flugzeuge verfügte, gegen die mit den allerneuesten Angriffswaffen aufs beste ausgerüsteten Millionenheere Frankreichs und seiner Verbündeten Krieg zu führen. Furcht vor einem bevorstehenden kriegerischen Angriff seitens Deutschlands konnte also auch vom Standpunkt der Westmächte aus unter gar keinen Umständen der Grund für deren Einstellung und Haltung sein. Der einzige plausible Grund konnte nur in der Einstellung der Westmächte zu der Frage der Abrüstung überhaupt, das heißt in ihrem Willen liegen, eine solche nicht vorzunehmen, Deutschland weiter zu diskriminieren, die Verwirklichung seiner Gleichberechtigung auch weiterhin zu verweigern und es weiterhin niederzuhalten.

Darin allein mußte für den Leiter der deutschen Außenpolitik auch der Grund für die ganzen letzten Vorschläge sowohl Frankreichs wie Englands in der Abrüstungskonferenz liegen, die für Deutschland sowohl aus rechtlichen Gründen wie aus Gründen seiner eigenen Sicherheit und seiner nationalen Ehre unannehmbar waren. Denn trotz der von den Westmächten in der Fünfmächte-Erklärung anerkannten Gleichberechtigung Deutschlands ließen sowohl der französische Plan vom 14. November 1932 wie auch der englische Plan vom 16. März 1933, der MacDonald-Plan und die zu diesem gefaßten Beschlüsse der Abrüstungskonferenz auch vom objektiven Standpunkt aus jede praktische Verwirklichung der Gleichberechtigung vermissen.

Welcher gerecht und objektiv denkende Mensch kann und will der deutschen Staatsführung einen Vorwurf daraus machen, wenn sie aus all dem die Konsequenzen zog und zu der Erkenntnis gelangte, daß in diesem Verhalten der Westmächte nicht nur eine Verletzung bestehender Verträge, auch des Versailler Vertrags, bezüglich der Abrüstung lag, sondern auch der Wille der Westmächte, Deutschland an einem Festhalten an seinen vertraglich berechtigten Forderungen gegebenenfalls mit Waffengewalt zu verhindern, es weiter als einen Staat zweiter Ordnung zu halten und ihm die auch im Versailler Vertrag gewährleisteten Sicherheiten zu verweigern. Können Sie es, meine Herren Richter, einer ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Volke bewußten Staatsführung zum Vorwurf machen, wenn diese Erkenntnis von jetzt an mitbestimmend, wenn nicht ausschlaggebend sein mußte für die weitere Führung der Außenpolitik? Denn die oberste Pflicht jeder verantwortungsbewußten Staatsführung in der Außenpolitik ist die Sicherung und Erhaltung der Existenz und Unabhängigkeit ihres Staates, die Wiedergewinnung einer geachteten und freien Stellung im Rate der Völker. Ein Staatsmann, der diese Pflicht versäumt, versündigt sich an seinem eigenen Volk. Diese Erkenntnis mußte um so schwerer wiegen, als seitens Deutschlands nicht das geringste geschehen war, was als eine Bedrohung der Westmächte hätte ausgelegt werden können. Im Gegenteil, bereits in der ersten programmatischen Rede Hitlers im Reichstag am 23. März 1933 hatte dieser unter einstimmigem Beifall des noch nach demokratischen Prinzipien gewählten Reichstages ausdrücklich seinen Willen zum Frieden, zur Verständigung mit allen Völkern, insbesondere mit Frankreich, betont und sich zur friedlichen Zusammenarbeit mit den übrigen Völkern der Erde bekannt, aber dabei auch hervorgehoben, daß er als Voraussetzung für eine solche die endliche Beseitigung der Diskriminierung Deutschlands, der Scheidung der Völker in Sieger und Besiegte, erachtete. Diese seine Erklärungen aber waren von den Westmächten in keiner Weise beachtet worden, trotzdem sie durchaus den gegebenen Verhältnissen entsprachen und alles andere eher als eine Drohung enthielten. Sie vermochten leider eine Änderung der Haltung der Westmächte nicht herbeizuführen, die Verschärfung der Krise nicht zu verhindern.

Eine fühlbare Entspannung trat erst ein, als Hitler unter dem Einfluß des Angeklagten von Neurath auf dem Höhepunkt der Krise in seiner großen sogenannten Friedensrede vor dem Reichstag am 17. Mai 1933 – sie befindet sich auszugsweise in meinem Dokumentenbuch 2, Nummer 52 – der Welt nochmals mit größter Eindringlichkeit seinen und des deutschen Volkes Friedenswillen wiederholte, seiner Überzeugung Ausdruck gab, daß, wie er wörtlich erklärte, kein neuer europäischer Krieg in der Lage wäre, an Stelle der unbefriedigenden Zustände von heute etwas Besseres zu setzen, der Ausbruch eines solchen Wahnsinnes, wie er den Krieg bezeichnete, müsse zum Zusammenbruch der heutigen Gesellschafts- und Staatsordnung führen.

Diese Rede Hitlers, deren Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit nach der stattgehabten Beweisaufnahme außer jedem Zweifel steht und deren Überzeugungskraft sich auch die Westmächte nicht verschließen konnten, bewirkte eine allgemeine Entspannung der Lage, die Gefahr eines neuen Völkerkrieges war beseitigt, die Welt atmete auf. Sie führte damit aber auch das Ende der Isolierung und Vereinsamung Deutschlands herbei, die seine innere Umwandlung, die jede Art Revolution verursacht hatte, und die deutsche Außenpolitik ergriff gerne und aufrichtigen Willens die Gelegenheit zu einer aktiven Mitarbeit im politischen Spiel der Staaten, die sich ihr durch den Vorschlag Mussolinis bot, die Großmächte England, Frankreich, Italien und Deutschland in einem sogenannten Viererpakt zu vereinen. Dieser Pakt, der am 8. Juni 1933 in Rom paraphiert und Mitte Juni 1933 auch von Deutschland unterschrieben wurde und der in seiner Präambel ausdrücklich auch auf das Fünfmächte-Abkommen vom 11. Dezember 1932 Bezug nahm, sollte die beteiligten Mächte in die Lage versetzen, wenn sich die weiteren Verhandlungen in größerem Kreis, wie zum Beispiel in der Abrüstungskonferenz, zerschlagen sollten, an einem kleineren Verhandlungstisch zusammenzukommen. Für Deutschland lag das Hauptmoment darin, daß es wieder ein aktives Mitglied in der Gesamtheit der europäischen Politik wurde, indem es als gleichberechtigter Partner an einem internationalen Vertrage beteiligt war, der sowohl inhaltlich wie seinem Wesen nach der Diskriminierung Deutschlands widersprach. Der Abschluß dieses Paktes fiel allerdings bereits in das Entstehen und Wachsen einer neuen internationalen Spannung, die Deutschlands Stellung wieder zu isolieren drohte. Sie ging diesmal weniger von der Abrüstungskonferenz aus, deren Verhandlungen nach den üblichen vergeblichen Bemühungen um seinen Fortschritt am 29. Juni 1933 auf den 16. Oktober 1933 vertagt worden waren, als von dem auf der am 12. Juni 1933 in London beginnenden Weltwirtschaftskonferenz zum Ausdruck kommenden Gegensatz zwischen Deutschland und Österreich. Der österreichische Bundeskanzler Dollfuß benutzte diese Konferenz dazu, um die Mächte auf eine angebliche Bedrohung der Selbständigkeit Österreichs durch Deutschland hinzulenken, indem er Deutschland beschuldigte, die österreichischen Nationalsozialisten in ihrem Kampf gegen seine, Dollfuß', Regierung zu unterstützen. Indem er damit die österreichische Frage in den Mittelpunkt der europäischen Politik stellte und die Mächte zum Schutz gegen eine angebliche Bedrohung der von ihnen als einen wichtigen Stein im Bau der europäischen Machtverhältnisse angesehenen Unabhängigkeit Österreichs durch Deutschland aufrief, verschärfte er von neuem ihre erst vor kurzer Zeit mühsam beruhigte Stimmung. Wie die Stimmung damals im Sommer 1933 war, ergibt sich aus den in meinem Dokumentenbuch 1 unter Nummer 11 und 12 befindlichen Berichten des Angeklagten an den Reichspräsidenten von Hindenburg und an Hitler vom 19. Juni 1933, aber auch aus der Rede des Angeklagten vom 15. September 1933, Dokumentenbuch 2, Nummer 56, vor Vertretern der ausländischen Presse, in der er zugleich die Folgerungen dieser Stimmung für die Aussichten der kommenden Verhandlung der am 16. Oktober 1933 wieder zusammentretenden Abrüstungskonferenz zog, die sich in seinen Worten widerspiegelt: »Nach gewissen Anzeichen zu schließen, scheint die Bereitschaft der hochgerüsteten Staaten zur Erfüllung ihrer Abrüstungsverpflichtung heute geringer denn je. Es gibt schließlich nur die eine Alternative: Verwirklichung der Gleichberechtigung oder aber Zusammenbruch der ganzen Abrüstungsidee, für dessen unabsehbare Folgen nicht Deutschland die Verantwortung tragen würde.«

Diese Skepsis des Angeklagten hinsichtlich der politischen Lage im allgemeinen und der Aussichten der Abrüstungskonferenz im besonderen war nur allzu sehr begründet. Denn der noch vor dem eigentlichen Beginn der Verhandlungen von dem englischen Delegationsführer, Sir John Simon, als Verhandlungsgrundlage vorgelegte neue sogenannte Simon-Plan und nicht zum wenigsten die zu diesem von Sir John abgegebene Erklärung ließen unzweideutig erkennen, daß die Einstellung der Westmächte auch jetzt noch die gleiche war wie im Frühjahr 1933, ja, daß sie noch weniger gewillt waren, der Forderung Deutschlands nach Gleichberechtigung gerecht zu werden. Denn Sir John erklärte mit dürren Worten, daß die gegenwärtige ungeklärte Lage Europas und das so heftig erschütterte Vertrauen in den Frieden eine Abrüstungskonvention selbst nach dem Muster des von Deutschland im Frühjahr für nicht annehmbar erklärten MacDonald-Planes unmöglich mache. Das war nicht nur eine unberechtigte Beschuldigung Deutschlands, das nichts anderes getan hatte, als sein vertraglich begründetes gutes Recht zu vertreten, sondern auch eine deutliche Absage jedweder Verwirklichung der deutschen Gleichberechtigung und der Abrüstung. Und in der Tat ist dieser Simon-Plan noch weiter davon entfernt wie die früheren Pläne, der berechtigten Forderung Deutschlands nach Gleichberechtigung und Abrüstung beziehungsweise Abstimmung der Rüstungen aller Staaten einschließlich Deutschlands untereinander gerecht zu werden. Auch hier muß ich es mir mit Rücksicht auf die zur Verfügung stehende Zeit versagen, seinen Inhalt näher darzulegen und mich darauf beschränken, darauf hinzuweisen, daß er eine noch weitere Beschränkung und Verringerung der deutschen Rüstung zugunsten der übrigen Staaten bedeutete. Denn er sah vor, daß während der ersten Hälfte der auf acht Jahre vorgesehenen Dauer der vorzunehmenden Abrüstungen nur Deutschland durch die Umwandlung seiner Reichswehr in eine Armee mit kurzer Dienstzeit praktisch noch weiter abrüsten und sich obendrein einer neuen Rüstungskontrolle der Mächte unterwerfen sollte, während die hochgerüsteten Staaten mit der Abrüstung erst im fünften Jahre beginnen sollten, und zwar auch nur bezüglich des Mannschaftsbestandes, nicht bezüglich der Bewaffnung. Diese Bestimmungen zeigten klarer denn je, daß die Westmächte nicht nur nicht selbst abrüsten, sondern Deutschland noch mehr zu schwächen und es ihren Machtinteressen gefügig zu machen gewillt waren. Von der in dem Fünfmächte-Abkommen vom 11. Dezember 1932 ausgesprochenen Anerkennung der Gleichberechtigung Deutschland war keine Rede mehr.

Daß ein solcher Plan für Deutschland von vornherein unannehmbar war und ihm jede Möglichkeit zu weiteren Verhandlungen in der Konferenz nahm, mußte eigentlich auch den Westmächten klar sein. Nach den Erfahrungen aber, die die deutsche Außenpolitik im Frühjahr 1833 gemacht hatte, als Deutschland dicht davor stand, von den Westmächten mit Krieg überzogen zu werden, weil es nicht auf seine berechtigten Forderungen verzichten wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als die in diesem Plan unzweifelhaft liegende neue Drohung dieses Mal nicht nur mit der Ablehnung des Planes, sondern auch mit seinem Austritt sowohl aus der Abrüstungskonferenz wie auch aus dem Völkerbund zu beantworten. Denn unter diesen Umständen mußten alle weiteren Verhandlungen in der Konferenz von vornherein aussichtslos erscheinen und konnten nur eine neue und noch größere Verschärfung der Gegensätze bringen.

Es ist schwer zu verstehen, daß die Westmächte die Haltung Deutschlands nicht vorausgesehen haben und von seinem Austritt aus Völkerbund und Abrüstungskonferenz überrascht waren. Denn Hitler hatte bereits in seiner schon zitierten Friedensrede vom 17. Mai 1933 unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß die Deutsche Regierung und das deutsche Volk bei allem aufrichtigen Friedenswillen und ehrlicher Bereitschaft zu noch weiterer Abrüstung im Falle der Gegenseitigkeit, nie und nimmer sich zu weiteren Demütigungen und zum Verzicht auf seine Ansprüche auf Gleichberechtigung verstehen könne und werde, aus dem Verlangen nach einem solchen vielmehr unweigerlich die Konsequenzen ziehen.

Und noch unbegreiflicher ist es, wie die Anklage allen Ernstes aus diesem Austritt der deutschen Außenpolitik einen Vorwurf machen und in ihm eine bewußte Vorbereitungshandlung künftiger Angriffskriege erblicken zu können glaubt; es ist dies nur erklärlich aus der Tatsache, daß die Anklage die Gründe und Vorgänge, die zu diesem Austritt geführt haben, völlig verschweigt und dadurch den Eindruck hervorrufen will, als ob der Austritt Deutschlands gänzlich unmotiviert gewesen sei. Wie objektiv geschichtswidrig dieser Versuch der Anklage ist, den Austritt als eine kriegsvorbereitende Handlung hinzustellen, geht eindeutig aus der von der Anklage ebenfalls mit Schweigen übergangenen Tatsache hervor, daß die Deutsche Regierung gleichzeitig mit der Erklärung dieses Austritts nicht nur durch die Rede Hitlers vom 14. 0ktober 1933, sondern auch durch die Rede des Angeklagten von Neurath vom 16. Oktober 1933, Dokumentenbuch 2, Nummer 58 und 59, mit allem Nachdruck ihren unveränderten Friedenswillen und Verhandlungsbereitschaft über jeden die Gleichberechtigung Deutschlands berücksichtigenden Abrüstungsplan betonte, sondern auch in dem von meinem Klienten verfaßten und den Mächten übersandten Memorandum vom 18. Dezember 1933, Dokumentenbuch 2, Nummer 61, diese ihre Verhandlungsbereitschaft in die Tat umsetzte, indem sie ihrerseits praktische Vorschläge für eine allgemeine Abrüstung vorlegte.

Dem gleichen Bestreben diente auch das von dem Angeklagten am 29. Dezember 1933 dem Vertreter der »New York Times« in Berlin gewährte Interview, Dokumentenbuch 2, Nummer 62. Eine Regierung oder ein Außenminister, der einen Angriffskrieg Vorbereiten will oder auch nur plant, dürfte wohl kaum Vorschläge machen, durch welche die Rüstung auch seines eigenen Landes beschränkt oder noch weiter herabgesetzt wird.

Die sich an dieses Memorandum vom 18. Dezember 1933 anschließenden diplomatischen Verhandlungen zwischen Deutschland und den einzelnen Westmächten endeten, wie ich als bekannt voraussetzen darf, mit der Note der Französischen Regierung an die Englische Regierung vom 17. April 1934, Dokumentenbuch 3, Nummer 70, in der diese in Erwiderung sowohl auf ein englisches Memorandum vom 29. Januar 1934 wie auch auf eine weitere Denkschrift der Deutschen Regierung vom 13. März 1934 die Tür zu weiteren Verhandlungen zuschlug, wie dies in der Rede des Angeklagten von Neurath vom 27. April 1934, Dokumentenbuch 3, Nummer 74, eingehend dargelegt wird.

Interessant an den vorausgegangenen Verhandlungen aber ist und muß schon hier hervorgehoben werden die Tatsache, daß sich im Laute derselben eine unbestreitbare Wandlung in den Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland zeigte, deren weitere Entwicklung mehr oder weniger nicht nur für die deutsche Außenpolitik, sondern für die gesamte europäische Politik in den kommenden Jahren maßgebend werden sollte. In seiner Rede vor dem Büro der Abrüstungskonferenz am 10. April 1934 stellte der russische Vertreter – im Gegensatz zu dem bis dahin von Rußland stets vertretenen Standpunkt – die These auf, die Aufgabe der Abrüstungskonferenz sei, eine möglichst weitgehende Verminderung der Rüstungen zu beschließen, da dadurch am besten für Sicherheit gesorgt werde. Er stellte zwar die Erfolglosigkeit ihrer Abrüstungsbemühungen fest, zog aber daraus nicht etwa den Schluß, daß die Konferenz gescheitert sei, sondern bezeichnete im Gegenteil nunmehr die Schaffung neuer völkerrechtlicher Sicherheitsinstrumente als die alleinige Aufgabe der Abrüstungskonferenz, einen Standpunkt, den der russische Außenminister Litwinow am 29. April 1934 weiter unterstrich. Mit dieser These hatte sich Rußland den Standpunkt Frankreichs: Erst Sicherheit, dann Abrüstung, zu eigen gemacht; darüber hinaus aber auch den nunmehr einsetzenden vermehrten Aufrüstungsbestrebungen aller Völker die Türe geöffnet. Von welch weittragender Bedeutung diese Tatsache war, erhellt sofort, wenn ich Sie auf den ein Jahr später zur Unterzeichnung gelangenden französisch-russischen Beistandspakt und die von diesem und den Rüstungsvermehrungen aller übrigen Staaten veranlaßte Rücknahme der deutschen Wehrhoheit hinweise Denn von dieser Erklärung des russischen Außenministers führte eine gerade Linie über die den Sommer 1934 ausfüllenden Verhandlungen über das Projekt des sogenannten Ostpaktes zu dem französisch-russischen Beistandspakt vom 2. Mai 1935 und dem russisch-tschechoslowakischen Beistandspakt vom 16. Mai 1935.

Die französische Note vom 17. April 1934 mit ihrem kategorischen »Nein« bedeutete den Abschluß einer Epoche und den Beginn einer neuen in der internationalen Politik. Frankreich gab endgültig zu erkennen, daß es nicht länger gewillt sei, im Wege einer allgemeinen Vereinbarung zwischen allen Staaten die Fragen der Abrüstung und der Sicherheiten einer Lösung entgegenzuführen, sondern entschlossen sei, nunmehr eigene andere Wege zu gehen. Der Grund hierfür lag offensichtlich darin, daß es erkannt hatte oder erkennen zu sollen glaubte, daß die wichtigsten der beteiligten Mächte, England und Italien, nicht mehr bedingungslos bereit waren, ihm zu folgen und Deutschland auch weiterhin die ihm bereits am 11. Dezember 1932 theoretisch zugebilligte Gleichberechtigung praktisch zu versagen. Dies war durch die weitgehende Annäherung des englischen und italienischen Standpunktes in dem englischen Memorandum vom 29. Januar 1934 und in der Erklärung Mussolinis gegenüber dem englischen Minister Eden vom 26. Februar 1934 zum Ausdruck gekommen, die sich mit dem deutschen, in seinen Memoranden vom 13. März und 16. April 1934 klar umrissenen Standpunkt beschäftigten. Und auch die Denkschrift der sogenannten neutralen Mächte, nämlich Dänemarks, Spaniens, Norwegens, Schwedens und der Schweiz vom 14. April 1934, vor allem aber auch die Rede des belgischen Ministerpräsidenten Graf Brocqueville vom 6. März 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 66 – zeigten die gleiche Tendenz.

Mit dieser Note vom 17. April 1934, zu der der Angeklagte von Neurath in seiner Rede vom 27. April 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 74 – vor der deutschen Presse eingehend und überzeugend Stellung nahm, hatte Frankreich aber, wie sich alsbald zeigen sollte, endgültig den Boden und die Grundsätze des Versailler Vertrags verlassen, dessen Präambel zu Teil V in nicht mißzuverstehender Weise die allgemeine Abrüstung aller Staaten des Völkerbundes als den Grund und die Gegenverpflichtung für die Abrüstung Deutschlands festgestellt hatte. Die unmittelbar nach der Note vom 17. April 1934 einsetzende neue Politik Frankreichs ließ alsbald erkennen, daß es nunmehr entschlossen war, gerade das Gegenteil dieses der deutschen Abrüstung zugrunde liegenden Gedankens des Versailler Vertrags zu tun.

Am 20. April 1934 trat der französische Außenminister Louis Barthou seine Reise nach dem Osten an, die ihn nach Warschau und Prag führte und in erster Linie, wie sich alsbald herausstellte, dem Bestreben galt, das Terrain für die Wiederaufnahme der bis dahin nicht bestehenden diplomatischen Beziehungen der Staaten der sogenannten Kleinen Entente zu Rußland vorzubereiten und damit der Einbeziehung dieser bis dahin außerhalb stehenden größten Militärmacht Europas in die europäische Politik an der Seite Frankreichs den Weg zu ebnen. Dies gelang. Am 9. Juni 1934 erkannten die Tschechoslowakei und Rumänien, die beiden wichtigen Staaten der Kleinen Entente, die Russische Regierung an und nahmen die diplomatischen Beziehungen zu ihr wieder auf. Damit hatte Frankreich die erste Bresche in die damalige ideologische und psychologische Abneigung der europäischen Staaten gegen das sowjetische Rußland geschlagen, und der französische Außenminister konnte nunmehr auf seiner zweiten Reise nach dem Osten nicht nur die Zustimmung aller Staaten der Kleinen Entente zu dem von Frankreich schon lange mit Rußland verhandelten sogenannten Ostpakt gewinnen, sondern im Anschluß daran diesen selbst Anfang Juli in London offen auf den Tisch der großen internationalen Politik legen. Damit kündigte sich, wie der tschechoslowakische Außenminister Benesch in seiner Rede vom 2. Juli 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 81 – mit Recht sagte, eine Neugruppierung der europäischen Kräfte an, die dazu angetan erschien, in einem gewissen Maße alle früheren Beziehungen auf dem Kontinent umzuwälzen.

England, das noch am 18. Mai 1934 durch den Mund seines damaligen Lordpräsidenten des Rates, Stanley Baldwin, vor dem Unterhaus erklärt hatte, daß es angesichts der Frage, ob es in ein System des sogenannten Kollektivfriedens einwilligen sollte, das unweigerlich die Notwendigkeit von Sanktionen enthalten müsse, vor einer der schwersten Entscheidungen seiner Geschichte stände – er prägte das Wort: Sanktionen sind Krieg –, gab Anfang Juli 1934 gelegentlich des Besuches Barthous in London seine Zustimmung, nicht nur zum Ostpakt, sondern darüber hinaus auch zu dem von Frankreich angeregten Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund. Am 18. Dezember 1934 beschloß der Völkerbund offiziell die. Aufnahme Rußlands in den Bund. Damit hatte Frankreich sein Ziel bereits im großen und ganzen erreicht, die Einbeziehung Rußlands, der stärksten Militärmacht, in die europäische Politik, und zwar an seiner Seite, wie sich alsbald herausstellen sollte.

Die deutsche Außenpolitik hat trotz dieser sich ankündigenden Umwälzung der europäischen Machtverhältnisse unter der Leitung des Angeklagten auch nach der von ihr als verhängnisvoll empfundenen Note Frankreichs vom 17. April 1934 unbeirrt und konsequent nicht nur ihren friedlichen Kampf um die praktische Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung, sondern auch ihre Friedenspolitik weitergeführt. In seiner bereits zitierten Rede vom 27. April 1934 hat mein Klient erneut und ohne Einschränkung den Willen Deutschlands zum Ausdruck gebracht, daß es auch weiterhin auch um den Preis vertraglicher weiterer Rüstungsbeschränkungen, zu jedweder Verständigung über eine allgemeine Abrüstung bereit sei, wenn diese nur seinem Verlangen nach Gleichberechtigung gerecht würde. Damit allein begnügte es sich aber nicht. Um die internationalen Besprechungen und Verhandlungen über die Abrüstungsfrage, die durch Frankreichs »Nein« vom 17. April 1934 unterbrochen worden waren, wieder in Gang zu bringen, traf sich Hitler Mitte Juni 1934 in Venedig mit Mussolini. Den Zweck und Inhalt dieser Zusammenkunft faßte Mussolini damals in die Worte zusammen: »Wir haben uns getroffen, um den Versuch zu machen, die Wolken zu zerstreuen, die den politischen Horizont Europas verdunkeln.« Ich darf vorsichtshalber daran erinnern, daß Italien damals noch unbedingt auf der Seite der Westmächte stand. Einige Tage später benutzte Hitler die Gelegenheit, in seiner Rede auf dem Gautag in Gera, am 17. Juni 1934 – im Dokumentenbuch 3, Nummer 80 – erneut seinen und Deutschlands unerschütterlichen Friedenswillen zu betonen, indem er unter anderem wörtlich erklärte:

»Wenn uns jemand sagt, wenn ihr Nationalsozialisten die Gleichberechtigung für Deutschland wünscht, dann müssen wir mehr aufrüsten, so können wir nur sagen, unseretwegen könnt ihr das tun, denn wir haben ja nicht die Absicht, euch anzugreifen. Allein wir wollen so stark sein, daß auch jedem anderen die Absicht vergeht, uns anzugreifen. Je mehr die Welt von Blockbildungen spricht, um so klarer wird uns, daß man besorgt sein muß um die Erhaltung der eigenen Kraft.«

Es war derselbe sich durch die sich immer deutlicher abzeichnende Umbildung der Machtverhältnisse und politischen Tendenzen von selbst aufdrängende Gedanke, der dem am 19. Juli 1934 vor dem Unterhause bekanntgegebenen englischen Luftrüstungsplan zugrunde lag und dem der französische Ministerpräsident Doumergue in seiner Rede vom 13. Oktober 1934 an der Bahre des ermordeten Ministers Louis Barthou mit den Worten Ausdruck gab: »Die schwachen Völker sind eine Beute oder eine Gefahr.« So unbestreitbar richtig dieser Gedanke aber auch war, er blieb, was die Einstellung der Westmächte zu Deutschland anbetraf, ebenso unberücksichtigt wie alle Bemühungen der deutschen Außenpolitik, die Verhandlungen der Abrüstungsfrage wieder weiterzutreiben und wie die wiederholten Erklärungen Deutschlands über seine Verständigungsbereitschaft. Deutschland blieb nach wie vor die praktische Anerkennung seiner Gleichberechtigung versagt. Diese Tatsache machte es der deutschen Außenpolitik auch, abgesehen von der immer deutlicher zutage tretenden Einkreisungspolitik Frankreichs, unmöglich, dem Ostpakt beizutreten. Die Gründe für diese Ablehnung des Ostpaktes sind eingehend in dem Kommuniqué der Deutschen Regierung vom 10. September 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 85 – dargelegt. Sie kulminieren in der Feststellung, daß Deutschland angesichts seiner unbestreitbaren militärischen Schwäche und Unterlegenheit gegenüber den hochgerüsteten Staaten keine vertraglichen Verpflichtungen auf sich nehmen könne, die es in alle im Osten möglichen Konflikte hineinziehen und zum wahrscheinlichen Kriegsschauplatz machen könnten. Nicht mangelnde Bereitschaft zur Beteiligung an internationalen Verträgen oder gar mangelnder Friedenswille war es, was Deutschland zu dieser Haltung veranlaßte, sondern in erster und ausschlaggebender Linie seine notorische militärische Schwäche. Hinzu kam weiter der sich mehr und mehr zeigende wahre Charakter der Politik Frankreichs und des Ostpaktes als eines gegen Deutschland gerichteten Instruments der französischen Einkreisungspolitik ihm gegenüber. Dieser Charakter wurde vor aller Welt klar, als in der Sitzung des Heeresausschusses der französischen Kammer am 23. November 1934 der Berichterstatter Archimbaud es als unleugbar bezeichnete, daß zwischen Frankreich und Rußland eine förmliche Entente bestehe, auf Grund deren letzteres Frankreich ein ansehnliches, gut ausgerüstetes und gut ausgebildetes Heer im Falle eines Konflikts zur Verfügung zu stellen bereit sei. – Dokumentenbuch 3, Nummer 89. – Ganz klar und offen bewiesen aber wurde diese Tatsache durch die Erklärung des französischen Außenministers Laval vom 20. Januar 1935 gegenüber einem Vertreter der russischen Zeitung »Iswestija« in Verbindung mit dem französisch-russischen Protokoll vom 5. Dezember 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 91 – und die zu demselben abgegebenen Erklärungen Litwinows vom 9. Dezember 1934. Es konnte für den Einsichtigen kein Zweifel mehr an dem Bestehen eines engen französisch-russischen Bündnisses bestehen, wenn auch die Unterzeichnung seines endgültigen Textes erst am 2. Mai 1935 erfolgte, der dann die Unterzeichnung des russisch-tschechoslowakischen Nichtangriffspaktes vom 16. Mai 1935 auf dem Fuße folgte.

Daß dieses derart vollendete Bündnissystem Frankreichs eine verzweifelte Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, dem sich Deutschland schon einmal im Jahre 1914 gegenübergesehen hatte, mußte sich jedem Klarblickenden geradezu aufdrängen. Und gerade dieser unwillkürliche Vergleich mußte für jeden deutschen Staatsmann zu der Folgerung führen, daß sich diese Bündnisse einzig und allein gegen Deutschland richten konnten und daher in jedem Falle eine Drohung gegen dieses bedeutete. Dies um so mehr, als diese Bündnisse, diese offensichtliche Einkreisung Deutschlands nicht die einzigen alarmierenden Momente waren. Denn Hand in Hand damit war im Laufe der letzten Monate eine gewaltige Vermehrung der militärischen Rüstungen fast aller außerdeutschen Staaten erfolgt. Nicht nur England hatte mit der Durchführung seines großangelegten Aufrüstungsprogramms begonnen, wie es aus dem englischen Weißbuch vom 1. März 1934 ersichtlich ist, dessen Vorlegung als eines amtlichen historischen Dokuments nicht erforderlich erscheint, auch in Frankreich hatten die Bestrebungen nach Verstärkung seiner Armee unter Führung seines damals populärsten Generals, des Marschalls Pétain, begonnen und Rußland hatte unter der freudigen Zustimmung Frankreichs eine Vermehrung der Friedensstärke seines Landheeres von 600000 auf 940000 Mann vorgenommen. Die Tschechoslowakei hatte im Dezember 1934 die zweijährige Dienstzeit eingeführt – Dokumentenbuch 3, Nummer 92 – und Italien vermehrte gleichfalls dauernd seine Rüstungen.

Alles dieses konnte nach den bitteren Erfahrungen der letzten Jahre, wie ich sie Ihnen, meine Herren Richter, vor Augen geführt habe, vom Standpunkt der deutschen Politik aus nur als eine gewaltige Drohung empfunden und gewertet werden, eine Drohung, der Deutschland so gut wie machtlos gegenüberstand. Jeden Augenblick mußte eine ihrer Verantwortung bewußte Außenpolitik mit der Gefahr rechnen, daß diese geballte, sich ständig vergrößernde Macht Frankreichs und seiner Verbündeten auf Deutschland niedersausen und es zermalmen konnte. Denn nichts ist gefährlicher als die Anhäufung von Macht in einer Hand; sie führt, wenn ihr nicht eine entsprechende andere Macht gegenübersteht, nach alter Erfahrung eines Tages zur Explosion, und zwar dann auf den nächstliegenden, als Gegner empfundenen Staat. Letzteres war und konnte nur Deutschland sein, denn nur in diesem sah Frankreich seinen Widersacher, in keinem anderen Lande der Welt sonst. Und nun frage ich Sie, meine Herren Richter, war es daher nicht ein selbstverständliches Gebot der Notwehr, eine selbstverständliche Forderung des primitivsten Selbsterhaltungstriebes jedes lebenden Wesens – und auch die Völker sind lebendige Wesen, auch ihnen wohnt dieser Selbsterhaltungstrieb inne – daß nunmehr die deutsche Staatsführung und das deutsche Volk diese ihm immer wieder grundlos verweigerte Wehrhoheit zurücknahm und auch ihrerseits sich gegen die über Deutschland schwebende Drohung zu sichern suchten, indem sie die Organisation einer militärischen Luftflotte und durch das Gesetz über den Aufbau der deutschen Wehrmacht vom 16. März 1935 die Aufstellung eines auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Friedensheeres von nur 36 Divisionen beschloß. Ich beziehe mich hierzu auf den Aufruf der Deutschen Reichsregierung zur Wiederherstellung der deutschen Wehrpflicht vom 16. März 1935, Dokumentenbuch 2, Nummer 97.

VORSITZENDER: Wir wollen uns jetzt vertagen.