HOME

<< Zurück
|
Vorwärts >>

[Zum Zeugen gewandt:]

In welchem Umfange hat die SS-Gerichtsbarkeit die Rechtsprechung über das KZ-Wesen ausgeübt?

REINECKE: Der Zuständigkeit des SS-Gerichtswesens waren entzogen die Häftlinge der Konzentrationslager selbst. Für diese war ausschließlich die allgemeine deutsche Justiz zuständig. In gewissem Umfange oblag die Rechtsprechung der SS-Gerichtsbarkeit auch bezüglich der in den Konzentrationslagern befindlichen politischen Abteilungen mit der Maßgabe, daß die Untersuchungsführung des Reichssicherheitshauptamtes hier den Vortritt hatte. Die Wachmannschaften und die Kommandanturangehörigen der Konzentrationslager unterlagen der Rechtsprechung des Gerichtswesens in vollem militärgerichtlich bestimmtem Umfange.

RA. PELCKMANN: Sie sagten schon, Herr Zeuge, daß die Verfolgung von KZ-Verbrechen durch Ihre Gerichtsbarkeit 1943 einsetzt. Wann 1943?

REINECKE: In der zweiten Hälfte des Jahres 1943 kam das Gerichtswesen anläßlich eines Korruptionsfalles gegen den seinerzeitigen Lagerkommandanten Koch auf Spuren von Verbrechen, die in andere Lager führten. Von diesem Zeitpunkt an wird das Gerichtswesen tätig.

RA. PELCKMANN: Wie kommt es, daß das Gerichtswesen erst so spät tätig geworden ist?

REINECKE: In den Konzentrationslagern befanden sich sogenannte Gerichtsoffiziere als Überwachungsorgane. Diese Gerichtsoffiziere, die Instrumente des jeweiligen Gerichtsherrn waren, hatten die Aufgabe, bei irgendwelchen vorgekommenen Verbrechen sogenannte Tatberichte anzufertigen und diese Tatberichte den Gerichten zwecks Verfolgung der strafbaren Handlungen zu übergeben.

RA. PELCKMANN: Eine Zwischenfrage, Herr Zeuge...

VORSITZENDER: Dr. Pelckmann! Ich glaube, er hat Ihre Frage überhaupt nicht beantwortet. Ihre Frage lautete: Wie kam es, daß diese Untersuchungskommissionen erst Ende 1943 in Erscheinung traten? Er hat diese Frage gar nicht beantwortet.

RA. PELCKMANN: Euer Lordschaft! Der Zeuge ist noch nicht zu Ende. Ich habe nur eine Zwischenfrage, und es wird sofort aus der weiteren Antwort des Zeugen klar werden.

[Zum Zeugen gewandt:]

Ich habe nur eine Zwischenfrage, Herr Zeuge. Dieser Gerichtsoffizier... unterstand er Ihnen, dem Hauptamt SS-Gericht oder der sogenannten SS-Gerichtsbarkeit, oder wem unterstand er? Nennen Sie Namen.

REINECKE: Der Gerichtsoffizier unterstand nicht der Organisation des Gerichtswesens, sondern war ein Funktionär des Gerichtsherrn, in dessen Hand die Untersuchungsführung sich befand.

RA. PELCKMANN: Also bei den KZs?

REINECKE: Bei den Konzentrationslagern in der Hand des gestern schon genannten Oswald Pohl.

RA. PELCKMANN: Und nun fahren Sie weiter fort mit der Beantwortung der Frage: Wie kam es, daß das Gerichtswesen so spät von diesen Greueltaten erst Kenntnis erhielt?

REINECKE: Es kam daher, daß das Gerichtswesen früher keinen Verdacht geschöpft hatte und dies begründet sich wieder darin, daß diese Gerichtsoffiziere während der Jahre bis 1943 fortlaufend solche Tatberichte bei den Gerichten eingereicht hatten. Diese Tatberichte waren sehr exakt ausgearbeitet. Es befanden sich bei unnatürlichen Todesfällen von Häftlingen darin Lichtbilder des Tatortes, des Toten, ärztliche Untersuchungsergebnisse, Zeugenaussagen von Häftlingen und Wachmannschaften. Diese Arbeit war so exakt, daß nicht der Verdacht entstehen konnte, daß hier auch hinter dem Rücken der Gerichtsoffiziere Verbrechen begangen sein könnten. Diese eingereichten Tatberichte führten in jedem Falle zur gerichtlichen Aburteilung des Täters. Solche Aburteilungen sind die ganzen Jahre hindurch vorgenommen worden.

RA. PELCKMANN: Könnten die Tatberichte nicht gefälscht sein, und konnten dadurch die tatsächlichen Verhältnisse verschleiert werden?

REINECKE: Das trifft teilweise zu. Ich habe gerade schon gesagt, daß wir in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 im Lager Buchenwald mit den Untersuchungen begannen. Wir hatten im Jahre 1941 in Buchenwald schon eine solche Untersuchung laufen, die aber ergebnislos verlief.

In der späteren Untersuchung 1943 stellte sich tatsächlich heraus, daß im Jahre 1941 von dem Kommandanten Koch mit gefälschten Tatberichten, gestellten Zeugen, falschen ärztlichen Gutachten und so weiter gearbeitet worden war, wodurch die untersuchenden Richter getäuscht wurden. Wir haben nun Überprüfungen auch in anderen Lagern vorgenommen und dabei festgestellt, daß in anderen Lagern diese Tatberichte in Ordnung waren.

RA. PELCKMANN: Nun schildern Sie bitte kurz das weitere Verfahren der SS-Gerichtsbarkeit gegen die KZ-Verbrechen.

REINECKE: Die Spuren vom Lager Buchenwald waren sehr vielfältig und führten in viele Lager. Der Komplex wuchs von Monat zu Monat. Es stellte sich heraus, daß die Untersuchungsorgane des Gerichtswesens völlig ungeeignet waren, um eine solche rein kriminalistische Untersuchung vorzunehmen, weil dem Gerichtswesen auf Grund seiner Eigenart als militärisches Gerichtswesen der Unterbau, nämlich eine eigene Strafverfolgungsbehörde fehlte. Es wurden deshalb Richter in Kurzkursen kriminalistisch geschult und gleichzeitig im Zusammenwirken mit dem Reichssicherheitshauptamt Fachkräfte aus dem Reichskriminalpolizeiamt zur Untersuchung dieser Verbrechen abgestellt. Solche Kommissionen wurden in vielen Lagern eingesetzt und arbeiteten ununterbrochen bis zum Zusammenbruch. Das Hauptamt SS-Gericht selbst schuf ein eigenes Gericht zur besonderen Verwendung, das fast ausschließlich die Aufgabe hatte, diese Verbrechen in den Konzentrationslagern gerichtlich abzuurteilen. Im Hauptamt SS-Gericht als der zentralen Führungsstelle des Gerichtswesens ist eine eigene Hauptabteilung eingerichtet worden, von der aus zentral die Untersuchungsführung in den Konzentrationslagern gesteuert wurde, und die die Aufgaben der fehlenden Generalstaatsanwaltschaft übernehmen sollte.

RA. PELCKMANN: Was war nun, kurz zusammengefaßt, das Ergebnis dieser Verbrechensbekämpfung in den Konzentrationslagern durch die SS-Gerichtsbarkeit?

REINECKE: Es wurden insgesamt ungefähr 800 Fälle untersucht. Von diesen 800 Fällen wurden 400 bei den Gerichten anhängig, von diesen 400 Fällen sind 200 durch gerichtliches Urteil zum Abschluß gekommen. Unter den untersuchten Fällen befanden sich Verfahren gegen fünf Konzentrationslagerkommandanten. Das Verfahren gegen zwei Kommandanten konnte zum Abschluß gebracht werden und endete mit Tod durch Erschießen.

RA. PELCKMANN: Sind Ihren Kommissionen bei diesen Untersuchungen Schwierigkeiten gemacht worden?

REINECKE: Diesen Kommissionen sind die erheblichsten Schwierigkeiten gemacht worden. Diese Schwierigkeiten hatten ihren Ausgangspunkt bei Pohl, der mit allen Machtmitteln versuchte, das weitere Vordringen der Untersuchungskommissionen in die eigentliche Materie des Verbrechenskomplexes zu verhindern. Dadurch wurde das Gerichtswesen gezwungen, nachdem es nun nur schrittweise vorwärts kam und sich aus dem Geheimhaltungskomplex ein Stück nach dem anderen herausbrechen mußte, mit Häftlingen zusammenzuarbeiten. Es sind fast in allen Lagern, wo sich solche Untersuchungskommissionen befanden, unter den Häftlingen Vertrauensleute angeworben worden, die den untersuchenden Richtern Material brachten. Es war aber auch sehr schwer, diese Häftlinge zu einer Mitarbeit zu bewegen, weil sie bei einer Aufdeckung ihrer Tätigkeit ihre Vernichtung befürchteten.

RA. PELCKMANN: Konnten Sie denn nicht diese Widerstände durch Meldungen, zum Beispiel bei Himmler, kurzerhand brechen? Pohl war doch, soviel ich weiß, Himmler direkt unterstellt, so daß Himmler ihm doch entsprechende Befehle hätte erteilen können.

REINECKE: So plump ist dieser Pohl nicht vorgegangen. Er hat nach außen hin so getan, als ob er die Untersuchungsarbeit des Hauptamtes SS-Gericht mit allen Kräften unterstützen würde und sie begrüßen würde. So hat er es auch Himmler wiederholt dargestellt, nachdem wir Himmler auf die zweifelhafte Rolle Pohls hingewiesen haben. In Wirklichkeit torpedierte Pohl mit allen Mitteln seiner ungeheuren Machtposition diese Untersuchungen und arbeitete mit den Häftlingen und den verbrecherischen Kommandanten Hand in Hand, wie wir an Einzeltatbeständen nachgewiesen haben.

Er hat, um ein markantes Beispiel voranzustellen, im Jahre 1941, als unsere erste Untersuchung im Konzentrationslager Buchenwald gescheitert war, wie ich gerade erzählt habe, dem Lagerkommandanten Koch einen Brief geschrieben, den ich selbst gelesen habe, mit folgendem Inhalt: »Ich werde mich mit der ganzen Machtfülle meiner Position vor Sie stellen, wenn wieder einmal ein arbeitsloser Jurist seine gierigen Henkershände nach Ihrem unschuldigen weißen Leib ausstrecken sollte.«

In dieser Richtung hat Pohl fortlaufend gearbeitet. Da er nicht nur in der Tötungsmaschinerie der Konzentrationslager verfangen war, sondern im Gleichmaß damit zum korruptesten Mann des Reiches überhaupt geworden war, wofür wir gegen Ende des Krieges die Nachweise erbracht haben durch die verschiedensten Verfahren, die wir gegen von ihm geleitete Organisationen auf privatwirtschaftlicher Grundlage angestrengt haben. Er hat als Haupt dieser verbrecherischen Clique es fertiggebracht zu versuchen, das System der Vertrauensleute der Häftlinge zu erschüttern, von dem er wußte, daß es seiner eigenen Person gefährlich werden könnte. Er hat einen unserer Vertrauenshäftlinge im Lager Sachsenhausen, einen gewissen Rothe, einsperren lassen und wollte ihn über einen Befehl des Reichssicherheitshauptamtes, Reichskriminalpolizeiamt, den er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu erwirken versuchte, vor dem angetretenen Block der Häftlinge öffentlich erhängen lassen, um damit ein abschreckendes Beispiel zu geben und die Untersuchungsarbeit des Gerichtswesens unmöglich zu machen. Ein Untersuchungsführer von uns bemerkte das rechtzeitig und konnte dies im letzten Augenblick verhindern.

RA. PELCKMANN: Bitte langsamer, Herr Zeuge, viel langsamer. Es sind wichtige Ausführungen, und die Übersetzung ist nicht einfach.

REINECKE: So arbeitete dieser Verbrecher Pohl. Die wichtigste Stütze in seinem Kampf gegen das Gerichtswesen war aber der Führerbefehl Nummer 1 über die Geheimhaltung, der in allen Dienststellen der SS und Polizei plakatiert war. Nach diesem Befehl durfte von geheimhaltungsbedürftigen Dingen nur der erfahren, der unmittelbar beteiligt war und der auch nur soviel, als er unbedingt wissen mußte, und dies auch nur für die Zeit, in der die Tätigkeit erfolgte.

In den Konzentrationslagern war alles geheim. Nur mit besonderen Ausweisen und Vollmachten konnte man sie betreten. Die Arbeit der Häftlinge war geheim, angeblich für »V-Waffen«. Das sonstige Leben der Häftlinge war geheim, angeblich aus Spionageabwehrgründen. Der Schriftwechsel lief unter »Geheime Reichssache« und war deshalb überhaupt nicht einzusehen. Hinter diesen... dieser dichten Geheimhaltungssphäre konnte sich Pohl jahrelang geschickt zurückziehen, und er gab dem vordringenden Gerichtswesen stets nur dann ein kleines Stück nach dem anderen preis, wenn er auf Grund von Einzeltatbeständen systematisch in die Enge getrieben war.

RA. PELCKMANN: Glauben Sie nun, Herr Zeuge, daß Sie mit diesen von Ihnen eben geschilderten Ergebnissen an den tatsächlich vorhandenen Verbrechensumfang herangekommen sind, wie wir ihn hier durch die Hauptverhandlung erfahren haben?

REINECKE: So, wie ich ihn heute weiß, nein. Das hat seinen Grund darin, daß das Gerichtswesen der SS und Polizei alle diese Verbrechen als einzelne Verbrechen bekämpfte, und das System der Verbrecherischkeit, wie es heute erkennbar ist, lange Jahre nicht durchschauen konnte. Als es dem Gerichtswesen gegen Ende des Jahres 1944 gelungen war, auf Grund solcher Einzeltatbestände den Verbrecher Pohl und auch Grawitz und den manche Verbrechen abdeckenden Müller aus der Gestapo in die Enge zu treiben, da beriefen sie sich das erstemal auf Befehle von oben. Die ansetzenden Ermittlungen des Gerichtswesens sind im Zusammenbruch der deutschen Kriegführung mit untergegangen.

RA. PELCKMANN: Sind Sie dann Ende 1944 auch herangekommen an den eigentlichen Verbrechenskomplex, nämlich Massenvernichtungen?

REINECKE: Es war Ende 1944 klar, daß Befehle von oben vorhanden sein mußten. Daß es sich aber um Massenvernichtungen mit einem ungeheuren Umfange handeln würde, dies war auch damals nicht erkennbar.

RA. PELCKMANN: Wer war nach den Ergebnissen der Untersuchungen, die Sie eben geschildert haben, verantwortlich für die bekanntgewordenen Verbrechen?

REINECKE: An höchsten Vorgesetzten: Pohl, neben ihm der ehemalige Reichsarzt-SS und Polizei, Grawitz, und neben ihm der Chef der Gestapo, Müller.

Darüber hinaus die Konzentrationslagerkommandanten, Angehörige der Kommandanturen, Konzentrationslagerärzte, und zu einem ganz großen Teil kriminelle Häftlinge der Konzentrationslager.

RA. PELCKMANN: Es ist richtig, demnach zu sagen, daß alle Angehörigen dieser Personenkreise, die Sie eben genannt haben, an den Verbrechen ohne Unterschied beteiligt sind?

REINECKE: Nein, das ist nicht richtig. Unsere Untersuchungen haben den klaren Nachweis ergeben, daß einige Lager vollkommen in Ordnung waren, daß nicht alle Kommandanten Verbrecher waren, daß viele Kommandanturangehörige von Verbrechen nichts wußten, desgleichen Ärzte, daß vor allem die Bewachungsmannschaften der Konzentrationslager mit den Verbrechen nichts zu tun hatten, weil ihnen selbst ein Einblick in die internen Vorgänge der Konzentrationslager verwehrt war.

RA. PELCKMANN: Sie haben vorhin den Fall des KZ-Kommandanten von Buchenwald, namens Koch, erwähnt. Von diesem ist hier schon im Gerichtssaal gesprochen worden. Die Anklage hat seinerzeit behauptet und sich auf die Vernehmung eines Häftlings Blaha gestützt, Koch sei wegen Unterschlagung und auch wegen Mordes an drei mißliebigen Personen verurteilt worden. Die Anklage hat es so dargestellt, als wenn das SS-Gericht damals an den vielen anderen Tötungsstellen einfach vorbeigegangen wäre. Ist das nach Ihrer Kenntnis richtig?

REINECKE: Nein, das ist unrichtig. Der Ausgangspunkt des Verfahrens gegen Koch war Korruption, weshalb er auch zum Tode verurteilt worden ist.

Der eigentliche Inhalt des Urteils gegen Koch und der Grund seiner Verurteilung zum Tode war das von Koch erfundene und betriebene System des Mordes in vielen Fällen. Diese Art der Urteilsfindung mußte deshalb gewählt werden, weil so viele Verbrechen von Koch vorlagen in längst vergangener Zeit, wo die Spuren verwischt waren, daß es lange Monate und Jahre gedauert hätte, diese Einzelfälle aufzuklären, wenn dies überhaupt gelungen wäre. Man nahm deshalb aus der Erkenntnis der kürzesten Beweismöglichkeit, um dem Koch das Handwerk schnell zu legen, diese drei Fälle heraus als typisch, verurteilte ihn aber wegen des Systems des Mordes im Konzentrationslager Buchenwald.

RA. PELCKMANN: Die Darstellung dieses Zeugen über diese Vorgänge wird unterstützt durch die Affidavits SS-65, 64, 66, 67, 68 und 69. Ich bitte 68 zu streichen, das war ein Irrtum. Nicht 68, 64 bis 67 und 69. Diese Affidavits sind ausgestellt von dem Untersuchungsrichter. Der Untersuchungsrichter Dr. Morgen hätte eigentlich hier als Zeuge erscheinen müssen. Er ist leider erst Anfang Juli, als die Kommissionsvernehmungen kurz vor dem Abschluß standen, eingetroffen. Ich habe ihn nicht rechtzeitig vorbereiten können für die Vernehmung. Ich habe aber ein Affidavit überreicht, und das Hohe Gericht wird ja beurteilen können, ob es eventuell nötig ist, diesen Dr. Morgen noch als Zeugen zu vernehmen, da es hier um die wichtigsten Dinge geht.