[Das Gericht vertagt sich bis
12. August 1946, 10.00 Uhr.]
Zweihunderterster Tag.
Montag, 12. August 1946.
Vormittagssitzung.
[Der Zeuge von Manstein im Zeugenstand.]
DR. FRITZ SAUTER, VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN FUNK UND VON SCHIRACH: Herr Präsident! Ich bitte Sie um die Erlaubnis, einen dringlichen Antrag für den Angeklagten Funk hier vortragen zu dürfen.
Am Montag, den 5. August, also heute vor einer Woche, hat die Anklagevertretung ein Affidavit des früheren SS-Obergruppenführers Oswald Pohl, 4045-PS, vorgelegt, das gewisse Beziehungen des Angeklagten Funk zur SS behauptete, besonders hinsichtlich des sogenannten Golddepots der SS bei der Reichsbank. Gegen die Verwertung dieses Affidavits konnte ich in der Sitzung vom vorigen Montag nicht sofort protestieren, weil ich selbst an diesem Tag wegen Krankheit abwesend war; ich hatte mich auch ordnungsgemäß beim Herrn Generalsekretär abgemeldet. In meiner Vertretung hat Dr. Nelte noch am gleichen Tag, am 5. August, in einer Eingabe an das Gericht um die Erlaubnis gebeten, den Zeugen Oswald Pohl im Gefängnis vernehmen und von ihm ein Affidavit aufnehmen zu dürfen. Mit Eingabe vom 7. August habe ich selbst dann diesen Antrag wiederholt und gleichzeitig gebeten, mir zu gestatten, daß ich den Zeugen Oswald Pohl zum Kreuzverhör rufe und daß der Angeklagte Funk selbst sich als Zeuge auch zu den neuerlichen Vorwürfen äußern dürfe.
Nach Einreichung dieser meiner Anträge sind hier die SS-Richter Dr. Reinecke und Dr. Morgen als Zeugen für die SS vernommen worden. Diese beiden Zeugen haben Oswald Pohl, obwohl er ihr SS-Kamerad war, auf das allerschwerste belastet. Die Bekundungen dieser beiden Zeugen Dr. Reinecke und Dr. Morgen haben den Nachweis geliefert, daß der frühere Gruppenführer Oswald Pohl, also der Zeuge der Staatsanwaltschaft erstens...
DER VORSITZENDE, LORD JUSTICE SIR GEOFFREY LAWRENCE: Beantragen Sie, Pohl ins Kreuzverhör nehmen zu dürfen, oder was wollen Sie?
DR. SAUTER: Nein; ich werde Ihnen, Herr Präsident, sofort die Gründe vortragen, wenn Sie gestatten, warum ich das nicht tue.
Ich habe eben gesagt, die Vernehmung der Zeugen Dr. Reinecke und Dr. Morgen hat den Beweis geliefert, daß dieser Zeuge der Staatsanwaltschaft erstens ein millionenfacher Mörder ist, zweitens, daß er das Haupt jener Verbrecherclique ist, welche die KZ- Greuel verübte, und drittens, daß er mit allen Mitteln die Aufdeckung dieser Greuel zu verhindern suchte, ja daß er zu diesem Zweck sogar neue Morde beging. Das alles steht fest durch die eidlichen Bekundungen der Zeugen Dr. Reinecke und Dr. Morgen.
Unter diesen Umständen, meine Herren Richter, lehnt die Verteidigung des Angeklagten Funk es ab, eine derartige Bestie als Beweismittel zu benutzen. Ich verzichte daher als Verteidiger des Angeklagten Funk darauf, diesen von der Anklagebehörde benannten Zeugen Oswald Pohl als Zeugen zu vernehmen oder auf den Zeugenstand zu rufen; denn die Aussagen eines Menschen, der Millionen von Unschuldigen hingemordet und auch...
VORSITZENDER: Dr. Sauter! Soviel ich verstehe, wollen Sie nicht irgendeinen Antrag stellen, sondern Sie...
DR. SAUTER: Nein, im Gegenteil, ich verzichte darauf.
VORSITZENDER: Gut, ich verstehe.
DR. SAUTER: Ich bitte um die Erlaubnis, einen anderen Antrag stellen zu dürfen. Ich habe also gesagt, die Aussage eines Menschen, der Millionen von Menschen hingemordet und aus dem Menschenmord ein schmutziges Geschäft gemacht hat, ist unserer Auffassung nach für die Erforschung der Wahrheit vollkommen wertlos.
VORSITZENDER: Dr. Sauter! Der Gerichtshof hält dies für einen ungeeigneten Augenblick, einen Protest dieser Art zu machen, der seinem Charakter nach eine Argumentation darstellt. Wenn Sie einen Antrag stellen wollen, dann tun Sie es bitte. Wenn Sie Protest erheben wollen, müssen Sie dies nach Beendigung des Falles der Organisationen tun.
DR. SAUTER: Herr Präsident! Darf ich dazu folgendes bemerken. Wir stehen ja vor dem Schluß der Beweisaufnahme, und ich bin der Auffassung, daß ich diesen Antrag nicht erst nach Beendigung des Prozesses stellen kann, sondern daß ich diesen Antrag, den ich jetzt stellen will, jetzt stellen muß, damit er dem Gericht rechtzeitig unterbreitet wird.
VORSITZENDER: Dr. Sauter! Wenn Sie nur zu Ihrem Antrag kommen wollten, dann wollen wir ihn mit Freuden hören.
DR. SAUTER: Herr Präsident! Einen Moment. Ich darf dann fortfahren: ich stelle daher den Antrag, das Gericht wolle beschließen: erstens: das Affidavit Oswald Pohl vom 15. Juli 1946, Dokument 4045-P5, wird als Beweismittel gegen den Angeklagten Walther Funk nicht zugelassen, und zweitens: der auf den Angeklagten Funk bezügliche Inhalt dieses Affidavits Oswald Pohls, Dokument 4045-PS, wird aus dem Sitzungsprotokoll vom 5. August 1946 gestrichen.
Und außerdem stelle ich vorsorglich den weiteren Antrag, daß ich den Angeklagten Walther Funk nochmals auf den Zeugenstand rufe, damit er Gelegenheit bekommt, auch seinerseits zu den ganz neuen Behauptungen des Oswald Pohl Stellung zu nehmen.
Herr Präsident! Ich habe diesen Antrag heute früh schriftlich eingereicht beim Herrn Generalsekretär. Ich weiß aber nicht, wann er von der Übersetzungsabteilung zu Ihnen kommt. Ich habe es aber für richtig gehalten, Sie um die Erlaubnis zu bitten, daß ich Ihnen diesen Antrag hier mündlich vortragen darf, damit mir nicht vorgeworfen werden kann, ich hätte das rechtzeitig hier in der Sitzung tun müssen, hätte das aber versäumt. Das ist der Antrag, den ich zu stellen habe.
VORSITZENDER: Der Gerichtshof möchte gern die Meinung der Anklagevertretung zu diesem Antrag hören.
DR. ROBERT M. KEMPNER, HILFSANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Darf ich unsere Antwort zurückstellen, bis ich Gelegenheit gehabt habe, mit dem Hauptanklagevertreter, Herrn Dodd, zu sprechen?
VORSITZENDER: Einverstanden.
DR. KEMPNER: Ich möchte nur sagen, daß sogar Mörder manchmal die Wahrheit sagen.
DR. SAUTER: Danke sehr, Herr Präsident.
VORSITZENDER: Will die Anklagevertretung den Zeugen noch weiter im Kreuzverhör vernehmen?
GENERALMAJOR G. A. ALEXANDROW, HILFSANKLÄGER FÜR DIE SOWJETUNION: Herr Zeuge! Ich habe an Sie zwei ergänzende Fragen zu richten, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Einsatzgruppe D stehen. Sie haben hier behauptet, daß Sie die Möglichkeit der Teilnahme Ihrer Truppen an den von dieser Gruppe ausgeführten Erschießungen ausschließen. Haben Sie denn nichts darüber gewußt, daß die den Erschossenen abgenommenen Uhren auf Befehl des Oberkommandos an die Armee abgeliefert wurden?
ZEUGE VON MANSTEIN: Nein, davon habe ich nichts gewußt. Was die Uhren angeht, so ist einmal der Armeeintendant bei mir gewesen und hat mir gemeldet, soweit ich mich entsinne, daß er eine große Uhrensendung aus Deutschland beschafft habe. Er hat mir auch eine solche Uhr vorgelegt – es war eine fabrikneue deutsche Uhr – und daß er die an die Truppe ausgeben wollte. An die Ausgabe von beschlagnahmten Uhren kann ich mich jedenfalls nicht erinnern, keinesfalls aber, daß ich von den Uhren erschossener Juden gehört hätte.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Und diese Uhren waren für das deutsche Heer bestimmt?
VON MANSTEIN: Die Uhrensendung aus Deutschland, jawohl.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Aber Sie haben auch von Uhren gesprochen, die den erschossenen Juden gehörten. Ich habe Sie wenigstens so verstanden. Ist das richtig?
VON MANSTEIN: Nein, davon habe ich nichts gesagt. Davon wurde auch nicht gesprochen. Der Armeeintendant hat mir nur über die Sendung deutscher Uhren vorgetragen, und das ist das einzige, woran ich mich bezüglich der Uhren erinnern kann. Daß er von Uhren von erschossenen Juden gesprochen haben sollte, ist völlig ausgeschlossen.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Gut. Wußten Sie davon, daß in Nikolajew und in Simferopol Vertreter des Armeekommandos bei den Hinrichtungen zugegen waren?
VON MANSTEIN: Nein.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Ist Ihnen bekannt, daß über diese Tatsachen hier vor dem Gerichtshof der Zeuge Ohlendorf in seinen unter Eid gemachten Aussagen bekundet hatte? Halten Sie die Aussagen Ohlendorfs über diese Tatsachen für lügenhaft?
VON MANSTEIN: Ich kenne die Aussage von Ohlendorf und erinnere mich, daß er sagte, es hätten an den Erschießungen in der Nähe von Simferopol Soldaten teilgenommen. Er hat aber gesagt, er wisse nicht genau, welche es gewesen seien. Es wäre wohl hauptsächlich Wehrmachtsgefolge, also keine Truppen meiner Armee gewesen. Ich habe jedenfalls seinerzeit auf der Krim nie etwas davon gehört, daß sich ein Soldat an einer Judenerschießung beteiligt hat.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Ich möchte, daß Sie mir auf meine Frage antworten. Halten Sie die Aussage Ohlendorfs für richtig oder lügenhaft?
VON MANSTEIN: Ich nehme an, daß er sich dabei geirrt hat. Jedenfalls steht für mich fest, daß Truppenteile meiner Armee an solchen Judenerschießungen nicht teilgenommen haben. Was er von Wehrmachtsgefolge gesagt hat und was er damit meint, weiß ich nicht.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Er meinte dabei die Truppen der 11. Armee, die unter Ihrem Befehl standen. Ich stelle an Sie nun folgende Frage: War Ihnen bekannt, daß mehr als 195000 Einwohner der Stadt Kiew von der deutschen Wehrmacht und Polizei umgebracht worden sind? Davon Wurden 100000 Menschen allein in Babij Yar umgebracht.
VON MANSTEIN: Ich habe das hier durch das Dokument der Russischen Anklage zum erstenmal gehört.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Aber Sie wußten, daß solche Massenvernichtungen der Zivilbevölkerung stattfanden?
VON MANSTEIN: Nein, das habe ich nicht gewußt, und Kiew hat ja auch zu der Zeit, wo anscheinend Erschießungen stattgefunden haben, nicht zu meinem Bereich gehört.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: War Ihnen der Befehl bekannt, der im August 1941 vom OKW durch den Generalquartiermeister Wagner überreicht wurde und welcher verbot, russische Kriegsgefangene aus den Vorräten der Armee zu verpflegen? Wurde denn das Massensterben durch Verhungern der Kriegsgefangenen nicht durch diesen Befehl hervorgerufen?
VON MANSTEIN: Dieser Befehl ist mir nicht gegenwärtig. Im August 1941 war ich Kommandierender General eines Panzerkorps weit vorn an der Front, und ich kann diesen Befehl auch gar nicht bekommen haben. Ich kann mir auch nicht denken, daß der Befehl in dieser Form gegeben worden ist; denn wir haben ja, wenigstens in meinem Bereich, die Gefangenen immer verpflegt, und ich glaube deshalb auch nicht, daß in meinem Bereich Gefangene durch Hunger umgekommen sind.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Aber Sie gaben doch selbst zu, daß unter den Kriegsgefangenen ein Massensterben war und daß dieses Massensterben durch Verhungern hervorgerufen wurde. Das haben Sie doch hier zugegeben?
VON MANSTEIN: Ich habe nicht gesagt, daß es so bei meiner Armee war, sondern daß ich aus den Dokumenten der Anklage ersehen habe, daß nach den großen Kesselschlachten im Bereich der Heeresgruppe Mitte, wo viele Hunderttausende von Gefangenen gemacht worden sind, daß da anscheinend viele an Hunger gestorben sind, einmal, weil sie schon halbverhungert aus den Kesseln herausgekommen sind, und zweitens habe ich gesagt, daß keine Armee in der Lage ist, die Verpflegung und Versorgung für, sagen wir mal, eine halbe Million plötzlich anfallender Gefangener mitzuführen und daß dadurch natürlich Schwierigkeiten entstanden sind, die angesichts des körperlichen Zustandes, in dem die russischen Soldaten sich schon befanden, sicherlich auch zu örtlichen Sterbefällen in größerer Zahl geführt haben können. Das bezog sich aber auf die Gefangenenzahl aus den Kesselschlachten und nicht aus meinem Bereich.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Es ist nicht notwendig, auf meine Fragen solch ausführliche Erklärungen abzugeben. Ich bitte Sie, mir kurz zu antworten. War Ihnen die sogenannte Operation »Krimhild« bekannt?
VON MANSTEIN: Der Deckname »Krimhild« für eine Operation ist mir zur Zeit kein Begriff. Ich weiß auch nicht, ob ich ihn einmal gehört habe. Würden Sie mir vielleicht sagen, wann und was das gewesen sein soll? Dann fällt es mir vielleicht ein.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Ich will Ihnen helfen. Das war eine Operation, welche die deutsche Truppenverschiebung aus dem Kubangebiet auf die Krim vorsah, hervorgerufen durch den Druck der vorrückenden Roten Armee. Aus diesem Grunde wurde von Hitler ein besonderer Befehl herausgegeben und allen höheren Stäben übermittelt.
VON MANSTEIN: Ich habe das nicht ganz verstanden. Meinen Sie den Übergang von der Krim nach dem Kubangebiet, oder meinen Sie den Rückzug vom Kubangebiet auf die Krim?
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Den Übergang, den Rückzug der deutschen Truppen vom Kubangebiet auf die Krim.
VON MANSTEIN: Darüber kann ich nichts sagen, darüber weiß ich nichts Näheres. Denn es war der Bereich der Heeresgruppe Kleist, und nicht mein Bereich.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Und wo befand sich Ihre Heeresgruppe damals?
VON MANSTEIN: Meine Heeresgruppe war zu der Zeit in der Südukraine. Die Südgrenze war offenbar bei Rostow.
GENERALMAJOR ALEXANDROW: Der Rückzug aus dem Kubangebiet betraf die Heeresgruppe, die sich an der Südfront befand. Der diesbezügliche Befehl Hitlers ist Ihnen überreicht worden. Vielleicht können Sie sich in diesem Zusammenhang an einiges erinnern. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nur auf einen Punkt dieses Befehls lenken.