[Zum Zeugen gewandt:]
Ist Ihnen bekannt, Herr Zeuge, daß überführte Stahlhelmer an Verbrechen, die der SA zur Last gelegt worden sind, beteiligt waren, zum Beispiel an der Judenverfolgung?
GRUSS: Nein, davon ist mir nichts bekannt; aber ich hätte davon doch eigentlich etwas wissen müssen, denn es wäre eine außergewöhnlich auffallende Tatsache gewesen, wenn festgestellt worden wäre, daß Stahlhelmer sich an Judenverfolgungen beteiligt hätten. Ich beziehe mich hierbei auf meine Ausführungen, die ich über das Nichtvorhandensein einer antisemitischen Tendenz im Stahlhelm machte.
RA. BÖHM: Haben Sie Beobachtungen darüber gemacht, daß diese Ablehnung von Stahlhelmern innerhalb der SA allgemein war, oder sind Anzeichen vorhanden, daß erhebliche Teile des Stahlhelms allmählich anderer Meinung wurden?
GRUSS: Diese ablehnende Haltung der Stahlhelmer hat sich bei der übergroßen Mehrzahl derselben unverändert erhalten bis zum Schluß. Ja, ich möchte sogar sagen, diese Opposition und Ablehnung ist, je länger das Dritte Reich dauerte, bei den Stahlhelmern immer schärfer geworden. Ich glaube nicht, daß es viele Stahlhelmer gewesen sind, die von dieser Opposition im Laufe der Jahre abgegangen sind. Natürlich gibt es bei der großen Menge immer solche Einzelfälle, aber das waren Einzelfälle.
RA. BÖHM: Herr Präsident! Ich habe zunächst weiter keine Fragen an den Zeugen.
DR. HANS GAWLIK, VERTEIDIGER FÜR DEN SD: Herr Zeuge! Ist Ihnen bekannt, ob die oppositionellen Stahlhelmer vom SD überwacht worden sind?
GRUSS: Von einer Überwachung durch den SD ist mir nichts bekannt. Ich habe immer nur gehört, daß die Gestapo und die Ortspolizei die oppositionellen Stahlhelmer überwacht haben.
DR. GAWLIK: Der Sohn von Düsterberg hat eine eidesstattliche Erklärung abgegeben unter »Stahlhelm Nummer 4«, daß die oppositionellen Stahlhelmer vom SD überwacht worden sind. Sind diese Angaben in Bezug auf den SD somit unrichtig?
GRUSS: Ich bin der Ansicht, daß sich der Sohn Düsterbergs hier geirrt haben muß. Ich selbst habe nie etwas vom SD in der Eigenschaft als Verfolger oder Überwacher des Stahlhelms gehört.
DR. GAWLIK: Danke schön.
OBERST H. J. PHILLIMORE, HILFSANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Herr Zeuge! Sie haben über die radikalen und extremen Tendenzen der SA gesprochen.
GRUSS: Ja.
OBERST PHILLIMORE: Sie meinen doch damit, daß sie Terroristen und Gangster gewesen sind?
GRUSS: Ja, dazu kann ich sagen, wenn ich hier gesagt habe, radikale und extreme Tendenzen, dann meinte ich damit diese Gruppen von Leuten bei der SA, die schon damals das Ansehen der SA schwer geschädigt haben. Aber das waren eben Gruppen, ich will damit sagen, das war nicht die ganze SA, das waren immer wieder nur Teile von ihnen.
OBERST PHILLIMORE: Solche Gruppen gab es in jeder Stadt in Deutschland, nicht wahr?
GRUSS: Darüber kann ich nichts sagen, ob es in jeder Stadt Deutschlands war, aber sie waren wohl in vielen Städten.
OBERST PHILLIMORE: Sie behaupten also, daß die Stahlhelmer in ganz Deutschland der SA zwangsweise beitreten mußten?
GRUSS: Ja.
OBERST PHILLIMORE: Und das geschah auf Drohung der örtlichen SA-Führer hin, die sie übernahmen? Stimmt das? Das wollten Sie doch sagen?
GRUSS: Ja.
OBERST PHILLIMORE: Kann man überhaupt im Zweifel sein, daß diese Drohungen und Inhaftierungen, über die Sie gesprochen haben, von der SA-Führung angeordnet worden waren?
GRUSS: Nach meinem Dafürhalten waren diese Drohungen, Inhaftierungen, und alles, was damit zusammenhängt, von der SA-Führung eingeleitet worden. Es mag selbstverständlich bei der großen Menge, die hier in Frage kommt, auch vorgekommen sein, daß hier auch die Partei oder andere Gliederungen des Dritten Reiches eingegriffen haben, aber in der Hauptsache wurden diese Druckmittel doch von der SA selbst ausgeführt.
OBERST PHILLIMORE: Sie haben auch über den Boykott gegen einen Mann gesprochen, der aus der SA ausgestoßen war. Wollen Sie sagen, daß das in ganz Deutschland zutraf, daß, wenn jemand von der SA ausgestoßen war, man ihn dann boykottierte?
GRUSS: Jedenfalls in den Fällen, die ich kenne – und das waren sehr viele – wurde ein solcher Boykott ausgeübt. Ich kenne zum Beispiel einen solchen Boykott in einer kleinen Stadt. Dort lagen ja überhaupt diese Verhältnisse...
OBERST PHILLIMORE: Ich will keine Beispiele. Sie sagen auch, daß ein Mann dann nicht der Wehrmacht beitreten konnte. Das kann doch nur so gewesen sein, daß die SA-Führerschaft der Wehrmacht seinen Namen als einen der Ausgestoßenen mitgeteilt hat?
GRUSS: Es ist möglich, daß die SA der Wehrmacht diesen Namen aufgegeben hat. Aber das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur das eine ganz genau, daß Stahlhelmer, die in die Wehrmacht eintreten wollten, zum Beispiel frühere Offiziere, nicht aufgenommen wurden, wenn sich bei Vorlage ihrer Papiere ergab, daß sie aus der SA ausgeschlossen waren.
OBERST PHILLIMORE: Ich möchte Ihnen nur noch eine oder zwei Fragen über die SA vorlegen. Kennen Sie Minister Severing?
GRUSS: Minister Severing ist mir wie wohl jedem anderen Deutschen aus der Zeit als er Minister war, bekannt. Persönlich kenne ich ihn nicht.
OBERST PHILLIMORE: Kennen Sie ihn als einen anständigen Mann?
GRUSS: Ich persönlich halte Severing für einen anständigen Mann.
OBERST PHILLIMORE: Wollen Sie sich seine Beschreibung der SA in den frühen Tagen, vor der Machtergreifung, anhören?
GRUSS: Ich kenne diese Beschreibung nicht.
OBERST PHILLIMORE:
»So hat die SA überall dort, wo sie ungehindert ihren Terror entfalten konnte, auch gerast. Sie hat Saalschlachten geliefert; das waren nicht die gewöhnlichen Plänkeleien zwischen politischen Parteien in Wahlkämpfen, sondern das war organisierter Terror.«
Ist das eine richtige Beschreibung der SA während der Jahre vor der Machtergreifung?
GRUSS: Ich glaube, daß Severing im großen und ganzen es richtig beschreibt.
OBERST PHILLIMORE: Kennen Sie den Zeugen Gisevius?
GRUSS: Nein, er ißt mir nicht bekannt.
OBERST PHILLIMORE: Wollen Sie sich seine Worte anhören:
»Während des Anfangsstadiums des Kampfes um die Macht stellte die SA eine Privatarmee dar, die die Aufgabe hatte, Befehle der Nazi-Partei auszuführen.
Wo sich der einzelne über seine Freiwilligkeit nicht ganz schlüssig ist, da beseitigt sie unzweideutig jedes Mißverständnis. Ihre Mittel sind primitiv, dafür aber um so schlagkräftiger. Beispielsweise lernt sich auf den Straßen der neuartige Hitlergruß außerordentlich schnell, sobald neben jeder marschierenden SA-Kolonne... auf dem Bürgersteig ein paar handfeste SA-Männer einhergehen und alle Passanten rechts und links hinter das Ohr hauen, wenn sie nicht bereits drei Schritte im voraus der Sturmfahne den Gruß entbieten. Ähnlich verfahren diese Sturmleute auf sämtlichen anderen Gebieten.«
Ich frage Sie noch einmal, ist das eine richtige Beschreibung des Verhaltens der SA, so wie Sie sie kannten?
GRUSS: Ja, ich muß dazu sagen, eigentlich bin ich doch gar nicht so richtig kompetent, ein Urteil über die SA aus der Frühzeit abzugeben. Denn meine Beobachtungen habe ich erst ab 1933 – ich will mal sagen – amtlich machen müssen, weil ich eben der Bundeskämmerer des Stahlhelms war. Vorher war ich aber Bankdirektor und hatte nicht so sehr das große Interesse an der SA. Ich will aber doch zugeben, daß...
OBERST PHILLIMORE: Dann möchte ich Ihnen noch eine letzte Frage vorlegen...
VORSITZENDER: Liegen diese Aussagen als Beweismaterial vor?
OBERST PHILLIMORE: Jawohl, Herr Vorsitzender! Die erste Erklärung stammt aus der Aussage des Ministers Severing (Sitzung vom 21. Mai 1946, nachmittags, Band XIV, Seite 304) und die zweite Erklärung stammt aus Gisevius' Aussage (Sitzung vom 26. April 1946, vormittags, Band XII, Seite 295).
VORSITZENDER: Der Kern der Aussagen dieses Zeugen war doch der, daß der Stahlhelm zwangsweise in die SA eingegliedert worden ist. Er hat nichts darüber ausgesagt, daß die SA eine ordentliche und anständig geführte Organisation gewesen sei.
OBERST PHILLIMORE: Herr Vorsitzender! Er hat von ihren radikalen, extremistischen Tendenzen gesprochen, und deshalb kann man annehmen, daß er von der SA gesprochen hat.
VORSITZENDER: Meinen Sie, daß er das von der SA gesagt hat?
OBERST PHILLIMORE: Jawohl, man kann es nicht anders auslegen.
VORSITZENDER: Wenn er das von der SA gesagt hat, dann hat er das nicht für die SA als Organisation ausgesagt, und deshalb dürfen Sie das auch nicht in Frage stellen. Wenn er ausgesagt hätte, daß die SA eine Organisation gewesen sei, die sich vollkommen ordentlich benommen hat, dann könnte Ihr Kreuzverhör erheblich sein, aber wenn er das nicht gesagt hat, verstehe ich nicht ganz, inwiefern das Kreuzverhör erheblich ist.
OBERST PHILLIMORE: Herr Vorsitzender! Für die SA ist Zeuge um Zeuge vor der Kommission erschienen.
VORSITZENDER: Jawohl, aber nicht dieser Zeuge und nicht in dieser Sache. Wir wollen uns mit diesem Zeugen befassen. Dieser Zeuge hat vor dem Gerichtshof nichts ausgesagt, was beweisen könnte, daß die SA eine ordentliche und anständige Organisation gewesen ist.
OBERST PHILLIMORE: Herr Vorsitzender! Er hat doch gesagt, daß die SA eine schlecht geführte Organisation war. Ich glaube nicht, daß man von mir verlangen kann, im Kreuzverhör diese Aussage nicht weiter zu verfolgen, es sei denn, Euer Lordschaft hält dies für eine Zeitverschwendung des Gerichtshofs. Meines Erachtens ist es von größter Bedeutung für die Beurteilung der Aussagen von vielen Zeugen für die SA, die vor der Kommission erschienen sind. Euer Lordschaft, ich werde mich sehr kurz fassen.
Ich will noch eine weitere Erklärung, die sich auf die Zeit nach dem Jahr 1933 bezieht, zitieren. Sie stammt von dem Zeugen Gisevius (Protokoll vom 26. April 1946, vormittags, Band XII, Seite 296):
»Die SA veranstaltet Großrazzien. Die SA macht Haussuchungen. Die SA beschlagnahmt. Die SA lädt zu Zeugenvernehmungen. Die SA sperrt ein. Kurzum, die SA erhebt sich zur Hilfspolizei in Permanenz... Wehe, wenn sie jemanden in ihren Klauen hat. Damals entstanden die ›Bunker‹, jene furchtbaren Privatgefängnisse, von denen jeder gute SA-Sturm mindestens einen besitzen mußte. Die ›Abholung‹ wird SA-Gewohnheitsrecht. Die Tüchtigkeit eines Standartenführers mißt sich nach der Zahl seiner Häftlinge, und das Ansehen eines SA-Rabauken wertet nach der Schlagkraft seiner Gefangenen- ›Erziehung‹.«