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[Das Gericht vertagt sich bis

28. August 1946, 10.00 Uhr.]

1 An der zitierten Stelle wurde versehentlich von den Ämtern III und IV gesprochen; gemeint sind aber die Ämter III und VI.

Zweihundertdreizehnter Tag.

Mittwoch, 28. August 1946.

Vormittagssitzung.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Herr Vorsitzender! Darf ich über den Brief von General Warlimont sprechen, den wir gestern in Verbindung mit dem Antrag von Dr. Laternser, Oberst Bürker aufzurufen, erörterten. Herr Vorsitzender! Die Anklagebehörde hatte die Gelegenheit, über den Brief zu beraten, und sie ist gerne bereit, den Teil des Briefes zuzulassen, der sich auf Oberst Bürker bezieht. Es ist Teil A des Briefes, der enthält, was Oberst Bürker sagen würde, wenn er vernommen würde. Wir sind gern bereit, das von Euer Lordschaft gestern vorgeschlagene Zugeständnis zu machen. Die anderen Teile des Briefes, B und C, beziehen sich auf eine Erklärung des Generals Warlimont selbst und auf die Erklärung eines Majors Meier. Dr. Laternser hat in Bezug auf diese Teile keinen Antrag gestellt und ist damit einverstanden, daß sie nicht verlesen werden. Dr. Laternser ist also mit unserem Vorschlag einverstanden, daß der erste Teil, die Erklärung von Oberst Bürker, so behandelt wird als wäre es seine tatsächliche Aussage im Zeugenstand.

VORSITZENDER: Dr. Laternser! Vielleicht wollen Sie den Abschnitt A des Briefes lesen.

DR. LATERNSER: Ich verlese aus einem Brief des Generals Warlimont:

»Nürnberg, den 23. August 1946. Herrn Rechtsanwalt Dr. Laternser.«

Ich lasse nun einiges aus und beginne:

»A) Vor etwa 10-14 Tagen erschien frühmorgens bei mir im Generallager Dachau der mir seit vielen Jahren bekannte, ebenfalls dort untergebrachte Oberst im Generalstab des früheren Heeres Bürker und berichtete mir, daß ihm am Abend vorher durch den Nachrichtendienst die russische Anklage gegen das OKW wegen angeblicher Vorbereitung des Bakterienkrieges bekanntgeworden sei. Er entsinne sich hierzu eines Vorganges aus seiner kurzen Tätigkeit als Chef der Organisationsabteilung des Wehrmachtführungsstabes, den er etwa wie folgt wiedergab.«

Nun in Anführungszeichen in direkter Rede wiedergegeben:

»Im Herbst 1943, wahrscheinlich später im September, erschienen bei mir in meinem Dienstzimmer drei mir unbekannte Herren, von denen einer der Heeressanitätsinspektion, einer vermutlich einer Forschungsstelle des Heereswaffenamtes angehörte, während ich mich an den dritten weder nach Namen noch dienstlicher Zugehörigkeit erinnern kann. Sie setzten mir auseinander, daß nach ihrer Ansicht die Forschungsarbeiten zur Abwehr eines etwa von feindlicher Seite unternommenen Bakte rienkrieges nicht oder nicht mehr genügten. Ihr Auftrag, der sie ausdrücklich auf Forschungen zur Abwehr beschränke, müsse erweitert werden. Es sei nach ihrer Überzeugung notwendig, alle Mittel, also wohl auch zu einem allenfallsigen Gegenangriff auszuschöpfen. Die Herren drängten mich, in diesem Sinne beim Chef des OKW (Keitel) vorstellig zu werden. Ich hatte erst Anfang September 1943 die Dienststelle als Chef der Organisationsabteilung nach einer vorausgegangenen Einarbeitungszeit von etwa zwei Monaten durch meinen Vorgänger (Oberst Münch, gefallen) übernommen und von dieser Frage bis dahin nicht das geringste gehört. Als ich bei meinem nächsten Vortrag beim Chef des OKW die Angelegenheit vorbrachte, war dieser höchst ungehalten. Er beschied mich in ungewöhnlich scharfem Ton etwa mit den Worten: ›Das ist doch längst verboten und kommt überhaupt nicht in Frage‹.«

VORSITZENDER: Dr. Kubuschok!

DR. EGON KUBUSCHOK, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON PAPEN, VERTEIDIGER FÜR DIE REICHSREGIERUNG:

Herr Präsident! Hohes Tribunal! Das von der Anklage beantragte Verfahren gegen die Organisationen ist in vieler Hinsicht ein Novum. Erstmalig stehen vor dem Strafrichter Organisationen mit Millionen von Mitgliedern, erstmalig wird ein Urteil über die Gesamtheit der zivilen und militärischen Leitung eines Staates erwartet. Die Bedeutung, aber auch die Problematik eines derartigen Verfahrens liegt damit zutage. Sie ergibt auch für den Verteidiger der einzelnen Organisation die Pflicht, sich mit den allgemeinen tatsächlichen und rechtlichen Problemen dieses Verfahrens zu befassen.

Die Anklage stützt ihren Antrag auf die Voraussetzung, daß es nach allgemeinen Rechtsanschauungen eine kollektive strafrechtliche Verantwortung gebe und daß infolgedessen auch eine kriminelle Verurteilung einer Gemeinschaft als solcher möglich wäre. Wenn sie diesen Rechtsgedanken mit Beispielen aus den Strafgesetzen der verschiedenen Kulturländer zu rechtfertigen versucht, so muß demgegenüber klargestellt werden, daß alle genannten Beispiele nicht eine kriminelle Verurteilung der Organisationen als solche ergeben, sondern immer nur die Verurteilung eines einzelnen Individuums wegen seiner Mitgliedschaft zu einer als verbrecherisch erkannten Organisation. Anders kann es auch nicht sein. Eine kriminelle Verantwortung kann nur für ein Individuum gegeben sein. Jedes Strafrecht geht von dem Begriff des Verschuldens aus, von der Erkenntnis des strafbaren Tatbestandes und der unbeirrten Willensbildung zur Vollendung dieses Tatbestandes. Nur bei einer natürlichen Person ist eine Erkenntnisfähigkeit und eine Willensbildung, mithin der Schuldbegriff als solcher, möglich.

Eine andere Frage ist es, ob man, hervorgerufen aus der Entwicklung unserer Zeit, die Organisation auf dem Gebiet verantwortlich macht, auf dem sie ihrer Natur entsprechend eine Schädigung der staatlichen Interessen bedingt. Dies ist das Gebiet der Ordnungswidrigkeit, nicht das des im Ethischen wurzelnden Kriminellen. Diese Ordnungswidrigkeiten zu verhindern, sind Gesetze geschaffen worden, die Organisationen als solche verantwortlich auf dem Gebiete ihrer schädigenden Wirkung mit Mitteln bestrafen, die die Organisation als solche treffen können. Eine Verwaltungs- oder Ordnungsstrafe für eine durch eine Organisation hervorgerufene Schädigung der staatlichen Interessen ist durchführbar und wegen ihrer Zweckmäßigkeit in den verschiedensten Staaten gesetzlich geregelt worden. Diese Verfahren sind aufgebaut auf einer lediglich objektiven Feststellung, unabhängig von einer ja nicht möglichen Prüfung der Schuldfrage.

Hiervon ausgehend ist die Frage zu prüfen, welche Bedeutung die von der Anklage beantragte Erklärung haben muß.

In ihr liegt zunächst einmal eine Feststellung mit einem historischen und einem wertenden Inhalt.

Weiterhin stellt die Feststellung des verbrecherischen Charakters der Organisation eine nachträgliche Verrufserklärung der inzwischen rechtlich und tatsächlich aufgelösten Organisation dar, darüber hinaus insbesondere eine Ächtungserklärung aller Organisationsmitglieder. Sie werden alle von der Erklärung erfaßt und damit in ihrer Auswirkung nach den Worten von Herrn Justice Jackson als »schlechte« Elemente von den »guten« Elementen getrennt.

Schließlich, und das ist die einschneidendste und zugleich bedenklichste Bedeutung dieser Erklärung: Sie schafft unter Berücksichtigung des Kontrollratsgesetzes Nummer 10 eine weitgehende Schuldfeststellung für das einzelne Mitglied. Das Kontrollratsgesetz Nummer 10 ist zunächst noch gewissermaßen ein Rahmengesetz. Die Bestimmung des Artikels II d stellt die Mitgliedschaft in Organisationen unter Strafe, die vom Tribunal als verbrecherisch erklärt worden sind. Ist nunmehr seitens des Tribunals ein derartiges Urteil ergangen, so ist damit die bisherige Lücke in der Strafbestimmung ausgefüllt. Der Name der verurteilten Organisation tritt nunmehr gewissermaßen in den Wortlaut der Strafbestimmung ein. Die verbrecherische Natur der Organisation scheidet jetzt als Tatbestandsmerkmal aus. Infolgedessen braucht die Kenntnis des einzelnen Täters auch nicht diese Eigenschaft der Organisation zu umfassen. Die strafbare Handlung, die nunmehr vom Gericht des Kontrollratsgesetzes abzuurteilen ist, liegt in der bloßen Mitgliedschaft. Nur die objektiven und subjektiven Elemente der Mitgliedschaft als solche unterliegen daher der Beurteilung des Gerichts. Das einzelne Mitglied, das in diesem Verfahren zur Verantwortung gezogen wird, sieht sich einer bereits inzident getroffenen Entscheidung gegenüber, die ihn aller anderen subjektiven und objektiven Einwendungen beraubt, die nicht seine Mitgliedschaft als solche betreffen. Er kann nicht mehr geltend machen, daß er die verbrecherischen Ziele der Organisation nicht gekannt hat, daß er sie nicht gefördert hat; auch seine Motive für seinen Eintritt oder sein Verbleiben in der Organisation können für die Frage seiner Schuld nicht mehr geltend gemacht werden.

Die Auswirkung der Inzident-Feststellung erfaßt darüber hinaus sogar noch den Tatbestand des Artikels II, Ziffer 2 e des Kontrollratsgesetzes, wonach das Mitglied der für verbrecherisch erkannten Organisation auch für alle diejenigen Verbrechen verantwortlich ist, deren Begehung bei der verurteilten Organisation festgestellt worden ist.

Das Urteil gegen die Organisation ist daher praktisch ein Urteil gegen das einzelne Mitglied, das der Organisation angehört hat. Durch die Fiktion einer kriminellen Verantwortlichkeit der Organisation wird damit dasjenige erreicht, was bisher in keinem der vorhandenen Strafrechtssysteme anerkannt ist: Die Schuld der Mitglieder wird abstrakt von ihnen losgelöst und in toto auf die Organisation übertragen mit der Folge, daß mit der Feststellung der Schuld der Organisation ein voller Schuldbeweis beim Einzelmitglied nicht mehr geführt zu werden braucht.

Erwägt man diese Folgen und auch die sämtliche Mitglieder unabdingbar treffende Ächtungswirkung der Erklärung, so kann man für die vom Gericht mangels gesetzlicher Bestimmungen vorzunehmende Definition des »verbrecherischen Charakters« der Organisation nur zu folgendem Ergebnis kommen: Das einzelne Mitglied muß zwangsläufig in die Betrachtung des Gerichts einbezogen werden; der Begriff der Organisation darf nur als die Summierung der Einzelmitglieder aufgefaßt werden. Demgemäß muß das jetzt beantragte Feststellungsverfahren als ein Verfahren gegen die individuellen Mitglieder und nicht gegen eine abstrakt benannte Organisation behandelt werden. Diese Erkenntnis gibt die Schwierigkeit des jetzigen Verfahrens, das nach der Ausführung der Anklagebehörde eine technische Erleichterung für die Durchführung des späteren Verfahrens sein soll, aber nach dem allgemein gültigen Gesichtspunkt der Individualschuld des Täters praktisch nur eine Verlagerung der Feststellung auf ein anderes Gericht ist. Dieses Gericht hat allerdings den Vorzug, daß es sich mit Rücksicht auf die Konnexität mit dem Verfahren gegen die 21 Individualangeklagten leichter und einheitlich ein Bild über die zugrunde liegenden tatsächlichen Fragen machen kann. An sich ist die Verlagerung von Feststellungen auf ein Gericht, das zwangsläufig global die gesamten historischen Geschehnisse betrachten muß, ein sehr gesunder Gedanke. Man darf aber nicht die Grenzen desjenigen verkennen, was praktisch möglich ist. Wenn dem Gericht nur die Aufgabe gestellt wäre, die historischen Vorgänge festzustellen und darüber zu urteilen, ob ein Kreis von Mitgliedern der angeklagten Organisationen sich hieran beteiligt hat, so wäre diese Aufgabe verhältnismäßig einfach zu lösen. Hier wird jedoch dem Gericht die Aufgabe gestellt, eine Erklärung über den Gesamtzweck und die Gesamtwirksamkeit einer Organisation abzugeben, eine Erklärung, die nach dem Gezeigten Wissen, Wollen und Handeln jedes einzelnen Mitgliedes der Organisation in Betracht ziehen muß. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, eine Grundlage für einen Urteilsspruch gemäß dem Wortlaut des gestellten Antrags zu finden.

Ein anderer allgemein rechtlicher Gesichtspunkt wird weiterhin bei der Definition des Begriffes »verbrecherische Organisation« nicht außer acht zu lassen sein.

Das jetzige Verfahren erfaßt mit seiner bereits in diesem Urteil ergehenden Ächtungserklärung und mit seiner für das spätere Verfahren gültigen Inzident- Feststellung das Mitglied der Organisation. Die Mitgliedschaft ist dasjenige, wofür er geächtet und weiterhin bestraft werden soll. Das Gesetz, das rückwirkend die Mitgliedschaft zu den in Betracht kommenden Organisationen als strafbar erklärt, ist zweifellos ein neues Gesetz. Die Rechtsfrage des rückwirkenden Gesetzes ist bei dem Verfahren gegen die 21 Einzelangeklagten bereits behandelt worden. Die Anklage hat hierbei erklärt, daß es gerechtfertigt sei, durch ein rückwirkendes Gesetz Taten zu erfassen, bei deren Begehung dem Täter ein Verstoß gegen das allgemeine moralische und Sittengesetz oder die Weltrechtsordnung bekannt war. Anders liegt der Fall jedoch bei der Anklage gegen die Organisationen. Jetzt wird nicht ein Urteil darüber gefällt, daß ein einzelner Täter in Erkenntnis des allgemeinen Unrechtsgehaltes trotz des zur Zeit der Tat nicht bestehenden Gesetzes eine Unrechtshandlung begangen hat, jetzt wird darüber entschieden, ob sich jemand durch die Tatsache der Mitgliedschaft zu einer Vereinigung strafbar gemacht hat. Unterstellt, daß die fragliche Organisation tatsächlich Ziele gehabt und sie durchgeführt hat, die einem allgemeinen sittlichen Gesetz oder der Weltrechtsordnung zuwiderlaufen, so ist damit noch nicht die Schulderkenntnis des Mitgliedes der Organisation beim Eintritt oder bei seinem Verbleiben ohne weiteres gegeben. Eine Organisation kann verbrecherisch sein, sie kann sich auch verbrecherisch betätigen und trotzdem braucht nicht unter allen Umständen das eintretende oder verbleibende Mitglied, selbst wenn es hiervon Kenntnis hat, hierdurch die Schuld derjenigen auf sich zu nehmen, die sich die verbrecherischen Ziele setzten und diese betätigten. Insbesondere wird dies offenkundlich bei einer Vereinigung, die ursprünglich einen legalen Zweck hatte und später teilweise oder ganz ein illegales Ziel sich setzte und verfolgte. Ein Mitglied, das dann noch verbleibt, kann aus den verschiedensten, nicht immer unmoralischen Motiven verbleiben. Es ist durchaus denkbar, daß ein solches Mitglied sich zu einem Verbleiben in der Organisation entschließt, weil es glaubt, nur bei seinem Verbleiben einen Einfluß auf die Durchführung der illegalen Ziele ausüben zu können, sei es, sie ganz oder teilweise verhindern oder zumindest abschwächen zu können. Ein solches Mitglied hat daher bezüglich der ihm zur Last gelegten strafbaren Tat, der bloßen Mitgliedschaft zu einer Vereinigung, nicht das Bewußtsein des kriminellen oder auch nur des moralischen Unrechts. Er kann diese Frage nur beurteilen nach demjenigen, was bezüglich der Mitgliedschaft zu Vereinigungen zur Zeit seiner Tat Gesetz war. Dieses Gesetz kann nur das seines eigenen Landes sein. Man kann das Mitglied nur auf das festlegen, was die Gesetze und die Rechtsprechung seines Landes an krimineller Verantwortlichkeit hinsichtlich der Mitgliedschaft zu Organisationen festgesetzt hat. Ich muß mich daher kurz mit dem befassen, was aus Gesetzen und Rechtsprechung zu dieser Frage einem deutschen Staatsangehörigen bisher abstrakt erkenntlich war.

Nur wenige deutsche Strafgesetze haben sich mit einer strafbaren Mitgliedschaft zu einer Vereinigung befaßt. Herr Justice Jackson hat sich in seiner Rede vom 28. Februar 1946 mit diesen Gesetzen auseinandergesetzt. Alle diese Gesetze betreffen immer nur ein Individualverfahren gegen ein Mitglied. Es ist feststehende Ansicht der deutschen Rechtswissenschaft und Judikatur zu den die Frage der Mitgliedschaft berührenden Paragraphen 128 und 129 des Strafgesetzbuches und anderen ähnlichen Gesetzesbestimmungen, daß zur Erfüllung des strafrechtlichen Tatbestandes nicht nur die formelle Mitgliedschaft genügt, vielmehr ein fortdauerndes Tätigwerden für die unerlaubten Zwecke der Vereinigung erforderlich ist. Das Mitglied muß seine Zugehörigkeit zu der Vereinigung durch die Tat beweisen und die unerlaubten Zwecke durch Handlungen bewußt fördern. Es wird nicht für genügend erachtet, daß das Mitglied in Kenntnis der unerlaubten Ziele der Vereinigung auch nach außen hin erkennbar in Erscheinung tritt und damit äußerlich zu erkennen gibt, daß es die Ziele auf Grund seiner Mitgliedschaft billigt, vielmehr muß es durch die eigene Tätigkeit in der Organisation sich an der Durchführung der Ziele beteiligen. Nach deutschem Recht kommt es daher nicht darauf an, ob ein Mitglied durch seine Zugehörigkeit zur Organisation nach außen hin den Anschein erweckt, daß es die Ziele der Vereinigung billigt, und daß es dadurch vielleicht in irgendeinem Umfange das Ansehen der Organisation in der Außenwelt stärkt. Es scheiden damit alle Fälle aus, bei denen eine Kenntnis der verbrecherischen Ziele oder auch nur eine Betätigung des Mitgliedes bei der Durchführung dieser Ziele nicht erwiesen ist, vor allem aber ganz besonders die Fälle, bei denen das Mitglied darüber hinaus die Ziele nicht billigt, vielmehr alles tut, um die Durchführung dieser Ziele zu verhindern oder sie zumindest zu mäßigen.

Ein Mitglied der Vereinigung konnte daher, falls es für den Eintritt oder das Verbleiben in einer Vereinigung sittlich einwandfreie Motive hatte, sich auf diese abstrakt gewonnenen deutschen Rechtsgrundsätze verlassen. Ein rückwirkendes Gesetz, das bei dieser Sachlage eine bloße Mitgliedschaft unter Strafe stellt, kann daher keinesfalls die von der Anklage im Falle der Einzelangeklagten versuchte Rechtfertigung finden. Hier liegt nicht, wie dort angenommen, ein Verstoß gegen eine allgemeine Rechtsordnung oder allgemeine sittliche Begriffe vor, die jedem bei seiner Handlung deren Unrechtsgehalt bewußt machen mußte. Ein solcher Verstoß ist, sofern nur die Motive für den Eintritt oder das Verbleiben moralisch nicht beanstandenswert sind, nicht gegeben.

Das Gericht muß daher bei Findung des seiner Beurteilung unterliegenden Begriffes »verbrecherische Organisation« die Kenntnis und die Tätigkeit des einzelnen Mitgliedes berücksichtigen: es muß festgestellt werden, daß das Mitglied durch seine Zugehörigkeit zur Organisation dessen verbrecherischen Zweck gebilligt und ihn tatsächlich durch Handlung gefördert hat.

Bei der Bestimmung des Verbrechensbegriffes wird weiterhin davon auszugehen sein, daß sämtliche Verbrechen des Paragraphen 6 der Charter auf den unerlaubten Krieg ausgerichtet sind, daß insbesondere auch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Paragraphen 6 c im Zusammenhang mit der Planung oder Durchführung eines derartigen Krieges stehen müssen.

Zusammenfassend möchte ich demzufolge folgendes feststellen: Die Organisation kann nur dann als verbrecherisch erklärt werden, wenn sämtliche Einzelmitglieder einen gemeinsamen Plan eines unerlaubten Krieges gefaßt haben oder einem solchen beigetreten sind, aus dem sich nach dem Willen der Planenden die Verbrechen der Charter ergeben. Die einzelnen Mitglieder müssen der Organisation nicht nur in dieser Erkenntnis beigetreten sein, sondern auch bewußt durch Betätigung diese Ziele gefördert haben.

Ich verkenne nicht, daß diese rechtliche Argumentation das Tribunal vor eine sehr schwierige Aufgabe stellt. Ich bin in meiner Deduktion von der Auffassung der Anklagevertretung ausgegangen, daß von der beantragten Erklärung auch die Schuldfrage des einzelnen Mitgliedes umfaßt wird, und daß dieses Mitglied im späteren Verfahren sich lediglich auf die Einwendungen beschränken kann, die sich auf die Tatsache der Mitgliedschaft selbst beziehen. Als absolut notwendige Folge dieser Auffassung ergibt sich, daß das Tribunal seine Entscheidung auf die Summe der Fälle der einzelnen Mitglieder abstellen muß, um zu verhindern, daß die jetzt ergehende Entscheidung bereits auch die Schuldigerklärung aller einzelnen Mitglieder enthält, ohne daß eine individuelle Prüfung der Schuldfrage bei jedem einzelnen stattgefunden hat, und somit auch die in Wahrheit Schuldlosen in Bausch und Bogen, ohne gehört worden zu sein, für mitschuldig erklärt werden. Um das zu vermeiden, könnte ein Weg nur darin gefunden werden, daß ein modifizierter Urteilsspruch lediglich objektiv historische Vorgänge feststellt, ohne damit gleichzeitig über das einzelne Mitglied und seine subjektive Schuld zu entscheiden.

Mir ist es klar, daß einer derartigen Modifizierung mit Rücksicht auf das Kontrollratsgesetz rechtliche Bedenken entgegenstehen können. Nur wenn das Gericht diese Bedenken ausschließen kann und damit tatsächlich gesichert ist, daß im Nachverfahren der Fall des einzelnen Mitgliedes in dem genannten Umfang geprüft wird, kann man einer solchen Lösung zustimmen.

Geht man davon aus, daß die Organisation letztlich die Summe der Einzelmitglieder darstellt, so ergibt sich, daß die Zweckgestaltung eine gemeinsame Willensbildung aller Mitglieder voraussetzt. Ohne die Gesamtheit der Mitglieder kann daher auch eine Abänderung des Zweckes einer bestehenden Organisation nicht erfolgen. Sämtliche Mitglieder müssen zumindest das neu gesetzte Ziel kennen und entschlossen sein, es zu fördern. Andernfalls würde sich, wenn dieses neu gesetzte Ziel verbrecherisch ist, die vorherige legale Organisation aufspalten in eine solche mit legaler Tendenz und in eine solche mit einer verbrecherischen Tendenz. Dann wäre es unmöglich, die Gesamtorganisation für verbrecherisch zu erklären.

Weiterhin dürfte die Frage zu prüfen sein, ob es zur Feststellung eines verbrecherischen Charakters einer Organisation genügt, daß zu dem bisherigen legalen Zweck nun ein weiterer verbrecherischer Zweck hinzukommt. Auch hier dürfte die vorherige Feststellung in Betracht zu ziehen sein, daß die Bezeichnung »verbrecherisch« den Gesamtzweck der Organisation personell und sachlich umfassen muß. Wenn der verbrecherische Zweck nur ein Teilzweck ist und dieser genügen sollte, um die Organisation insgesamt für verbrecherisch zu erklären, so würde man mit dieser allgemeinen Feststellung gleichzeitig den legalen Zweck diskreditieren. Müßten dann nicht sogar diejenigen Akte, die in Erfüllung des legalen Zweckes getroffen worden sind, als Akte einer insgesamt verbrecherischen Körperschaft rechtsungültig sein? Auf den Fall der Reichsregierung angewendet erscheint es mir unmöglich, die Institution als solche für uneingeschränkt verbrecherisch zu erklären, wenn gleichzeitig daran kein Zweifel bestehen kann, daß zumindest die unzweifelhaft legalen Akte rechtswirksam gewesen sind. Die Gesetzgebung der Reichsregierung seit dem 30. Januar 1933, die alle staatlichen Verwaltungsgebiete umfaßt, hat zum überwiegenden Teil auch heute noch ihre Rechtsgültigkeit. Es wäre ein Unding, diese legislativen Akte als gültig anzusehen, wenn die Zweckbestimmung der Regierung uneingeschränkt verbrecherisch gewesen ist.

Als weitere Voraussetzung für die von der Anklage beantragte Erklärung ist die Freiwilligkeit zur Mitgliedschaft anzusehen. Eine Freiwilligkeit, die nicht nur beim Eintritt zur Organisation vorliegen muß, sondern insbesondere bei der Zweckwandlung, auch beim Verbleiben in der Organisation. In tatsächlicher Hinsicht wird daher zu prüfen sein, ob die Freiwilligkeit des Verbleibens in der Regierung jederzeit gewährleistet war oder ob die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse sie zumindest von einem gewissen Zeitpunkt an aufgehoben haben.

Schließlich wird die Frage zu prüfen sein, ob unter den von der Anklage als Reichsregierung erfaßten Personen zu aller Zeit ein kohäsiver Zusammenhang bestanden hat. Nur ein solcher würde es rechtfertigen, irgendwelche Handlungen, die der Regierung zur Last gelegt werden, als von der Gesamtheit begangen anzusehen. Dieses Problem liegt schon deswegen auf der Hand, weil die Anklage, die auch ihrerseits ganz allgemein ein kohäsives Zusammenwirken der Organisationsmitglieder als erforderlich ansieht, die von ihr mit »Reichsregierung« bezeichnete Personeneinheit durch das Kriterium des Rechts zur Teilnahme an den Kabinettssitzungen begrifflich gewonnen hat. Da diese Kabinettssitzungen im Laufe der Zeit eingestellt worden sind, wird zu prüfen sein, ob später an ihrer Stelle irgendein anderes gemeinsames Band die Mitglieder bei der Ausübung der für die Anklage zu betrachtenden Tätigkeit in der gleichen Weise verbunden hat.

Von diesen allgemeinen, das Organisationsproblem als solches und das spezielle Problem des Falles der Reichsregierung behandelnden Erwägungen ausgehend, ist nun das Ergebnis der Beweisaufnahme zu prüfen, um festzustellen, ob die erörterten Erfordernisse für eine Verurteilung gegeben sind.

Ich darf mich zunächst der personellen Begrenzung der angeklagten Personenmehrheit zuwenden. Die Anklage geht von dem Recht an der Beteiligung an den Kabinettssitzungen aus. Sie unterstellt hierbei wohl, daß die von ihr angenommene verbrecherische Tätigkeit im Rahmen des durch die Sitzungen gewährleisteten personellen Zusammenhanges erfolgt ist. Sie übersieht hierbei jedoch, daß eine Anzahl von den Personen, die sie in Appendix A und B des Trial- Briefes aufführt, lediglich berechtigt waren, in den Kabinettssitzungen bei denjenigen Beratungen teilzunehmen, die ihr Ressort betrafen. Wenn die Anklage offensichtlich darauf ausgeht, die Beschlußbildung der gesamten Teilnehmer, insbesondere in allgemeinpolitischen Fragen zu erfassen, so wird man diejenigen Mitglieder, die nur zur gelegentlichen und teilweisen Beratung ein Anwesenheitsrecht hatten, bei der in Frage kommenden Gemeinschaft von vornherein ausschließen müssen. Ich verweise insoweit auf Appendix A und B, wo die Anklage bei den einzelnen von ihr erfaßten Personen den Umfang ihres Teilnahmerechts dargelegt hat.

Zu dem Appendix B möchte ich bemerken, daß die Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile, also Fritsch, Brauchitsch, Raeder, Dönitz, nach dem im Appendix C angeführten Erlaß vom 25. Februar 1938 nur auf Anordnung Hitlers, also nicht allgemein berechtigt waren, an den Kabinettssitzungen teilzunehmen.

Zu der Rechtsfrage im Falle Keitel verweise ich auf das Plädoyer Dr. Neltes. Auch Schirach war nur dann teilnahmeberechtigt, wenn sein Geschäftsbereich berührt war.

Bei Axmann ist dies im Appendix B richtig vermerkt, bei Schirach jedoch übersehen worden. Die Aufstellung im Appendix B ist also bei Fritsch, Brauchitsch, Raeder, Dönitz, Keitel und Schirach insoweit zu ergänzen.

Über die dortigen Feststellungen hinaus glaube ich, daß auch das Teilnahmerecht des Reichskommissars Gereke beschränkt war. Dieser Fall erscheint übrigens auch besonders erwähnenswert, weil Gereke bereits im April 1933 ausgeschieden ist.

In diesem Zusammenhang sind auch diejenigen zu erwähnen, die zwar ein Teilnahmerecht an den Kabinettssitzungen, aber kein Stimmrecht hatten, und nur informationshalber anwesend waren. Es sind dies die Fälle des Reichspressechefs Dietrich und des Staatsministers Meißner.

Die Frage der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft zur Reichsregierung kann nicht einheitlich beantwortet werden. Für die Frage des freiwilligen Eintritts in die Regierung werden die Fälle besonders zu berücksichtigen sein, bei denen Staatssekretäre, die vorher nicht zu dem Kreis der von der Anklage umfaßten Personen gehörten, durch Ausscheiden ihres vorgesetzten Ministers nunmehr mit der Führung der Ministergeschäfte beauftragt und damit zur Teilnahme an den Kabinettssitzungen berechtigt waren. Diese sind gewissermaßen organisch in ihrer Beamtenlaufbahn in ihr neues Amt hineingewachsen.

Die Frage des Verbleibens eines Mitgliedes im Kabinett ist zeitlich verschieden zu beurteilen. Rechtlich ist dabei folgendes zu beachten: Nach Paragraph 11 des Reichsministergesetzes vom 27. März 1930 konnten die Reichsminister jederzeit ihre Entlassung verlangen. Eine Änderung der Rechtslage könnte bereits durch das Ministervereidigungsgesetz vom 17. Oktober 1934 (Dokument Nummer 22) eingetreten sein. Danach hatten die Minister Hitler Treue und Gehorsam zu schwören. In einer Rücktrittserklärung könnte ein Treue- und Gehorsamsbruch erblickt werden und diese deshalb rechtlich unzulässig sein. Die Frage kann jedoch praktisch wohl dahingestellt bleiben; die rechtliche Konsequenz aus dem Ministereide wurde in jedem Falle durch das deutsche Beamtengesetz vom 26. Januar 1937 (2340-PS), in Kraft getreten am 1. Juli 1937, ausdrücklich gesetzlich festgelegt. Durch dieses Gesetz wird das Reichsministergesetz vom 27. März 1930 aufgehoben. Durch seinen Paragraph 161 wird nunmehr festgelegt, daß die Reichsminister nur noch durch Hitler entlassen werden können.

Rechtlich ist also ab 1. Juli 1937 eine Demission eines Kabinettsmitgliedes nicht mehr möglich. Man wird mir entgegenhalten, daß trotzdem Fälle vorliegen, bei denen Kabinettsmitglieder ihre Entlassung erreicht haben. Die Fälle Gereke, Hugenberg, Papen, Schmidt und Eltz von Rübenach, die vor diesem Zeitpunkt liegen, müssen hierbei außer Betracht gelassen werden.

In der Folgezeit haben sich verschiedene Kabinettsmitglieder bemüht, ihren Rücktritt zu erreichen. Sie sind überwiegend erfolglos geblieben, wie wir es oftmals bei der Zeugenvernehmung der Einzelangeklagten gehört haben. Manche erreichten nur, daß sie zwar aus ihrem Ressort entlassen, aber nach außen hin mit einem neuen Titel oder einem neuen Amt bedacht wurden, durch das sie nunmehr auch wiederum in den Kreis der von der Anklage erfaßten Personen fallen. Darre wurde seiner Amtsgeschäfte enthoben, sogar verbannt, jedoch konnte er seine formelle Entlassung als Minister nicht erreichen. Schacht hat lange deswegen seinen Bruch mit Hitler betrieben, der Weg führte ihn schließlich in das Konzentrationslager. Staatsminister Popitz wurde als Beteiligter am Komplott vom 20. Juli 1944 hingerichtet.

Wir sehen also, daß ungeachtet der Rechtslage auch tatsächlich für ein Kabinettsmitglied keine Möglichkeit bestand, entgegen dem Willen Hitlers auszuscheiden.

Die Anklage selbst gibt zu, daß neben der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft auch ein kohäsives Zusammenwirken der Mitglieder festgestellt werden muß, um die Reichsregierung als Organisation oder Gruppe im Sinne des Statuts anzusehen. Sie meint, daß dieser kohäsive Zusammenhang durch die Kabinettssitzungen und das Umlaufverfahren gewährleistet sei. Ich werde im folgenden darlegen, daß ein kollektives Zusammenwirken der Kabinettsmitglieder nicht bestanden hat, daß darüber hinaus in der Entwicklung sogar eine absolute Aufspaltung des Kabinetts erfolgt ist. Nach der Beweisaufnahme ergibt sich, daß drei Faktoren, die stärkstens ineinander übergreifen, die Zerreißung jedes inneren Zusammenhanges des Kabinetts bewirkt haben. Es sind dies die drei folgenden Erscheinungen:

1. Die Durchsetzung der Alleinherrschaft Hitlers, die sich immer mehr ausweitet bis zur absoluten Diktatur.

2. Die Begründung von Über- und Unterordnungsverhältnissen der zunächst gleichberechtigten Minister im Kabinett selbst durch Weisungsbefugnisse der Generalbevollmächtigten, Sonderbeauftragten und so weiter.

3. Eine peinlichst überwachte Geheimhaltung, die dem einzelnen Minister den Blick über sein Ressort hinaus versperrt und damit die letzte Möglichkeit eines überressortmäßigen Zusammenhaltens ausschließt.

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, die dahingehende Entwicklung historisch zu betrachten und ihre Gründe aufzuzeigen.

Man könnte geneigt sein, bei den Reichsregierungen bis zum Jahre 1932 eine »Kabinettssolidarität« anzunehmen. Damals fanden laufend Kabinettssitzungen statt, bei denen alle Gesetzesentwürfe sowie Meinungsverschiedenheiten über Fragen, die den Geschäftsbereich mehrerer Minister berührten, zur Beratung und Beschlußfassung vorgelegt wurden. Bei der Beschlußfassung entschied die Stimmenmehrheit. Und dennoch wird schon für den damaligen Zustand von Praxis und Wissenschaft eine kollektive Ministerverantwortlichkeit abgelehnt. In dem maßgeblichen »Handbuch des deutschen Staatsrechtes« von Anschütz und Thoma schreibt der bekannte Staatsrechtslehrer Freiherr Marschall von Biberstein im Jahre 1930 auf Seite 529 – ich zitiere:

»Allgemeine Grundsätze lassen die Bejahung einer Kollektiv-Verantwortlichkeit für Mehrheitsbeschlüsse höchst bedenklich erscheinen, zumal überhaupt im Rechtsleben von Verantwortlichkeit nur im Hinblick auf zurechnungsfähige Wesen die Rede sein kann. Eine feste Staatspraxis im Sinne einer solchen Bejahung läßt sich für das Reich nicht nachweisen, im Gegenteil: Die zuständigen Minister stehen persönlich... ein... Vor allem kennt die deutsche politische Praxis den Grundsatz der ›Kabinettssolidarität‹, wie er im Ausland, vor allem in England, mit der Folge einer Gesamthaftung für alle Einzelhandlungen... anerkannt ist, nicht.«

Diese Verneinung einer Kollektivhaftung gilt nicht nur für die Verantwortung der Minister vor dem Reichstag, sondern auch in dem Verfahren vor dem Staatsgerichtshof, vor dem die Minister wegen ihrer Tätigkeit – in weiter Anlehnung an das englische Impeachment – angeklagt und verurteilt werden konnten.

Es kommt hinzu, daß damals auch schon der Beschlußfassung des Kabinetts und damit der freien Willensentscheidung der Minister eine Schranke gesetzt ist: In dem Recht des Reichskanzlers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, wofür er dann auch die alleinige Verantwortung trägt. Über diese Weisungen des Reichskanzlers gab es keine Diskussionen und Beratungen; sie waren für die Minister verbindlich. Biberstein schreibt hierüber in seiner Abhandlung auf Seite 528:

»Anders bei den Beeinträchtigungen, die... seine« – des Ministers – »freie Entschließung durch die Verbindlichkeit der richtunggebenden Weisungen des Kanzlers erleidet. Da ihm deren Einhaltung zur Pflicht gemacht ist, steht er ihnen ähnlich gegenüber wie in der Behördenhierarchie ein Untergebener den Anordnungen einer vorgesetzten Instanz: Die eigene Prüfung der Pflichtmäßigkeit seines Verhaltens wird ihm dadurch genommen und soweit diese wirkt, bleibt ihm nur noch zu verantworten, ob er weisungsgemäß, nicht aber ob er richtig gehandelt hat. Hierfür geht die Verantwortung auf den Anweisenden über.«

Auch dies gilt für das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof, dem deutschen Impeachment.

So müssen wir also bereits für die Zeit einer rein demokratischen deutschen Staatsform und Staatspraxis erkennen, daß trotz regelmäßiger Kabinettssitzungen eine »Kabinettssolidarität« nicht vorhanden war und die Minister zumindest dann nicht in einem kohäsiven Zusammenhang wirkten, wenn der Reichskanzler in der Kabinettssitzung von seinem Recht Gebrauch machte, die Richtlinien der Politik zu bestimmen.

Für die Zeit vor der Bildung der Regierung Hitlers wird man ferner beachten müssen, daß die Regierungsgewalt auf Grund des angewandten Notverordnungsrechtes sich allmählich auf die Person des Reichspräsidenten verschoben hatte. Wir sehen damals bereits den normalen Gesetzgebungsfaktor, den Reichstag, nur noch verschwindend wenig gesetzgeberisch tätig; die maßgeblichen Gesetze werden im Wege des Notverordnungsrechtes vom Reichspräsidenten erlassen. Die Minister sind daher nur noch Ratgeber des Reichspräsidenten. Symptomatisch für diese Entwicklung ist, daß bereits das Kabinett Papen von Hindenburg bewußt als Präsidialkabinett gebildet war, daß dieses Kabinett durch Leute des Vertrauens Hindenburgs, die dieser als Fachminister berufen hatte, zusammengesetzt wurde. Die Stellung des Reichskanzlers wurde damit in ihrer Bedeutung wesentlich gehoben, da weder die Minister noch der Reichskanzler als Exponenten der Parteien berufen waren und demzufolge den Parteien unabhängiger gegenüberstanden, als dies bisher der Fall war. Der Reichskanzler war der Verbindungsmann des Kabinetts zu dem Reichspräsidenten. Gerade diese Stellung verschaffte ihm ein deutliches Übergewicht über die anderen Minister.

In dieser Lage wurde Hitler Reichskanzler.

Auch sein Kabinett ist in der Anfangszeit wiederum ein Präsidialkabinett, das sich auf das Vertrauen des Reichspräsidenten und dessen Notverordnungsrecht stützt. Bis zum Erlaß des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 sind sämtliche Gesetze im Wege der Notverordnung erlassen worden und unterliegen damit der Verantwortlichkeit des Reichspräsidenten.

Das Ermächtigungsgesetz bildete den entscheidenden Faktor für die weitere Entwicklung. Die gesetzgeberischen Vollmachten wurden nunmehr der Reichsregierung übertragen.

Diese richteten sich nun nicht an Hitler persönlich, sondern an die Reichsregierung. Ich will nicht behaupten, daß für den Reichstag der damaligen Zeit Hitler schon soviel wie Reichsregierung bedeutet hätte. Aber zweifellos war der Reichstag beeindruckt von der lange geübten Regierungspraxis der Notverordnungen. Deswegen bezweckte dieses jetzt von dem Reichstag neugeschaffene Notrecht seinem Wesen nach nichts anderes, als diesen Zustand für eine künftige Notzeit zu legalisieren. So richteten sich auch die Vollmachten an eine Reichsregierung von einer solchen inneren Struktur, Art und Arbeitsweise, wie sie sich im Laufe der Präsidialkabinette gebildet hatte. Gewiß wurde Hitler nicht die Eigenverantwortlichkeit übertragen, die der Reichspräsident beim Erlaß der Notverordnungen übernahm. Aber in gewisser Weise sprang er doch in eine Lücke, die durch die Ausschaltung des Reichspräsidenten jetzt entstanden war, ein. Äußerlich kam dies dadurch zum Ausdruck, daß ihm dessen Recht, Gesetze auszufertigen, übertragen wurde. Sein Recht, als Kanzler die grundlegenden Richtlinien der Politik zu bestimmen, kam hinzu. Beide Faktoren zusammen ergaben zweifellos eine erhebliche Stärkung der Machtposition Hitlers im Kabinett gegenüber seinen Ministern. Der Keim für seine spätere Alleinherrschaft war gelegt.

In der Arbeitsweise des Kabinetts tritt dies zunächst noch nicht mit aller Klarheit in Erscheinung. Es findet zwar eine Beschlußfassung nicht mehr statt, doch werden Widersprüche der Minister beachtet, die im Einzelfall zur Zurückziehung radikaler Gesetzesentwürfe oder deren Milderung führen. Stärker tritt jedoch bereits das Recht des Reichskanzlers zur Bestimmung der grundlegenden politischen Richtlinien in Erscheinung. Hitler nimmt dieses Recht für sich in Anspruch und weist auf seine ihm allein übertragene Verantwortung hin. Wichtiger jedoch als diese Entwicklung im Innern des Kabinetts sind die Einflüsse, die von außen herangetragen werden. Die Partei begibt sich an die Arbeit und betreibt alles das, was die Regierung bewußt nicht anfaßt. Der Judenboykott und die Zerschlagung der Gewerkschaften sind Maßnahmen der Partei. Die Ideen der Partei greifen auf die Masse über. Sie macht das, was die Partei gern mit dem Schlagwort »Revolution« bezeichnet. Der Zeuge Gisevius hat diese Entwicklung in seinem Buche auf Seite 141 bis 143 folgendermaßen zusammengefaßt. Ich zitiere:

»Nicht Einzelne stoßen zum Nationalsozialismus, nein, die Masse als Masse geriet in Bewegung. Weil niemand hinter den Ereignissen herhinken will, bemühen sich alle miteinander, der revolutionären Entwicklung eine halbe Nasenlänge zuvorzukommen. Nur aus diesen wechselseitigen Impulsen, aus diesen irrationalen Seelenvorgängen der Masse heraus, läßt sich die totale Gleichschaltung verstehen, die sich in diesem Frühsommer 1933 zwar mit raschem Nachdruck, aber irgendwie doch freiwillig und spontan vollzieht.... Als Masse schaffen sie einen neuen Willen, erzwingen sie eine neue Richtung.«

Von dieser Bewegung lassen sich auch die alten politischen Parteien mit erfassen. Sie lösen sich freiwillig auf. Nicht genug damit, sie geben Hitler auch noch die Erklärung, daß ihre früheren Mitglieder loyal im nationalsozialistischen Staate mitarbeiten werden, sie fordern ihre früheren Mitglieder hierzu auf. Die Bayerische Volkspartei gibt

»für jeden bisherigen Angehörigen ihrer Partei den Weg frei, unter der unmittelbaren Führung Adolf Hitlers am Aufbau des neuen Deutschlands mitzuwirken«.

Die Zentrumspartei gibt mit ihrer Auflösung – ich zitiere –

»ihren Anhängern die Möglichkeit, ihre Kräfte und Erfahrungen der unter Führung des Herrn Reichskanzlers stehenden nationalen Front zur positiven Mitarbeit im Sinne der Festigung unserer nationalen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse und zur Mitwirkung am Neuaufbau einer rechtsstaatlichen Ordnung rückhaltlos zur Verfügung zu stellen«.

Ja sogar die Sozialdemokratische Partei steht teilweise nicht nach, wenn der Landesvorstand der Sozialdemokratischen Partei Württembergs den Inhabern ihrer Mandate empfiehlt,

»ihre Tätigkeit in einem Sinne auszuüben, der weder einen Zweifel an ihrer nationalen Gesinnung noch an dem guten Willen zuläßt, die politische Neubildung Deutschlands nach den Plänen der nationalen Revolution zu unterstützen«.

Die auch insoweit beeinflußte Haltung der Massen spiegelt sich wider in dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 12. November 1933, in der über 90 Prozent der Wähler für die NSDAP stimmten. Ich bin mir bewußt, daß die Richtigkeit dieses Wahlergebnisses und die Korrektheit der Durchführung der Wahl Zweifeln unterliegt. Was auch immer hierbei im Wege der Wahlbeeinflussung und Wahlfälschung geschehen sein kann, das eine ist für jeden objektiven Beobachter der damaligen Verhältnisse nicht zu bezweifeln, daß das Ergebnis derartiger Manipulationen zahlenmäßig keinesfalls so bedeutend gewesen sein kann, daß nur dadurch tatsächlich eine überwiegende Mehrheit erreicht wurde.

Es läßt sich nicht leugnen, daß unter den damaligen Verhältnissen der überwiegende Teil der Wähler in der Hoffnung, eine Änderung der bestehenden schwierigen Verhältnisse zu erreichen, ihre Erwartung auf die Partei setzten, bei der man bereits einen Teilerfolg ihrer wirtschaftlichen Maßnahmen glaubte erblicken zu können. Wenn man bedenkt, wie die Auffassung der Partei damals sich in den Massen durchgesetzt hatte, und daß der Gedanke der Partei in der Persönlichkeit Hitlers kulminierte, so war eine derartige Abstimmung und eine derartige Volksmeinung die Bestätigung des Führergedankens an sich. Die Abstimmung war eine Vollmacht für den Obersten Parteiführer und den Führer der Regierung, den Reichskanzler.

Durch diese Entwicklung wurde einerseits der Wille Hitlers zur Inanspruchnahme seiner Machtposition gestärkt, andererseits glaubten auch die meisten Kabinettsmitglieder, einer solchen Entwicklung nicht hindernd im Wege stehen zu können. Diese Erwägungen mögen auch nicht unbeeinflußt von den Gedanken gewesen sein, daß einer Inanspruchnahme einer derartigen Machtposition durch Hitler praktisch ein Widerstand nicht entgegenzusetzen war. Man beschränkte sich daher im wesentlichen darauf, eine radikale Entwicklung zu vermeiden und den außerhalb des Staatsapparates vorgenommenen Änderungen nach Möglichkeit die Härte zu nehmen. So sehen wir die Gesetzgebung einen von außen geschaffenen Zustand bereinigen, ihn gesetzlich in eine gemäßigtere, geordnete Form bringen. Wenn man demgegenüber den Mitgliedern des Kabinetts den Vorwurf macht, daß sie unrechtmäßige Zustände vielleicht zwar abgemildert, ihnen aber doch eine gesetzliche Grundlage verschafft hätten, so richten sich diese Vorwürfe in verstärktem Maße gegen die Männer im Kabinett aus dem bürgerlichen Lager.

Sie, die nach den Absichten bei der Bildung des Kabinetts dazu berufen waren, den nationalsozialistischen Einfluß zu beschränken, hätten danach sich nicht mit allen Kräften der unheilvollen Entwicklung widersetzt. Sie hätten der beeinflußten unvernünftigen Masse sich warnend entgegenstellen und schließlich unter alarmierendem Protest ihr Amt aufgeben müssen. Es ist müßig, die Frage zu prüfen, ob das Verhalten dieser Männer politisch richtig war oder nicht, ob es schwache Männer waren, die glaubten, einen vielleicht hoffnungslosen Widerstand vermeiden zu sollen; wesentlich ist für die strafrechtliche Betrachtung der Dinge nur der Gesichtspunkt, ob damals zu erkennen war, daß die Entwicklung eine Vorbereitung auf dasjenige gewesen ist, was später geschah und von der Charter unter Anklage gestellt wird. War mit der Bildung der Regierung der Ausbruch einer wirklichen Revolution, eines Bürgerkrieges, vermieden worden, so konnten sie sich berechtigt glauben, der allgemeinen Stimmung wenigstens Teilopfer zu bringen, um eine gefährliche Reaktion der aufgeputschten Massen zu vermeiden. Es konnte vernünftigerweise jedoch die Hoffnung bestehen, daß die Entwicklung im Rahmen ihrer gesetzlichen Begrenzung ihr natürliches vernünftiges Ende finden würde. Politisch war dies zweifellos falsch gedacht. Man unterschätzte die Tendenzen derjenigen, die auch später die Dinge radikalisierend immer weiter vorwärts trieben. Es wird jedoch zu bedenken sein, daß gerade diejenigen Kabinettsmitglieder, die aus dem bürgerlichen Lager stammten, von dem Gedanken nicht freikommen konnten, daß bei dem verantwortlichen Staatslenker die Grenze der Entwicklung in der praktischen Vernunft gefunden werden könnte.

Diejenigen Minister, die mit diesem Kurs nicht einverstanden waren, versuchten, mit allerdings nachlassendem Erfolg, die Entwicklung aufzuhalten. Ihr Bemühen wurde um so erfolgloser, als die Autorität des Reichspräsidenten, das Gewicht der bürgerlichen Rechten und auch die Stellung der Reichswehr nachließen, ein Gegengewicht zu bilden. Hitler verstand es, Hindenburg für sich einzunehmen. Die bürgerliche Rechte bildete keine geschlossene Einheitsfront mehr, große Teile spalteten sich ab und gingen zu den Nationalsozialisten über. Die Parteien lösten sich auf, ihre Anhänger waren nunmehr des Zusammenhalts beraubt. Blomberg wurde ein Gefolgsmann Hitlers. Die in Betracht kommenden Minister hatten daher keine Stütze von anderer Seite. Hitler spielte ihnen gegenüber seine Berufung durch das Volk und seine alleinige Verantwortung gegenüber dem Volke aus. Ein offener Protest erwies sich praktisch als undurchführbar. Die Veröffentlichung der Marburger Rede Papens war verboten worden, sein darauf begründetes Ausscheiden aus dem Kabinett machte den Kreis der mit der Entwicklung unzufriedenen Minister nur kleiner und damit einflußloser. Jeder Minister, der sich die Frage seines Rücktritts vorlegte, mußte damit rechnen, daß sein Posten mit einem neuen Mann besetzt werden würde, der diese Entwicklung nicht hemmte, sondern nur förderte. Ein Minister, der mit seinem Ressort wirklich verbunden war, wollte sein Arbeitsgebiet nicht gern in derartige neue Hände legen. Es ist klar, daß diejenigen, die vor diese Frage gestellt waren, dasjenige, was sie auf ihrem Arbeitsgebiet hemmend und korrigierend bei der Durchführung der Gesetze, bei der Personalpolitik und auch sonst mühsam erreicht hatten, nicht gefährden und auch in der Zukunft in diesem Sinne weiterarbeiten wollten.

Das Staatsoberhauptgesetz vom 1. August 1934 ist die gesetzliche Zusammenfassung und der Schlußstrich unter die bisherige Entwicklung. Das Gesetz ist ein Kabinettsgesetz. Hitler verlangte die Vereinigung seines Amtes mit dem des Reichspräsidenten. Nach seiner Erklärung sollte diese Vereinigung keine Endlösung sein, es sollte nur die augenblickliche Lage berücksichtigt werden, daß er selbst ein neues Staatsoberhaupt über sich nicht anerkennen, andererseits aber auch sein Amt als Reichskanzler nicht aufgeben könnte. Er wies darauf hin, daß ein nach dem Tode Hindenburgs zu beantragender Volksentscheid die Sanktionierung dieser Maßnahme bringen würde. Bei dieser Sachlage glaubte das Kabinett, sich dem Antrag Hitlers nicht entgegenstellen zu können. Das Ergebnis der Volksabstimmung war von vornherein klar. Hitler hätte unter allen Umständen, auch bei Weigerung des Kabinetts, das Gesetz zu erlassen, sein Ziel erreicht. Das Kabinettsgesetz vom 1. August 1934 stellt daher praktisch nichts anderes dar als ein vorbereitendes Gesetz, das in jedem Falle durch Volksabstimmung erreichbar war und auch erreicht wurde. Die gesetzliche Sanktionierung der Diktatur war daher nur eine Bestätigung der bisherigen Machtverhältnisse und eine Konsequenz des damals vorhandenen überwiegenden Volkswillens.

Mit diesem Gesetz war nicht nur machtpolitisch, sondern auch staatsrechtlich eine klare Lage entstanden. Das Gesetz stellt die völlige Durchsetzung des monokratischen Prinzips auf dem staatlichen Sektor dar. Hitler vereinigt in seiner Person die Rechte des Reichspräsidenten, insbesondere das Notverordnungsrecht mit den Rechten des Reichskanzlers, die grundlegenden Richtlinien der Politik zu bestimmen. Schließlich erhält er in seine Hand als Oberbefehlshaber der Wehrmacht den stärksten Machtfaktor im Staate. Praktisch ist damit nunmehr jedes staatliche Organ von seinem Willen abhängig und muß seinen Weisungen Folge leisten. Auch das Reichskabinett macht hiervon keine Ausnahme. Nach außen hin tritt dies noch besonders durch das Gesetz über den Eid der Reichsminister vom 16. Oktober 1934 in Erscheinung. Der neue Ministereid stimmt mit dem allgemeinen Beamten- und Soldateneid überein und zeigt, daß die Stellung des Ministers sich zu der eines obersten weisungsgebundenen Staatsbeamten gewandelt hat.

Entsprechend dieser rechtlichen Lage wandelt sich auch die Arbeitsweise des Kabinetts und die Bedeutung der Kabinettssitzungen. Soweit es sich um außenpolitische Entscheidungen handelte, gab Hitler nur seine Entschließungen, zumeist in einem großen Monolog über die allgemeine politische Lage, bekannt. In späterer Zeit handelte er und unterrichtete er das Kabinett nur von den vollzogenen Tatsachen. Die Besetzung des Rheinlandes erfährt das Kabinett durch ihn, als die Truppen bereits einmarschiert waren. Bei den grundsätzlichen innenpolitischen Maßnahmen, wie zum Beispiel den Nürnberger Gesetzen, wurde das Kabinett als solches vorher nicht beteiligt. Die Mehrzahl der Minister wurde in der Reichstagssitzung des Nürnberger Parteitages von dem Gesetzesvorschlag überrascht. Bei Gesetzesentwürfen von minderer, mehr verwaltungsmäßiger Bedeutung wurde nur der fertige Gesetzesentwurf und seine Begründung vorgetragen. Um die Äußerung ressortmäßiger Bedenken in der Kabinettssitzung zu vermeiden, wurden nach einer Weisung Hitlers die Entwürfe vorher »kabinettsreif« gemacht, das heißt in einer Vorbesprechung den Fachministern Gelegenheit gegeben, ihre ressortmäßigen Bedenken gegenüber dem federführenden Ressortminister vorzubringen. Erst nach Beseitigung dieser Bedenken gelangte der Entwurf in die Kabinettssitzung. Für eine Beratung in der Kabinettssitzung war daher kein Raum mehr. Erwägungen allgemeinpolitischer Art, die diese Entwürfe berührten, unterlagen der alleinigen Entscheidung Hitlers. Tauchte daher einmal eine allgemeine politische Frage auf, bei der der Standpunkt Hitlers noch nicht bekannt war, so wurde die Ressortverhandlung bis zur Einholung seiner Weisung ausgesetzt. Die Kabinettssitzungen hatten damit nicht nur jede politische Bedeutung, sondern auch einen praktischen Zweck verloren. Hitler rief daher das Kabinett nur noch in immer größeren Zeitabschnitten zusammen, bis schließlich nach einer letzten Zusammenkunft im Februar 1938, die lediglich zur Empfangnahme einer Erklärung Hitlers bestimmt war, keinerlei Kabinettssitzungen mehr stattgefunden haben.

An die Stelle der Kabinettssitzungen trat nunmehr ausschließlich das Umlaufsverfahren. Die Gesetzesentwürfe wurden von dem federführenden Minister aktenmäßig den übrigen Kabinettsmitgliedern zur Geltendmachung von Einwendungen auf dem Gebiete des eigenen Ressorts vorgelegt. Es versteht sich von selbst, daß politische Grundfragen und politische Maßnahmen, die Hitler ja nach eigenem Ermessen entschied, nie Gegenstand des Umlaufsverfahrens waren. Von den großen politischen Ereignissen erlangten die meisten Minister, wie die Beweisaufnahme gezeigt hat, nicht anders Kenntnis als jeder andere. Sie erfuhren die Tatsachen meist nachträglich durch Presse oder Rundfunk, sofern nicht zufällig auf einem geheimen, auch für sie unerlaubten Wege etwas zu ihnen durchsickerte. Diese Wege mögen in der Sphäre der Minister zahlreicher gewesen sein als anderswo. Ein umfassendes und verbürgtes Gesamtbild der richtigen Lage konnten diese gelegentlichen Mitteilungen aber nicht vermitteln. Wirklich umfassend und authentisch eingeweiht in die Geschehnisse waren nur die wenigen unmittelbaren Vertrauten Hitlers. Dieses Vertrauen war aber nicht davon abhängig, daß der einzelne eine Ministerstellung bekleidete. Die überwiegende Mehrheit der nicht zu diesem engsten Kreis gehörenden Minister erlangte beispielsweise von dem Einmarsch in Österreich, der Errichtung des Protektorats und dem Beginn der einzelnen kriegerischen Maßnahmen erst Kenntnis, als die Maßnahmen schon angelaufen und veröffentlicht waren. Das Umlaufsverfahren bedeutete keinen personellen Zusammenhalt der Minister. Wenn auch die Gesetzesentwürfe im allgemeinen sämtlichen Ministern zugeleitet wurden – nicht immer ist dies geschehen, wie die Aussage Schachts ergibt –, so bedeutete dies keine gemeinsame Bearbeitung durch die Gesamtheit der Minister. Jedem Minister sollte damit nur die Gelegenheit gegeben werden, zu prüfen, ob seine Ressortinteressen durch den Entwurf berührt wurden. Damit blieb der einzelne Minister verstärkt auf sein Fachgebiet abgedrängt. Seine Aufgabe war es, lediglich die Bedenken seines Ressorts vorzubringen und darüber zu wachen, daß das eigene Ressort keine Schmälerung erlitt oder dessen Zuständigkeit angetastet wurde. Ressortinteressen sind Sonderinteressen und die Beschränkung auf sie schließt allgemeine Ziele und Aufgaben aus.

Die Form und die bewußte inhaltliche Beschränkung des Umlaufsverfahrens mußten und sollten nach allem einen Zusammenhalt der Minister verhindern.

In der letzten Phase der Entwicklung ist auch diese Absicht Hitlers deutlich und unverhüllt in Erscheinung getreten. Die Beweisaufnahme hat ergeben, daß seine Minister, soweit sie nicht in kleinster Zahl sein besonderes Vertrauen genossen, jahrelang nicht zu ihm gelassen wurden, und daß alle dahingehenden Bemühungen der Minister vergeblich waren. Von verschiedenen Ministern wurde mehrfach versucht, wieder Kabinettssitzungen in Gang zu bringen, um dort Gelegenheit zur Aussprache und Unterrichtung zu finden. Hitler lehnte dies mit dem Bemerken ab, er wolle mit diesem Defaitistenklub nichts mehr zu tun haben. Er verbot sogar ein von Lammers angeregtes persönliches Zusammenkommen der Minister in Form eines Bierabends.

Geht die Anklage von der Voraussetzung aus, daß die Gesamtheit der Kabinettsmitglieder die maßgebliche Führung des Staates innehatte und durch ihren Willen die gesamte Politik nach einem beabsichtigten unerlaubten Kriege ausrichtet, so steht demgegenüber die Aufspaltung des Kabinetts als Gesamtgremium und die Herausbildung einer einzigen lenkenden Spitze in der Person Hitlers. Der Nachweis, daß ein kohäsives Funktionieren zwischen den Ministern nicht vorliegt, kann aber auch noch durch andere weitere Tatsachen geführt werden. Zwischen die lenkende Weisung Hitlers und ihrer Durchführung im Ressort des einzelnen Ministers werden übergeordnete Stellen geschaffen, die ihrerseits wiederum berechtigt sind, dem einzelnen Minister Weisungen zu erteilen. Der Ressortminister entfernt sich also weiterhin von der Stelle der entscheidenden Willensbildung, er ist nunmehr nur noch das ausführende Organ zweier einander nachfolgender weisunggebender Stellen. Der »Beauftragte für den Vierjahresplan«, der »Ministerrat für die Reichsverteidigung«, der »Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz« und ähnliche Institutionen wurden von Hitler selbst geschaffen und von ihm persönlich mit gesetzgeberischen Vollmachten ausgestattet. Diese Stellen haben überwiegend sogar die Möglichkeit, nicht nur den Ressortminister selbst zu bestimmten Verwaltungsanweisungen und -anordnungen zu zwingen, sondern können diese auch selbst herausgeben und sich über den Kopf des Ressortministers an dessen unterstellte Dienststellen wenden. Diese Zergliederung ist von Hitler offenbar bewußt herbeigeführt worden. Das Kabinett als Apparat zur Durchsetzung seiner Gesetzgebungsbefehle erscheint zu groß, zu kompliziert und zu hemmend, die Stellung der Minister in ihrem Ressort noch zu selbständig. Deswegen delegiert er ein Gesetzgebungsrecht an einzelne oder kleinere Gruppen, die als Männer seines besonderen Vertrauens die rasche Durchführung seiner Wünsche besser gewährleisten. Durch die Schaffung dieser neuen Unterordnungsverhältnisse schmälert er die Ressortgewalt. Durch das Durcheinander der vielfachen Unter- und Überordnungsverhältnisse, durch die Schwierigkeit der Abgrenzung der Zuständigkeiten und Befugnisse ist der Befehl Hitlers der letzte Ausweg, die einzige verläßliche Richtschnur. Seine Weisung ist nunmehr überwiegend notwendig geworden, die Minister sind auf sie angewiesen. Das Bild, das die Anklage von der Wirksamkeit einer geschlossenen, in den Kabinettssitzungen zusammentretenden Gemeinschaft gegeben hat, hat sich damit wesentlich geändert. Ein völlig neuer Staatsapparat ist in Wirksamkeit getreten, eine alleinige oberste Spitze in der Person Hitlers, eine unmittelbar von Hitler eingesetzte und nur ihm unterstellte Zwischenschicht in der Form der neugeschaffenen erörterten Institution, geführt von Männern, die teilweise nicht Mitglieder der von der Anklage umgrenzten Reichsregierung gewesen sind, und schließlich als ausführende Organe die Zahl der einzelnen Ressortminister, die bei diesem Organisationsaufbau schon natürlich lediglich auf ihr eigenes Arbeitsgebiet beschränkt sind.

Schließlich ist als weiterer Faktor zur Verhinderung eines Zusammenhalts der Minister das von Hitler erlassene absolute Geheimhaltungsverbot anzusehen. Kein Minister durfte mehr wissen, als zur Erledigung der ihm speziell übertragenen Aufgaben unbedingt erforderlich war. Ja sogar dem Minister selbst konnten Vorgänge in seinem eigenen Ressort geheimgehalten werden. Ich verweise auf das Affidavit Harmening, aus dem hervorgeht, daß mit Vorbereitungen für den beabsichtigten Rußlandkrieg über den Kopf des Ministers hinweg der Staatssekretär beauftragt und diesem ein Geheimhaltungsverbot gegenüber seinem Minister aufgegeben wurde. Klarer kann nicht in Erscheinung treten, daß Hitler seine Pläne nur denjenigen enthüllte, die er mit der Ausführung beauftragte und hierfür, unabhängig von ihrer Stellung, für besonders geeignet hielt.

Alles das, was in einer demokratischen Regierungsform als eine allgemeine Angelegenheit angesehen wird, die das gesamte Kabinett berührt, wird auf ein Ressort verlagert und als dessen ausschließliches Aufgabengebiet angesehen. Was an sich Regierungsangelegenheit sein müßte, wird zur bloßen Verwaltungsangelegenheit gestempelt, die dann mit bloßen Verwaltungsanordnungen erledigt wird. Diese Erledigung erfolgt hinter den Scheidewänden des Ressorts, über die kein anderer Minister zu sehen das Recht und die Möglichkeit hat. Als besonderes Beispiel will ich auf die Behandlung der Konzentrationslager und die spätere sogenannte »Endlösung der Judenfrage« hinweisen. Himmler behandelte auf Grund eines ihm von Hitler erteilten Sonderauftrages diese Frage als eine reine Verwaltungsangelegenheit, für die sein Ressort ausschließlich zuständig ist. Auch für diese Ressortangelegenheit gilt gegenüber den anderen Ministern das grundsätzliche Geheimhaltungsverbot.

Diese Entwicklung ist zu berücksichtigen gegenüber der Ansicht der Anklage, daß die Gesamtheit der Kabinettsmitglieder im engsten geheimen Zusammenarbeiten mit Hitler von Beginn an den Plan des unerlaubten Krieges und seiner weiteren Auswirkungen gefaßt und die Durchführung eines solchen Krieges betrieben hätte. Das dann notwendige Vertrauens volle Zusammenarbeiten einer verschworenen Gemeinschaft ist mit der gezeigten Entwicklung keinesfalls in Einklang zu bringen. Das Bestreben Hitlers, das Verantwortungsgebiet der Minister auf jede Weise einzuschränken und zu kontrollieren, sein Bestreben, die mitverantwortliche Gesamttätigkeit des Kabinetts in eine Führung des jeweiligen Einzelressorts aufzulösen, die Schaffung überressortmäßiger Zentralstellen außerhalb des Kabinetts, sein Bestreben, auch den persönlichen Zusammenhang der Minister zu verhindern, ist mit der Anklagethese in keiner Weise in Übereinstimmung zu bringen.

Die Erfüllung der Verteidigerpflicht macht es trotzdem erforderlich, auch noch die Frage zu untersuchen, ob und wann der von der Anklage umrissene Personenkreis überhaupt den Entschluß zur Planung und Durchführung der Charterverbrechen gefaßt haben kann.

Verschiedene Äußerungen der Anklagebehörde scheinen darauf hinzudeuten, daß sie dies bereits für den 30. Januar 1933, den Tag der Begründung des Kabinetts, annehmen möchte. Logisch wäre damit die Behauptung verbunden, daß schon der Zweck der Gründung des Kabinetts verbrecherisch gewesen ist. Zu dieser Frage brauche ich nur wenig zu sagen und im wesentlichen auf meine Ausführung Bezug zu nehmen, die ich bei der Verteidigung des Angeklagten von Papen gemacht habe. Den dort genannten Gründen möchte ich ergänzend nur noch die Äußerung Brünings hinzufügen, die dieser im Jahre 1932 dem Minister Graf Schwerin-Krosigk gegenüber getan hat. Ich verweise hierbei auf meine Affidavits Nummer 1 und 3. Brüning als der damalige verantwortliche Reichskanzler erkannte bereits damals die Unmöglichkeit, bei der Fortdauer der wirtschaftlichen und politischen Krisenverhältnisse auf die Dauer fast ausschließlich mit dem Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten zu regieren. Er erklärte, daß nur durch Zwang zur Verantwortung die Agitation der Nationalsozialisten wirksam bekämpft werden könnte. Es ist interessant, von diesem verantwortungsbewußten Staatsmanne bereits zu einem so frühen Zeitpunkt das bestätigt zu finden, was ein halbes Jahr später Tatsache werden mußte.

Diese zwangsläufige politische Entwicklung, ferner die staatsrechtliche Notwendigkeit der Bildung einer Regierung und die unhomogene Zusammensetzung dieses Gremiums müssen jedenfalls einen verbrecherischen Zweck der Regierungsbildung unbedingt verneinen lassen. Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, daß Verhandlungen mit einzelnen Kabinettsmitgliedern nur in einem ganz geringen Ausmaße stattgefunden haben, daß eine große Anzahl der Mitglieder auf Grund ihrer vorherigen Regierungszugehörigkeit lediglich auf Wunsch des Reichspräsidenten von Hindenburg in das neue Kabinett mit übernommen worden sind. Es würde auch der Annahme eines verbrecherischen Aktes, der in der Begründung des Kabinetts liegen sollte, die Tatsache entgegenstehen, daß Hindenburg, der staatsrechtlich die Kabinettsbildung zu verantworten hatte, und auch tatsächlich bei der Bildung in erheblichem Maße tätig gewesen ist, bei der personellen Aufstellung, die die Anklage in Appendix A und B gegeben hat, nicht mitenthalten ist. Da im übrigen auch verstorbene Mitglieder namentlich mitgenannt worden sind und der Kreis der Regierungsmitglieder nicht nach dem formellen Staatsrecht, sondern aus praktischen Gesichtspunkten umrissen worden ist, glaube ich aus dieser Tatsache den Schluß ziehen zu können, daß im Ergebnis auch die Anklage die Gründung der Reichsregierung des 30. Januar 1933 nicht als verbrecherischen Akt ansieht.

Zumindest nimmt jedoch die Anklage einen gemeinsamen Plan zur Begehung von Charta-Verbrechen bereits, vom Beginn der Regierungstätigkeit an und glaubt, aus der Gesetzgebungstätigkeit des Kabinetts in ihrer Entwicklung ein Indiz für eine einheitliche Zielsetzung zum unerlaubten Krieg entnehmen zu können. Ich will über die Behandlung dieser angeblichen Indizien zunächst hinweggehen und einen für diese Frage besonders markanten Zeitpunkt der Betrachtung unterziehen.

Es ist dies der 5. November 1937, der Tag der Besprechung Hitlers mit seinem Kriegsminister, den drei Oberbefehlshabern der Wehrmachtsteile und dem Reichsaußenminister, wobei er seine künftigen Pläne dargelegt hat. Ich brauche hierbei nicht auf die von den Verteidigern der Einzelangeklagten angeschnittenen Probleme einzugehen, ob Hitler damals den Teilnehmern ein in vollem Umfange wahres Bild über seine Pläne entwickelt hat. Eins kann man zumindest aus seiner damaligen Erklärung mit Sicherheit entnehmen, daß er von diesen Plänen erstmalig einem sehr beschränkten Kreise Mitteilung machte. Wenn er hier bekennt, daß er den Anwesenden jetzt seine geheimsten Pläne offenbart, und daß er mit Absicht da von Abstand genommen hätte, das Kabinett als solches – wie in anderen Ländern üblich – von derartig weittragenden Entschlüssen in Kenntnis zu setzen, so steht damit fest, daß er über diese Dinge erstmalig zu diesem ausgewählten Kreise etwas geäußert hat, und daß vor allem auch weiterhin die übrigen Kabinettsmitglieder über diese seine Pläne im unklaren gelassen werden sollten. Hitler entwickelt in seinen Betrachtungen die Notwendigkeit eines bevorstehenden Krieges. Er behauptet, daß er diese Erkenntnis im Laufe seiner nunmehr vierjährigen Regierungszeit gewonnen hätte und daß diese Erkenntnis das Ergebnis seiner in dieser Zeit gewonnenen Erfahrung sei, daß mit wirtschaftlichen Mitteln die Sicherung der Lebensfähigkeit der Nation nicht gewährleistet werden könne. Selbst wenn wir der Wahrheit dieser Erklärung Hitlers skeptisch gegenüberstehen, eins ist unmöglich: Es kann nicht, wie die Anklage meint, seit 30. Januar 1933 zwischen ihm und allen Kabinettsmitgliedern der einheitliche Plan zum verbrecherischen Krieg bestanden haben, wenn er nunmehr am 5. November 1937 einem Teil dieser Kabinettsmitglieder gegenüber davon ausgeht, daß der Entschluß und damit die nunmehrige Planung zum Kriege aus der Stunde geboren sei, als Fazit der Beobachtung der Entwicklung der Dinge in den abgelaufenen vier Jahren. Wenn Hitler hierbei noch ausdrücklich darauf hinweist, daß er die übrigen Kabinettsmitglieder von dieser Mitteilung ausschließt, so ergibt sich daraus klar, daß er das Kabinett als solches auch für die Mitteilung derartiger Pläne nicht als den geeigneten Kreis ansieht. Damit ist klar erwiesen, daß mindestens bis zu diesem Zeitpunkt erst recht nicht ein derartiger Gesamtplan des Kabinetts, der ja nur unter der Führung Hitlers entstanden sein könnte, bestanden hat.

Wann könnte nun in der Zeit nach dem 5. November 1937 ein derartiger Gemeinschaftsentschluß gefaßt worden sein?

In der Zeit nach dem 5. November 1937 hat nur noch eine einzige Kabinettssitzung am 4. Februar 1938 stattgefunden, in der Hitler den Anwesenden nur die damaligen personellen Umbesetzungen bekanntgab, ohne die Gründe hierfür darzutun, geschweige denn, irgendwelche Kriegspläne zu entwickeln. Wenn die Anklage als ein verbindendes Band der Kabinettsmitglieder das Recht zur Teilnahme an den Kabinettssitzungen ansieht, so wird sie sich für die nachfolgende Zeit entgegenhalten lassen müssen, daß ein solches Band nunmehr nicht mehr bestanden hat. Ein gewisser Ersatz für die Kabinettssitzungen hat zwar in dem jetzt ausschließlich angewandten Umlaufsverfahren bestanden. Hierbei wird jedoch zu berücksichtigen sein, daß das Umlaufsverfahren an sich vielleicht geeignet wäre, einen vorher bereits bestehenden Gesamtzweck durch einzelne Akte in der Gesetzgebung zu verfolgen. Undenkbar ist es jedoch, daß durch dieses schriftliche Umlaufsverfahren eine derartige gemeinsame Planung zu einem so umfassenden Verbrechen vorgenommen wird. Die räumliche Verbindung muß bei einem derartigen von Natur aus notwendig geheimen Beschluß in irgendeiner Weise bestehen. Im Rahmen einer Kabinettssitzung wäre dies wohl möglich. Im Rahmen einer aktenmäßigen Erörterung in einem Umlaufsverfahren erscheint es unmöglich.

Über alle diese Erwägungen hinaus ist im übrigen festzustellen, daß nach dem Ergebnis der gesamten Beweisaufnahme ein derartiger Plan zur Eröffnung des verbotenen Krieges dem Kabinett niemals mitgeteilt, geschweige denn, daß er erörtert oder sogar gemeinsam gefaßt worden wäre.

Ich muß mich nunmehr noch mit der Annahme der Anklage auseinandersetzen, daß die Gesetzgebungstätigkeit des Kabinetts dahin auszulegen sei, daß diese in ihrer Gesamtheit das Ziel des Angriffskrieges verfolgt hätte. Die Anklage glaubt, daß mit der Gesetzgebung das Ziel verfolgt worden sei, Hitler eine vollständige Kontrolle zu verschaffen, sie zu festigen und damit den Angriffskrieg vorzubereiten und durchzuführen.

Die Anklage ist sich bewußt, daß weder die Herstellung der totalitären Kontrolle noch die einzelnen von der Regierung erlassenen Gesetze gegen das Statut verstoßen. Sie glaubt jedoch, den Zusammenhang zwischen dieser totalitären Kontrolle oder den einzelnen Gesetzen zu den Verbrechen der Charter mit folgender Konstruktion darlegen zu können: Der Plan sei von vornherein auf die Verbrechen der Charter zielsicher abgestellt. Zur Erreichung dieses Zieles und zur Vermeidung eines Widerstandes gegen die Planung sei die totalitäre Kontrolle über Deutschland erforderlich gewesen. Diese herzustellen hätten eine Reihe von der Regierung erlassene Gesetze gedient.

Diese Gesetze ließen teilweise diese direkte Zielrichtung erkennen, teilweise hätten sie durch ihren terroristischen und unhumanen Charakter die Förderung dieses Zieles angestrebt. Die Anklage geht davon aus, daß die Diktatur notwendige Voraussetzung für die späteren Verbrechen der Charter gewesen sei, und daß die Begründung der Diktatur schon ein Teil des Planes zu den Verbrechen der Charter sei. Demgegenüber wird festzustellen sein, daß es unmöglich ist, aus einer Wirkung auf eine Ursache zu schließen, um dann damit zu beweisen, daß die Ursache zwingend zu der Wirkung führen mußte. Diese Ansicht wäre nur dann richtig, wenn die Begründung der Diktatur lediglich in der Planung der Verbrechen ihren zwingenden Grund finden könnte. Die Ansicht geht fehl, wenn die Begründung der Diktatur aus anderen Gründen notwendig oder auch nur zweckmäßig erscheinen konnte. Solche Gründe haben vorgelegen. Der Ruf nach einer vereinheitlichten Gewalt ist eine natürliche Erscheinung in Zeiten besonderer Krisen. Eine einheitliche Gewalt ist imstande, schneller Maßnahmen zu ergreifen, die zur Beseitigung krisenhafter Zustände notwendig sind. Immer und überall war daher in derartigen Zeiten eine Tendenz zu einer Vereinheitlichung vorhanden. Dies wird wohl auch in dem Staatsrecht eines jeden Landes vorgesehen. Notmaßnahmen verlagern dann die Gewalt von einem großen Gremium, wie dem Parlament, auf einen kleineren Kreis. Diese Entwicklung hatten wir in Deutschland bereits zu einer Zeit, als wir noch durchaus als ein demokratisch regiertes Land angesehen werden konnten. Das beweist das schon zu Brünings Zeiten in breitestem Umfange ausgeübte Notverordnungsrecht. Ich habe früher bereits darauf hingewiesen, daß der Gedanke der Vereinheitlichung eine zusätzliche Förderung durch den in der Partei ausgeprägten Führergedanken erfuhr. Das Volk glaubte den tieferen Grund für die Wirtschaftskrise in dem Fehlen einer einheitlichen Führung zu sehen. Das deutsche Volk hatte mit der Weimarer Verfassung zwar das Geschenk der reinsten Demokratie bekommen, es war aber in seiner ganzen Vergangenheit hierzu nicht erzogen. Es fehlte die allmähliche, organische Entwicklung zum freien demokratischen Denken, die Erziehung zu einem kritischen Urteil. Es ist daher psychologisch zu erklären, daß, als die demokratische Republik in schweren wirtschaftlichen Schwierigkeiten stand, die Ursache nicht in den wirklichen Gegebenheiten gesehen, sondern in dem Mangel einer einheitlichen Führung gesucht wurde. Der Gedanke des Führerprinzips und einer alleinigen Leitung der Geschicke in einer Hand war daher populär. Er fand seinen Widerhall in den Abstimmungen, die in jedem Falle als eine Anerkennung der Richtlinien der NSDAP und damit des Führergedankens gelten müssen.

Es kann auch nicht bezweifelt werden, daß eine straffe Konzentrierung und eine Ausrichtung aller Gebiete auf die Weisung einer einzigen übergeordneten Stelle für die Durchführung der zweifellos ja sehr gewagten umfassenden wirtschaftlichen Maßnahme in mancher Hinsicht eine günstige Auswirkung hatten.

VORSITZENDER: Sollen wir jetzt unterbrechen?

DR. KUBUSCHOK: Jawohl, Herr Vorsitzender!