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[Pause von 10 Minuten.]

DR. KUBUSCHOK: Ich sprach vor der Pause, daß zumindest auch Zweckmäßigkeitsentwicklungen eine Rechtfertigung für die Begründung der Diktatur ergeben können.

Ich fahre sodann fort:

Schon allein diese Erkenntnis würde die im Rahmen der strafrechtlichen Betrachtungen notwendige Rechtfertigung einer Mitwirkung der Regierungsmitglieder an der zur Diktatur führenden Entwicklung geben. In jedem Falle würde damit, die absolute Schlußfolgerung der Anklage ausgeschlossen sein, daß aus der Begründung der Diktatur sich notwendig die Zielrichtung auf einen Angriffskrieg ergebe.

Auch diejenige Gesetzgebung des Reichskabinetts, die die Anklage unter dem Gesichtspunkte terroristischer und Unterdrückungsmaßnahmen behandelt, sieht sie ausgerichtet auf eine zum Zwecke des Angriffskrieges begründete und konsolidierte Diktatur. Sie betrachtet hierbei insbesondere auch die judenfeindliche Gesetzgebung. Auch diese ist hier lediglich unter dem Gesichtspunkte zu prüfen, ob ihr Zweck und Inhalt tatsächlich zum Ziele des Angriffskrieges als ausgerichtet angesehen werden kann. Die Anklage hat darauf hingewiesen, daß Himmler 1943 in seiner Posener Rede erklärt hat, er sei glücklich, in diesem fortgeschrittenen Abschnitt des Krieges die Möglichkeit einer inneren Gefahr durch das Judentum ausgeschlossen zu sehen.

Eine derartige Äußerung kann bei oberflächlicher Betrachtung Veranlassung zu dem Schluß geben, daß nun tatsächlich alle gesetzgeberischen und Verwaltungsmaßnahmen, die in langsamer Steigerung gegen das Judentum getroffen worden sind, diesen von Hitler begrüßten Erfolg angestrebt hätten. Man wird jedoch hierbei zunächst einmal dasjenige auseinanderhalten müssen, was auf dem Wege der Gesetzgebung an Beschränkungen dem Judentum auferlegt und was im Wege der von Himmler ausgeübten Verwaltung an Kasernierungs- und Ausrottungsmaßnahmen durchgeführt worden ist. Nur letztere, die Entfernung der Juden aus dem räumlichen Zusammenhange mit der übrigen Bevölkerung, ihre absolute Abschließung in polnischen Ghettos und Konzentrationslagern, und endlich ihre physische Vernichtung waren dasjenige, was Himmler als die Erleichterung für die Führung des Krieges ansehen konnte. Demgegenüber stellen die Gesetze, die von der Reichsregierung erlassen worden sind, auch die vom Reichstag beschlossenen Nürnberger Gesetze, schließlich zwar unzweifelhaft absolute Unterdrückungsmaßnahmen dar, keines dieser Gesetze jedoch sieht die hermetische Absperrung der Juden von jeder Verbindung mit der übrigen Bevölkerung vor. Die Gesetze führen schließlich zu einer Ausschaltung der Juden aus öffentlichen Stellungen und der Wirtschaft, einer persönlichen Beschränkung ihrer Freiheit, die auch die elementarsten Rechte des menschlichen Individuums angriffen. Sie sind in ihrer Wirkung erkennbar darauf gerichtet, den Juden das Leben in Deutschland in jeder Weise zu erschweren. Im Zusammenhang damit läuft das allgemein propagierte Ziel, die Juden zur Auswanderung zu bringen.

Ich glaube gerade letzterer Gesichtspunkt zeigt, daß die Verfolgung der Juden, soweit sie durch die Gesetzgebung erfolgt ist, nicht einmal auch nur mittelbar über die konsolidierte Diktatur den Angriffskrieg zum Ziele gehabt hat. Man kann auf der einen Seite nicht den Angriffskrieg sich zum Ziel setzen und andererseits durch gesetzgeberische Maßnahmen eine Lage schaffen, die zwangsläufig die ihrer Existenzgrundlage Beraubten zur Auswanderung treibt. Will man einen Angriffskrieg, so wäre es mehr wie töricht, aus seinem eigenen Volkskörper Angehörige auszustoßen, sie dadurch sich zu Feinden zu machen und sie ins Ausland zu treiben, in Länder, die man im Rahmen der Kriegsplanung bereits als die künftigen Feinde ansehen muß. Ich glaube daher, daß damit die gesamte judenfeindliche Gesetzgebung für die hier erforderliche, auf die Verbrechen der Charter beschränkte Betrachtung ausgeschieden werden kann. Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, daß ein großer Teil dieser Gesetze nicht etwa in völliger Übereinstimmung der sämtlichen Kabinettsmitglieder zustandegekommen ist, sondern daß sie auch deutlich die Zeichen eines Kompromisses tragen, bei denen ein Teil der Minister es verstanden hat, die Gesamttendenz des Gesetzes zu mildern und es in ihrer Auswirkung zu beschränken, wie ich es anläßlich der Verteidigung des Angeklagten von Papen bereits ausgeführt habe. Die Tatsache der Mitwirkung eines Ministers bei derartigen Gesetzen ergibt also noch keinesfalls, daß er mit der Tendenz des Gesetzes einverstanden ist und dieses gebilligt hat. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Erörterung im Kreuzverhör des Zeugen Schlegelberger über dessen an Lammers gerichteten Brief Bezug nehmen. Schlegelberger legte uns dar, daß von irgendeiner Parteiseite, wahrscheinlich dem Rasseamt der SS, die Verbringung sämtlicher jüdischer Mischlinge nach dem Osten beabsichtigt gewesen sei. Das Justizministerium habe wegen einer hierbei aufkommenden Ehescheidungsfrage die Möglichkeit zu einer Äußerung gehabt. Seine anfängliche, sich lediglich in einer Ablehnung der beabsichtigten Maßnahmen erschöpfenden Stellungnahme im Briefe an Lammers sei zwecklos gewesen. Er habe sich daher verpflichtet gefühlt, durch irgendeinen praktischen Vorschlag die Maßnahme abzumildern. Deswegen sein Vorschlag, der die vom Rasseamt gewünschte Vermeidung eines Mischlingsnachwuchses aufgreift und alle diejenigen Mischlinge ausgenommen sehen will, bei denen ein Nachwuchs nicht mehr zu erwarten ist. In diesem Zusammenhange schlägt er auch vor, daß ein Mischling von der Verschickung nach dem Osten ausgenommen wird, wenn er sich unfruchtbar machen läßt. Es ist schwer, bei Betrachtung eines solchen Vorschlages zunächst menschliche Gefühle außer acht zu lassen, und mit der in einem Gerichtsverfahren notwendigen Sachlichkeit an die Beurteilung heranzugehen. Man kann dann aber nur zu dem Ergebnis kommen, daß hier der Versuch gemacht wurde, mit einem zwar barbarischen Mittel die sonst sicher zu erwartenden noch schlimmeren Maßnahmen abzuwenden.

Sicher ist es ein Problem, wie weit jemand an einem Übel mitwirken darf, um ein noch größeres Übel zu verhindern. In jedem Falle sind aber auch hier die Motive zu berücksichtigen. Für die im vorliegenden Fall zu erörternden Fragen ist entscheidend, daß auch der Schlegelbergersche Vorschlag zumindest die räumliche Eliminierung der Mischlinge aus der übrigen deutschen Bevölkerung vermeiden wollte. Dies ist unter Berücksichtigung der Gesichtspunkte der Posener Rede Himmlers im Rahmen der Betrachtung des Angriffskrieges allein ausschlaggebend.

Wenn ich mich nunmehr der weiteren Gesetzgebung zuwende, so kann ich diese, soweit sie vor dem 30. Juni 1934 liegt, außer Betracht lassen. Ich verweise insoweit auf meine Ausführung im Falle Papen.

Das Gesetz vom 3. Juli 1934, durch das die Maßnahmen des 30. Juni gerechtfertigt wurden, wird von der Anklage als das erste offenkundige Gesetz des Unrechts angesehen, durch das nachträglich Verbrechen sanktioniert worden seien. Auch hier wird zunächst davon auszugehen sein, daß die Maßnahmen des 30. Juni 1934 in keiner Verbindung zu der Planung eines Angriffskrieges stehen. Was Röhm selbst geplant und wie weit er mit irgendwelchen Reichswehrstellen in Verbindung gestanden hat, ist nicht zu ergründen. In jedem Falle aber kann die Beseitigung eines Mannes wie Röhm und seines Anhanges nicht als die Beseitigung einer Erschwernis für die Pläne des Angriffskrieges angesehen werden. Wenn darüber hinaus noch andere Gegner Hitlers getötet worden sind, die mit Röhm selbst wohl keinesfalls in Verbindung gestanden haben, so ist dies zwar ohne Zweifel ein glatter Mord, aber auch hier ist insbesondere bei Berücksichtigung der in Betracht kommenden Persönlichkeiten in keiner Weise eine Verbindung zum Angriffskrieg zu sehen.

Das Gesetz selbst stellte nach seinem Inhalt lediglich diejenigen straffrei, die »in Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Ziele« gehandelt hatten. Von dem Gesetz sind also diejenigen Fälle nicht umfaßt, die Personen außerhalb des Röhm-Kreises betreffen. Diese sind zum Teil zur Aburteilung gekommen, zum Teil dekretierte Hitler auf Grund seines Abolitionsrechts ihre Straffreiheit.

Ich verweise insoweit auf die Affidavits Meißner und Schwerin-Krosigk, sowie auf die Bekundungen des Zeugen Schlegelberger. Der Mehrzahl der Minister war bekannt, daß zwischen Hitler und Röhm Spannungen bestanden. Durch die Ereignisse selbst wurden sie überrascht. Die Mitteilungen, die ihnen Hitler in der Kabinettssitzung vom 3. Juli 1934 über die Ereignisse machte, stimmen mit seinen Erklärungen in der Reichstagssitzung vom 13. Juli 1934 im wesentlichen überein. Auf Grund dieser Schilderungen mußte bei den Ministern überwiegend die Ansicht vorhanden sein, daß es sich tatsächlich um ein hochverräterisches Unternehmen gehandelt habe und daß die von Hitler getroffenen sofortigen Abwehrmaßnahmen notwendig gewesen wären, um eine größere Ausweitung der Revolte zu verhindern. Hitler gab selbst zu, daß in einem gewissen Umfange auch Übergriffe stattgefunden hätten und Personen erfaßt worden seien, die mit der Revolte nichts zu tun gehabt hätten. Für diese Fälle versprach er eine gerichtliche Untersuchung.

Wenn das Gesetz in seinem Wortlaut sich tatsächlich nur auf die Personen beschränkt, die an der Revolte beteiligt waren, so glaubten die Minister, dieses Gesetz verantworten zu können. Man mag gegen dieses Gesetz Bedenken haben, es ist jedoch nicht außer acht zu lassen, daß die Niederschlagung dieser Revolte als ein Ereignis erscheinen konnte, mit dem endgültig ein Zustand ständiger Unordnung und Gewalttätigkeiten seitens der Röhm-Anhänger beseitigt wurde. Man kann aus diesem Gesetz deshalb auch nicht die Folgerung ziehen, daß damit ganz allgemein auch für die kommende Zeit formellrechtlich nicht gerechtfertigte Maßnahmen nachträglich sanktioniert und dem ordentlichen Rechtswege entzogen werden sollten. Es kann vertretbar erscheinen, daß man einen derartigen Komplex der Unruhe gesetzlich endgültig aus der Welt schaffen will, zumal, wenn die Schuld in den von dem Gesetz erfaßten Fällen evident erschien. Jedenfalls glaubten damals viele, in dieser gesetzlichen Behandlung des Falles das Prinzip des Verfolgungszwanges auch politischer Verbrechen aufrechterhalten zu sehen.

Besonders sind von der Anklage diejenigen Gesetze hervorgehoben worden, die mit der Aufrüstung im Zusammenhang stehen und schon deshalb auf den Plan eines Angriffskrieges deuten sollen. Die Anklage behandelt in diesem Zusammenhang die Bildung eines Reichsverteidigungsrates im April 1933 und die beiden geheimen Reichsverteidigungsgesetze von 1935 und 1938.

Der Angeklagte Keitel hat in seiner Zeugenvernehmung dargelegt, daß bereits im Jahre 1929 ein interministerieller Arbeitsausschuß gebildet worden war, der sich mit Fragen der Reichsverteidigung befaßte. Dieser Ausschuß hatte mit operativen oder strategischen Fragen oder mit Fragen der Rüstung oder Beschaffung von Kriegsgerät nicht das geringste zu tun. Er beriet vielmehr ausschließlich die Maßnahmen, die auf dem zivilen Sektor getroffen werden mußten, falls das Reich in eine kriegerische Verwicklung hineingezogen werden sollte. Hierunter fielen insbesondere Räumungsvorbereitungen für den Fall eines Krieges, eine zweifellos defensive Maßnahme.

An der sachlichen Arbeit des Ausschusses änderte sich nichts, als im April 1933 an Stelle der freiwilligen Mitarbeit einzelner Referenten der Ministerien jedem Minister die Verpflichtung auferlegt wurde, einen Referenten in diesen Ausschuß zu entsenden. Nur zu diesem Zweck schlossen sich die Minister zu dem Reichsverteidigungsrat zusammen. Als solcher hat ein Gremium nie gearbeitet oder Beratungen abgehalten. Die Arbeit selbst wurde vielmehr lediglich in der bisherigen Weise im Reichsverteidigungsausschuß geleistet. Einen Gesamtüberblick über dessen Arbeiten finden wir in dem von ihm im Jahre 1939 herausgegebenen »Mobilmachungsbuch der Zivilbehörden«, das eine Zusammenstellung der im Mobilmachungsfall auf dem Zivilsektor zu ergreifenden organisatorischen Maßnahmen enthielt. Der Inhalt dieses Buches zeigt in keiner Weise eine Angriffstendenz. Die getroffenen Vorbereitungen sind eine selbstverständliche staatliche Schutzmaßnahme für den Fall des Krieges an sich. Man kann auch aus der Tatsache, daß die Arbeiten des Ausschusses geheimgehalten wurden, kein Indiz für die Planung eines Angriffskrieges entnehmen. Es ist nur natürlich und wird allgemein geübt, daß alle, auch defensive Maßnahmen der Landesverteidigung, nicht der Öffentlichkeit preisgegeben werden.

Die Aufgabe des Reichsverteidigungsausschusses hat kontinuierlich bis zu Beginn des Krieges bestanden. Sie hat sich auch nicht geändert, als durch das nicht veröffentlichte Reichsverteidigungsgesetz vom 21. Mai 1935 der Reichsverteidigungsrat, der im April 1933 lediglich durch einen internen Kabinettsbeschluß begründet worden war, nunmehr auf eine gesetzliche Grundlage gestellt wurde.

Dieser Reichsverteidigungsrat hat, wie die Vernehmung von Göring, Lammers, Schacht, Keitel und Neurath ergeben hat, nicht ein einziges Mal getagt. Nicht ein einziges Mal sind Beratungen abgehalten worden, auch ein Umlaufsverfahren ist niemals angewandt worden. Die einzige Tätigkeit wurde nach wie vor von dem Verteidigungsausschuß mit der schon erörterten Aufgabe ausgeübt. Der Reichsverteidigungsrat selbst blieb mithin lediglich die Dachorganisation für den Ausschuß.

Durch das Reichsverteidigungsgesetz vom 21. Mai 1935 wird auch die Stellung des Generalbevollmächtigten für die Kriegswirtschaft geschaffen. Er erhält das Recht, bereits in Friedenszeiten die wirtschaftlichen Kräfte für den Fall eines Krieges sicherzustellen und insoweit Weisungen zu erteilen. Tatsächlich hat Schacht als Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft keinerlei Maßnahmen in dieser ihm bestimmten Amtsstellung getroffen. Die Aufgaben sind in der Praxis auch bereits im Jahre 1936 auf den Beauftragten für den Vierjahresplan übergegangen. Auch hier ist wiederum festzustellen, daß organisatorische und vorsorgliche Maßnahmen für den Fall eines Krieges etwas Selbstverständliches sind. Sie allein können keinesfalls ein Indiz für eine Angriffsabsicht sein. Wirtschaftliche Maßnahmen für den Fall eines Krieges zu treffen, waren für Deutschland in seiner im Kriegsfalle besonders exponierten wirtschaftlichen und räumlichen Stellung eine unbedingte Notwendigkeit. Man konnte es sich nicht leisten, die organisatorischen Vorbereitungen etwa erst nach Ausbruch eines Krieges zu treffen, da die deutsche Wirtschaft im Kriegsfalle bei freier Gestaltung von vornherein nicht lebensfähig gewesen wäre.

Dem Gedanken einer nur defensiven Vorbereitung wird seitens der Anklage entgegengehalten, daß defensive Maßnahmen deswegen nicht am Platze gewesen seien, weil kein Staat darauf ausgegangen sei, einen Angriff gegen Deutschland zu führen. Demgegenüber muß festgestellt werden, daß die Leitung eines Staates die Verantwortung hat, auch für die entferntesten Möglichkeiten in lebenswichtigen Fragen Vorsorge zu treffen. Es gibt niemals einen Zeitpunkt, in dem für eine absehbare Zeit ein Staat irgendeine von außen an ihn herangetragene Kriegsgefahr absolut ausschließen kann.

Als sich dann durch den Erlaß Hitlers vom 4. Februar 1938 Veränderungen in der Führung der Wehrmacht ergeben, fällt es, da ja der Reichsverteidigungsrat gar nicht in Aktion getreten ist, zunächst gar nicht auf, daß seine personelle Gestaltung nach dem Reichsverteidigungsgesetz von 1935 mit diesem Erlaß nicht mehr übereinstimmt. Erst als Keitel als Leiter des Ausschusses auf diese Unstimmigkeiten hinweist, werden sie durch das neue Reichsverteidigungsgesetz vom 4. September 1938 beseitigt und zugleich – da man im Nazi-Regime in Organisationsdingen großzügig ist und Übertreibungen und künstliche Aufblähungen liebt – ein riesiger Apparat errichtet. Der Reichsverteidigungsrat wird umgebildet, der Ausschuß erfährt einige Umbesetzungen hinsichtlich der persönlichen Mitglieder. Außer dem »Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft« wird ein »Generalbevollmächtigter für die Verwaltung« eingesetzt. Beide zusammen bilden mit dem Chef des OKW ein Dreierkollegium; ihnen sind in einzelnen Gruppen die meisten anderen Minister unterstellt. Der ganze Apparat sollte, mit Ausnahme des Ausschusses, aber erst nach Ausbruch eines Krieges in Aktion treten, für diesen Augenblick auch erst die dem Dreierkollegium gegebenen umfassenden gesetzgeberischen Vollmachten wirksam werden.

Als der Krieg endlich ausbricht, kümmert sich Hitler jedoch nicht um diese papiernen Vorbereitungen, sondern setzt den »Ministerrat für die Reichsverteidigung« ein, der damit praktisch an die Stelle der bisherigen Organisationen tritt. Erst später, als die Gesetzgebungsmaschine des Ministerrats zu langsam rollt, kommen die Vollmachten des Dreierkollegiums wieder zum Vorschein und werden Verordnungen auf diese gestützt. Wenn es auch die Aufgabe des Dreierkollegiums war, wie es die allgemeine Pflicht jedes Ressorts ist, diejenigen Maßnahmen auf seinem Gebiet parat zu haben, die im reinen Verteidigungsinteresse alsbald erforderlich sind, so kann doch daraus eine Angriffsabsicht, ja nicht einmal das Bewußtsein eines bevorstehenden Krieges hergeleitet werden. Solche allgemeinen Kriegsvorbereitungen gehen von der immer notwendigen Unterstellung eines Kriegsfalles an sich aus. In ihnen liegt noch keinerlei Indiz für eine Angriffsabsicht.

Würde man ein solches anerkennen, müßte man zwangsläufig jeden Staat, da kein Staat derartige Vorbereitungen unterlassen kann, latent als angriffsplanend ansehen. Das Dreierkollegium hat bis zum Kriegsausbruch keine Beratungen abgehalten, es kann als solches also auf einen Krieg nicht hingearbeitet und auch keine Pläne zu einem Angriffskrieg geschmiedet haben. Das gilt in gleicher Weise von dem Reichsverteidigungsrat. Es fanden zwar zwei Sitzungen statt. Wie wenig bedeutungsvoll diese Sitzungen gewesen sind, wie ungeeignet sie insbesondere für die Beschlußfassung geheimster Pläne waren, ergibt die Tatsache, daß von den zwölf Mitgliedern des Rates nur ein Teil erschien, dagegen eine sehr große Anzahl von Referenten der einzelnen Ressorts. Dieser große Kreis hinzugezogener Personen – einmal sind etwa 40, das andere Mal etwa 70 Personen anwesend gewesen – hätte ein derartig diskret zu behandelndes Thema gar nicht aufkommen lassen können. Tatsächlich haben sich diese beiden Sitzungen darin erschöpft, daß der Angeklagte Göring den Inhalt des nicht veröffentlichten Reichsverteidigungsgesetzes in Teilen bekanntgegeben hat. Es fanden auch keine sonstigen Zusammenkünfte oder schriftliche Erörterungen mit den Mitgliedern des Rates statt.

Zusammenfassend kann also nur gesagt werden, daß hier eine allerdings für den Kriegsfall bestimmte Institution organisatorisch ins Leben gerufen ist, daß diese Organisation aber praktisch nicht gearbeitet hat. Wäre wirklich das Ziel dieser Organisation die Vorbereitung zu einem Angriffskrieg gewesen, so hätte zweifellos die Fülle der in diesem Falle notwendigen, zeitlich schon mehr oder minder festzulegenden Aufgaben eine tatsächliche Arbeit der Organisation auch bereits in Friedenszeiten erforderlich gemacht.

Auch das »Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht« vom 16. März 1935 und das »Wehrgesetz vom 21. Mai 1935« sind von der Anklage in die Diskussion gezogen worden. Ich will an dieser Stelle nicht darüber rechten, ob diese Gesetze einen Bruch des Versailler Friedensvertrags darstellen oder nicht, wesentlich ist für die strafrechtliche Beurteilung nur, ob die Tatsache des Erlasses dieser Gesetze als ein Indiz für einen Angriffsplan aufzufassen ist. Schon die notwendige Veröffentlichung des Gesamtinhalts dieser Gesetze zeigt, daß sie einen derartigen Plan nicht beinhalten können.

Die Beschränkung auf eine verhältnismäßig kleine Zahl von Divisionen im Gesetz vom 16. März 1935 läßt allein schon den Gedanken eines Angriffskrieges nicht zu.

Auch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ist kein Indiz für den Angriffsplan. Die Wehrpflicht ist in den meisten Staaten eingeführt und hat über die Wirkung der Erhöhung der Mannschaftsreserven hinaus auch zweifellos ideelle Grundlagen.

Für die Beurteilung dieser die militärische Organisierung betreffenden Gesetze wird zu berücksichtigen sein, daß die Einführung der Wehrpflicht im März 1935 eine Neuerrichtung der militärischen Organisation erforderlich machte. Auf diesem Gebiete war in den vorangegangenen Jahren praktisch gar nichts vorgesehen worden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß jetzt der Erlaß der erforderlichen Grundgesetze vorgenommen wurde. Diese zwangsläufig völlige Neuschaffung einer Organisation machte die erörterten Gesetze notwendig, ohne daß man daraus etwa einen Rückschluß auf einen beabsichtigten Krieg ziehen könnte.

Für die Frage der Kenntnis der gesamten Kabinettsmitglieder braucht nicht erörtert zu werden, ob die deutsche Rüstung bei Kriegsausbruch tatsächlich angriffsbereit gewesen ist oder nicht. Die gesetzliche Grundlage – soweit hatten die überwiegende Zahl der Kabinettsmitglieder im Rahmen ihrer Ressorts mit den Rüstungsfragen nur zu tun – konnte keinen umfassenden Einblick in den tatsächlichen Umfang der Aufrüstung gewähren. Sie waren auch nur auf das angewiesen, was ihnen erklärt wurde. Die Generale selbst standen auf dem Standpunkt, daß die Rüstung nach ihrem Umfange nur Defensivcharakter haben könnte. Hitler selbst hat ihnen von dem Ziel eines Angriffskrieges nichts mitgeteilt.

Schließlich ist noch das Gesetz vom 13. März 1938 zu erwähnen, durch das der Anschluß Österreichs an Deutschland verkündet wurde. Dieses Gesetz ist nicht von der Gesamtheit der Kabinettsmitglieder beschlossen worden. Vorher war den Ministern keinerlei Mitteilung über den Gang der Ereignisse gemacht worden. Sie hatten lediglich die Tatsache des Einmarsches auf dem üblichen Wege erfahren. Bei den übrigen von der Anklage behandelten Gesetzen liegt der Gedanke eines Zusammenhanges mit der Planung eines Angriffskrieges meines Erachtens so fern, daß ich im einzelnen nicht auf sie einzugehen brauche. Sachliche Gründe für den Erlaß dieser Gesetze können nicht geleugnet werden. Sie sind enthalten in den amtlichen Begründungen zu den Gesetzentwürfen, die sich aus meinem Dokumentenbuch ergeben. Diese Begründungen sind im Umlaufsverfahren den Gesetzentwürfen beigefügt worden und waren damit die Erkenntnisquelle der Minister über Sinn und Zweck des Gesetzes. Diese Gesetze sind im übrigen auch nach dem Zeitpunkt erlassen worden, von dem ab nach meinen bisherigen Darlegungen ein kohäsiver Zusammenhang der Kabinettsmitglieder nicht mehr bestanden hat.

Der letztere Gesichtspunkt trifft auch ganz besonders für diejenigen Gesetze zu, die im Kriege erlassen und auch von der Anklage nicht im einzelnen angeführt worden sind. Für diese Zeit kann ein kollektives Funktionieren des Kabinetts in keiner Weise mehr in Erwägung gezogen werden. Damals zeigte sich die völlige organisatorische Umgestaltung des Gesetzgebungswerkes schon rein äußerlich in der Tatsache, daß die wesentlichen Gesetze von den für die einzelnen Aufgabenkreise mit gesetzgeberischen Vollmachten ausgestatteten neu geschaffenen Stellen erlassen worden sind.

Der Schwerpunkt lag in den Führererlassen und Führerbefehlen, insbesondere bezüglich aller grundsätzlichen und allgemeinen politischen Fragen. Dies schloß von vornherein ein anderes als das rein ressortmäßige, abhängige Arbeiten der Minister aus. Der Begriff der Einheit der frei entschließenden, einheitlich zusammenwirkenden Kabinettsmitglieder war längst zu einem Phantom geworden. Für das einzelne Gesetz kann daher stets nur eine Verantwortlichkeit des einzelnen oder der mehreren daran beteiligten Minister in Betracht kommen, nicht aber eine solche des Kabinetts.

Die Anklage sieht das Ziel der Charter-Verbrechen in der Tätigkeit des Reichskabinetts auch noch besonders darin hervortreten, daß eine enge Verbindung zwischen den obersten Staatsstellen und der Partei bestanden hätte. Einzelne Minister hätten höchste Parteiämter innegehabt. Das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« hätte ein Zusammenarbeiten der Partei und der Staatsstellen gewährleistet. Durch diese Infiltration der Partei in die Staatsführung seien die Partei-Ideen praktisch zum Inhalt der Staatsführung geworden.

Tatsächlich haben weder das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« noch spätere Erlasse ein Zusammenarbeiten der Regierung mit der Partei vollständig gewährleisten können. Hier zeigt sich eigentlich am deutlichsten der Unterschied zwischen der Auffassung der Minister und der führenden Parteistellen. Die Minister sahen ihre Aufgabe in der Verwaltung als reine Staatsangelegenheit. Die Partei mußte mit immer neuer Unterstützung durch Erlasse Hitlers einen ständigen Kampf führen, um eine gesteigerte Mitwirkung bei den Geschäften der Staatsstellen zu erreichen. Der Zeuge Schlegelberger hat dies anschaulich geschildert. Er erklärte, daß ein großer Teil des Arbeitsaufwandes in staatlichen Stellen, insbesondere in dem von ihm betreuten Justizministerium, darauf verwendet wurde, den immer wieder versuchten Einfluß der Parteistellen nicht durchdringen zu lassen. Wir sahen Führererlasse, die dies durchsetzen sollten, bis in die letzte Zeit des Krieges; ein Zeichen, daß die beabsichtigte Durchdringung der staatlichen Verwaltung der Partei nie vollständig gelungen ist. Es ist daher nicht möglich, der Anklage zu folgen, daß der Staatsapparat durch seine Durchdringung von Parteiseite her praktisch ein Instrument der Partei gewesen sei.

Ich kann also zusammenfassend zu dem Ergebnis kommen, daß die Verhandlung in keiner Weise ergeben hat, daß die Mitglieder des von der Anklage umfaßten Personenkreises in ihrer Gesamtheit den Angriffskrieg und seine von der Charta-Bestimmung erfaßten verbrecherischen Auswirkungen gewollt, sie sogar zu ihrem Ziel gesetzt und ihre gesamte Tätigkeit auf dieses Ziel ausgerichtet hätten. Solange überhaupt von einem gewissen Zusammenhang des Kabinetts gesprochen werden kann – bis 1934, dem Tode Hindenburgs –, hat die klare Erkenntnis dieses Zieles möglicherweise noch nicht einmal bei Hitler vorgelegen. Wenn er selbst vielleicht mit dieser Möglichkeit gerechnet und sie in seine Entschlüsse mit aufgenommen hat, so zeigen jedoch die gesamten Umstände, daß diese hier angeklagte Personengemeinschaft das denkbar ungeeignetste Objekt zur Unterrichtung von derartigen Plänen oder auch nur Möglichkeiten gewesen ist. Wenn Hitler das Kabinett am 5. November 1937 nicht als vertrauenswürdig für die Empfangnahme seiner erstmaligen Verlautbarung über seine Ziele gehalten hat, wenn er weiterhin verstärkt die Zergliederung des Kabinetts vorgenommen und die Geheimhaltung soweit getrieben hat, daß er kriegsvorbereitende Dinge, die ein Ressort betrafen, wie im Falle Darré, sogar dem Minister selbst vorenthalten und sie nur einem geeigneten Sachbearbeiter offenbart hat, so können wir hieraus klar erkennen, daß die Gesamtheit der Kabinettsmitglieder das behauptete Ziel weder gekannt noch ihre Tätigkeit dahin ausgerichtet haben kann. Wenn die These der Anklage richtig wäre, so hätte es Hitler bei den bestehenden Organisationen belassen und nicht eine völlige Umgestaltung der Spitzen in der Leitung des Staates vorgenommen. Seine angeblichen treuen, konspiratorischen Gefolgsmänner wären am besten geeignet gewesen, nach Fassung des gemeinsamen Planes auch dessen tatsächliche Durchführer zu sein. Es scheint auch in der Betrachtung der Personen des Kabinetts ein Unding, an eine derartige geschlossene und intime Zusammenarbeit zwischen den Kabinettsmitgliedern und Hitler zu denken. Hier fanden sich Männer aus den verschiedensten Lagern zusammen. Die Fachminister, die von Hitler teils übernommen, teils neu eingesetzt waren, waren überwiegend nicht seine Parteianhänger. Sie standen auch vorher größtenteils mit ihm in keiner näheren Verbindung.

Es ist psychologisch nicht zu erklären, wie und wann Hitler diese Leute dazu gewonnen haben soll, nicht nur seine Partei-Ideen zu ihrem gemeinsamen Ziele zu machen, sondern sogar jene schwersten Verbrechen der Charter. Wir sehen auch einen ständigen Wechsel in der Person der Kabinettsmitglieder. Leute wie Hugenberg, Papen, Schmidt, Eltz von Rübenach und Schacht scheiden aus dem Kabinett aus. Alle haben sie Differenzen mit Hitler, die teilweise auf einem viel weniger schwerwiegenden Gebiet liegen, als es die Verbrechen der Charter darstellen. Diese Leute alle sollen nach der Anklage aber von Beginn ihrer Tätigkeit als Minister sich blindlings dem verbrecherischen Plan unterworfen haben. Ist damit in Übereinstimmung zu bringen, um den von der Anklage behandelten Fall Eltz von Rübenach zu erwähnen, daß ein Mann bei der Überreichung des goldenen Parteiabzeichens seine religiösen Bedenken gegen nazistische Ideen vorbringt, wenn er andererseits bereits mit einer derartigen verbrecherischen Zielsetzung verbunden und für sie seit Jahren tätig ist? Ist nicht gerade aus seinem an Hitler gerichteten Brief klar ersichtlich, daß er an der Integrität der Arbeit des Kabinetts keinerlei Zweifel hatte? Wie kann ein Mann wie Minister Popitz mit diesen Zielen und deren Durchführung in Verbindung gebracht werden, der seinen aktiven Widerstand als Mitverschwörer des 20. Juli 1944 mit dem Tode besiegelte?

Der Kreis der von der Anklage mit dem Begriff »Reichsregierung« umfaßten Persönlichkeiten ist klein. Gerade deswegen bildet er ein klares Beispiel dafür, wie gefährlich es ist, den Charakter einer Personengemeinschaft und damit die einzelne Person durch die beantragte Erklärung zu erfassen.

Die Anklage wird noch besonders gegen den Geheimen Kabinettsrat und den Ministerrat für die Reichsverteidigung gerichtet. Zum Geheimen Kabinettsrat brauche ich nur wenig zu sagen. Er ist nie zusammengetreten und hat also auch nie irgendwelche Beschlüsse gefaßt und eine Tätigkeit ausgeübt. Die Gründung erfolgte aus persönlichen Gründen gegenüber dem ausscheidenden Außenminister von Neurath. In diesem durch Gesetz lediglich gegründeten, praktisch aber nie wirksam gewordenen Kabinettsrat können weder Pläne geschmiedet noch kann etwas zu ihrer Ausführung getan worden sein.

Der Ministerrat für die Reichsverteidigung ist durch Erlaß Hitlers zu Beginn des Krieges begründet worden. Es ist mir an sich unverständlich, aus welchen Gründen die Anklage den Ministerrat als eine besondere Institution im Rahmen der Reichsregierung gesondert unter Anklage stellt. Sämtliche Mitglieder gehören dem Kabinett an, bis auf Lammers sind sie sogar sämtlich auf der Anklagebank vertreten. Ein praktischer Wert für die beantragte Erklärung dürfte hinsichtlich dieser Personenmehrheit daher keinesfalls vorliegen. Es sei denn, daß die Anklage selbst bezüglich des Kabinetts Zweifel an der Anerkennung ihrer Argumente hat und wenigstens als ein Minimum ihres Antrages eine Verurteilung dieses Teils der Kabinettsmitglieder sicherstellen will.

Für den Ministerrat gelten die für das Reichskabinett von mir vorgetragenen Argumente in entsprechender Weise.

Die Anklage hat im übrigen Ausführungen darüber vermissen lassen, worin sie seine Beteiligung an den Charter-Verbrechen erblickt.

Es ist mir klar, daß der Rahmen dieses Prozesses auch bei dem kleinen Kreise der Regierungsmitglieder nicht die Möglichkeit bot, das Wollen, die Taten und die Motive der einzelnen Mitglieder klarzustellen. Die Vorschrift des Paragraphen 9 der Charter ist eine Kann-Vorschrift. Sie soll eine technische Erleichterung für die Erfassung größerer Personengemeinschaften bieten.

Der Fall der Reichsregierung erfaßt einen zahlenmäßig kleinen Kreis. 17 hiervon sind auf der Anklagebank vertreten. Darüber hinaus sind nur noch 20 am Leben. Es bestehen genügend tatsächliche und rechtliche Möglichkeiten – und es liegt bei ihrer bisherigen Bedeutung im öffentlichen Leben auch das Bedürfnis vor –, ihre Tätigkeit in der Vergangenheit in einem Einzelverfahren in aller Klarheit objektiv und subjektiv zu beurteilen. Sie jetzt sämtlich unter einen Begriff zu erfassen, sie sämtlich einschließlich der toten Mitglieder durch den Urteilsspruch zu ächten und sie im Nachverfahren für einen wesentlichen Teil ihrer Verteidigung eines Einwandes zu beschneiden, liegt keinerlei praktische Veranlassung vor. In dem Falle der Reichsregierung können also Zweckmäßigkeitserwägungen nicht dazu führen, allgemeine Grundsätze des Rechtslebens praktischen Erfordernissen zu opfern.

Zum Schluß halte ich mich für verpflichtet, noch folgenden, das Organisationsproblem allgemein berührenden Gedanken Ausdruck zu geben: Herr Justice Jackson hat für das von der Anklage beantragte Urteil auch Zweckmäßigkeitserwägungen als maßgebend bezeichnet. Er glaubt, daß man andernfalls eine Vielzahl von an den Verbrechen Beteiligten nicht würde erfassen können. Die anonymen Täter würden in einem gewissen Umfange vielleicht im Hintergrund bleiben. Er glaubt auch einen politischen Grund für die beantragte Urteilsfeststellung darin zu sehen, daß die »Guten« von den »Schlechten« geschieden werden sollen.

Ich habe in meinen Ausführungen dargelegt, daß ein allgemeiner Schuldspruch einer Organisation zwangsläufig und in wesentlichen Punkten endgültig eine Verurteilung möglicher Unschuldiger umfassen würde. Ist nun dieses Opfer an dem absoluten Rechtsprinzip aus politischen Zweckmäßigkeitserwägungen wirklich notwendig und vertretbar? Wird letzten Endes überhaupt auf diese Weise das politisch angestrebte Ziel erreicht?

Je größer der Kreis der von einem Urteilsspruch Erfaßten ist, um so mehr verflacht auch die angestrebte Wirkung der Entehrung. Werden zahlreiche Millionen von Mitgliedern als Verbrecher erklärt und berücksichtigt man, daß von einer solchen Erklärung auch die Angehörigen und Freunde dieser Geächteten nicht unberührt bleiben, so glaube ich, daß das nicht erreicht wird, was mit einer Scheidung von »Guten« und »Schlechten« beabsichtigt ist. Bei einer derartigen Ausdehnung des Kreises treten dann dem Beurteiler besonders stark alle diejenigen vors Auge, die nach seiner Meinung nichts Schlechtes getan und gewollt haben. Die beabsichtigte Wirkung kann nur erzielt werden, wenn der Kreis der Betroffenen sich auf ein Maß beschränkt, das auch bei kritischer Beurteilung eine gerechte Ausscheidung wirklich schlechter Elemente erkennen läßt.

Die Möglichkeit, einen Teil einer Bevölkerung moralisch und teilweise auch tatsächlich aus dem Volksganzen auszuscheiden, hat ihre zahlenmäßige Grenze. Dies bitte ich auch zu berücksichtigen, wenn man das Ziel einer allgemeinen Befriedung im Auge hat.

Ich glaube auch nicht, daß die beantragte Urteilsfeststellung dazu notwendig ist, bisher anonym gebliebene Täter ihrer Bestrafung zuzuführen. Diejenigen, die als Täter in Frage kommen, sind im wesentlichen erfaßt. Ihre Sichtung in den Internierungslagern und in den Entnazifizierungsverfahren gibt leicht die Möglichkeit, die wirklich Schuldigen festzustellen.

Ist demnach eine Verurteilung der Gesamtmitglieder der Organisation zur Erreichung des erstrebten Zieles nicht notwendig, so erscheint der Eingriff in die Rechtssicherheit, den eine solche Verurteilung zwangsläufig mit sich bringt, besonders bedenklich.

Mit das Bedrückendste, was wir in Deutschland von dem nazistischen System empfunden haben, war das Gefühl der rechtlichen Unsicherheit. Wir, die wir berufsmäßig mit diesen Dingen zu tun hatten, mußten tagtäglich erleben, was es für einen rechtlich denkenden Menschen bedeutete, zu wissen, daß nicht ein fundamentiertes und kodifiziertes Rechtssystem dem Individuum den Schutz gab, der allein es zu einem freien Menschen macht. Das Gefühl der Unsicherheit, auf Grund irgendwelcher politischer Zweckmäßigkeitserwägungen zu jeder Stunde von dem System der Vergewaltigung dieses primitiven Menschenrechts erfaßt werden zu können, lastete auf jedem Deutschen. Mit dem jetzigen Umbruch der gesamten Verhältnisse möchten sie nun alle diesen Zustand als endgültig und für alle Zeiten beseitigt ansehen. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit erscheint ihnen das Gerechtigkeitsprinzip besonders notwendig als kompromißlos. Man will in der Überzeugung leben, daß nur derjenige seine Freiheit verlieren kann, dessen kriminelle Schuld in einem mit allen nur denkbaren Rechtsgarantien ausgestatteten Gerichtsverfahren einwandfrei festgestellt ist. Erwartungsvoll richten sich daher die Blicke Unzähliger auf den ersten Gerichtshof, der diesem jahrelang mit Füßen getretenen Prinzip, der Welt programmatisch erkennbar, wieder zum Siege verhelfen soll. Diese Hoffnung haben wir, die wir berufen waren, in diesem Verfahren mitzuwirken, in allen Phasen des Prozesses bestärkt gefunden. Das Gericht steht jetzt vor der Entscheidung, ob ein dem Anklageantrag entsprechendes Urteil tatsächlich auch Unschuldige erfassen soll. Vertreter der Anklagebehörde haben zwar erklärt, daß bei sparsamer Anwendung der rechtlichen Möglichkeiten die Zahl der später gerichtlich Verfolgten sich auf ein solches Minimum würde beschränken lassen, daß wirklich nur Schuldige erfaßt werden. Selbst wenn diese Absicht in vollem Umfange in jeder der einzelnen Besatzungszonen durchgeführt werden könnte, so ist hierbei jedoch zu erwägen, daß unabhängig von dieser zu erhoffenden Praxis die Tatsache bestehen bleibt, daß der Urteilsspruch nun einmal die gesetzliche Vorschrift und die gesetzliche Möglichkeit einer Verfolgung wegen der Mitgliedschaft als solcher schafft. Selbst wenn man der von mir entwickelten Rechtsansicht über diese Möglichkeit nicht folgt, so ist die hier zugrunde liegende materielle und prozessuale Rechtsfrage so problematischer Natur, daß für das einzelne nichtschuldige Mitglied keine absolute gesetzliche Garantie dafür geschaffen ist, daß es nicht verfolgt wird. Es würde also im Endeffekt ein Zustand geschaffen werden, in dem eine Unzahl von Menschen latent in einem Zustand der Unsicherheit leben und nicht voraussehen können, ob sie jemals auf Grund der gesetzlichen Möglichkeiten verfolgt und verurteilt werden. Hiervon würden gerade besonders die leichteren Fälle betroffen werden, die von den nationalen Gerichten in der Verhandlungsreihenfolge wohl in jedem Falle zurückgestellt werden würden.

Bei der ungeheuren Anzahl der von dem Organisationsverfahren betroffenen Mitglieder und deren Angehörigen würde damit für Millionen ein Zustand geschaffen sein, der ihnen das versagt, was wir als oberstes Ziel vor uns sehen: Die Rückgewinnung des Gefühls der rechtlichen und gesetzlichen Sicherheit.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich jetzt bis 14.00 Uhr vertagen.